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Joachim Bauer
Schmerzgrenze

Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt



München 2011 (Karl Blessing Verlag); 288 Seiten; ISBN 978-3-89667-437-1






Brutale Gewalt in aller Öffentlichkeit, Amokläufe an Schulen, tödliche ethnische Konflikte und Kriege um knapper werdende Ressourcen: Das Phänomen der Aggression wird immer bedrängender und macht uns Angst.

Gewalt ist aber keine unverrückbare Konstante der menschlichen Natur. Evolutionärer Zweck der Aggression ist, uns gegen die Zufügung von Schmerzen wehren zu können. Doch die Schmerzgrenze des Gehirns verläuft anders, als wir bisher dachten. Unser Gehirn bewertet auch Ausgrenzung und Demütigungen wie körperlichen Schmerz und reagiert deshalb auch darauf mit Aggression. Dies bedeutet: Aggression steht im Dienste der Verteidigung sozialer Bindungen.

Auch Armut bedeutet Ausgrenzung und Demütigung, zumal wenn sie sich im Angesicht von Reichtum ausbreitet. Wasser, Nahrung und Rohstoffe werden auf unserem Globus zur immer knapperen Ressource. Wenn wir das Problem der ungerechten Ressourcenverteilung nicht in den Griff bekommen, wird die Gewalt weltweit zunehmen und die menschliche Existenz bedrohen. Nur Fairness, Kooperation und ein neues Verständnis der Mechanismen der Gewalt können einen Weg aus der Aggressionsspirale weisen.

»Die Auflösung natürlich zusammenlebender Gemeinschaften, die Zwänge einer arbeitsteiligen Erwerbswirtschaft, das Konkurrenzprinzip als neue Grundlage des sozialen Zusammenlebens und die Ausgrenzung derer, die weniger oder nichts besaßen, dies alles sind klassische Reizauslöser der Schmerzgrenze. Die Folge war eine massive Entfesselung der Dynamik der menschlichen Aggression und eine über die postneolithischen Gesellschaften hereinbrechende Gewaltwelle. Die Gewalt fand nicht nur in mesopotamischen Legenden ihren Niederschlag. Mord und Totschlag, Kriege und Massendeportationen kennzeichneten das Geschehen in den sich entwickelnden mesopotamischen Kulturen. Gewalt wurde zum Markenzeichen der Menschheitsgeschichte der letzten 10 000 Jahre.« (J. Bauer, Schmerzgrenze S.163)


Joachim Bauer


Jahrgang 1951, war nach seinem Medizinstudium viele Jahre in der molekular- und neurobiologischen Forschung tätig. Er wirkte als Projektleiter in drei Sonderforschungsbereichen der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit und beschäftigte sich mit Genen des Immunsystems, später mit der Regulation von Genen im Zentralnervensystem. Bauer forschte in den USA am Mount Sinai Medical Center in New York. 1996 erhielt er den renommierten Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie. Bauer ist zweifach habilitiert (Innere Medizin und Psychiatrie) und arbeitet heute als Universitätsprofessor in der Abteilung für Psychosomatische Medizin des Uniklinikums in Freiburg. Buchveröffentlichungen zu wissenschaftlichen Themen: „Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“ (2002), „Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone“ (2005), „Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren“ (2006), Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus (2008).


Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1 - Mythos Aggression
Theorien haben Einfluss auf die Wirklichkeit
Freuds »Aggressionstrieb«
Ein »Trieb zum Hassen undVernichten«
Das Aggressionsverständnis bei Darwin: »Soziale Instinkte« statt »Aggressionstrieb«
Konrad Lorenz und »Das sogenannte Böse«
Wem und wozu dient der »Aggressionstrieb«?
Das Milgram-Experiment: Viel zitiert, nie genau gelesen
Der Aggressionstrieb ist tot, doch die Aggression lebt
Warum wir lernen müssen, Aggression neu zu verstehen

Kapitel 2 – Worauf sind die Grundmotivationen des Menschen gerichtet?
Was sind Gründbedürfnisse des Menschen?
Die Entdeckung des Motivationssystems
Aggression ohne Provokation »lohnt« sich nicht
Vertrauen und soziale Akzeptanz als »Triebziel«
Gerechtigkeit als menschliche Grundmotivation
Kein »Zeitalter des allgemeinen Gutmenschentums«
Schmerzgrenze Unfairness

Kapitel 3 – Die Schmerzgrenze: Zur neurobiologischen Architektur der Gewalt
Das Ende eines Mythos
Zur Definition von Aggression und Gewalt
Methoden der neurowissenschaftlichen Aggressionsforschung
Schmerz als Aggressionsauslöser
Aggression im Kernspintomografen
Wie funktioniert der »Aggressiongapparat« des menschlichen Gehirns?
Stellvertretende Aggression und Mit-Leid
Das »Gesetz der Schmerzgrenze«: Soziale Ausgrenzung bedeutet Schmerz und erzeugt Aggression
Der Aggressionsapparat als Hilfssystem des Motivationssystems
Konstruktiv oder destruktiv? - Die kommunikative Funktion der Aggression
»Gesunde« Aggression
Das Gesetz der Schmerzgrenze
Armut und Gewalt
Häusliche Gewalt
Die Bedeutung der Schmerzgrenze für die individuelle Aggressionsbereitschaft
»Bindungsstile« und Aggressionsbereitschaft
Männer: das gewalttätige Geschlecht?
Macht Testosteron aggressiv - oder produziert Aggression Testosteron?
Aggression am »falschen« Ort und zur »falschen« Zeit: Das Phänomen derAggressions-Verschiebung
Das neurobiologische Aggressionsgedächtnis
Aggression, die keiner versteht: Warum wir »Aggressions-Flüsterer« brauchen
Was macht Kinder und Jugendliche aggressiv?
Kinder lernen am Modell: die Bedeutung von Medien
Amokläufe in Schulen (»School Shootings«)
Antisoziale Persönlichkeiten und Psychopathen
Zwei Varianten pathologischen antisozialen Verhaltens: »heiße« und »kalte« Aggression
Neurobiologische Veränderungen bei Psychopathen
Kein Mensch wird als Psychopath geboren
Gene und Gewalt: Erbfaktoren alleine machen nicht gewalttätig
Die Bedeutung der Ernährung
Alkohol und Gewalt
Die Bedeutung der Erziehung
Wozu Aggression?
Aggression als Signal

Kapitel 4 – Armut, Ungleichheit und Gewalt: Menschliche Gesellschaften an der Schmerzgrenze
Was beeinflusst die Gewaltbereitschaft innerhalb eines Landes?
Ungleichheit beeinflusst Gesundheit und Bildung
Von krasser Ungleichheit zur Zerrüttung eines Landes
Vertrauen senkt die Empfindlichkeit der Schmerzgrenze
Welche Faktoren beeinflussen das in einem Land herrschende Vertrauen?
Gesellschaftliche Fairness: Zum soziologischen Konzept der Anerkennung

Kapitel 5 – Auf der Suche nach den Ursprüngen oder: Der Mensch vor und nach der neolithischen Revolution
Das Bindeglied zwischen Mensch und Affe: der Australopithecus
Unsere Vorfahren: Jäger oder Gejagte?
»Demonic Males«: Dämonische männlicheWesen
Das Biotop des Australopithecus
Homo rudolfensis: Werkzeugmacher betreten die Bühne
Voraussetzung für die Jagd in größerem Stil: Feuer und Jagdwaffen
Das evolutionäre Erfolgsrezept des Menschen: Zusammenhalt und Intelligenz
Schimpansen, eine aggressive Spezies?
Evolutionär angekommen: der Homo sapiens
Wie lebten vorzivilisatorische Jäger und Sammler?
Keiner hungert wenn nicht alle hungern
Jäger und Sammler im Visier der Neuroökonomen
Gebärmutter der Zivilisation: der »fruchtbare Halbmond«
Das »Event« oder: das Ende des »fruchtbaren Halbmondes«
Das Ende des egalitären Lebens
Ressourcenmangel, die Erfindung des Eigentums und der Einzug des ökonomischen Prinzips
Worüber berichten die nahöstlichen Paradieslegenden?
Die zwei Seiten der zivilisatorischen Medaille
Gewalt als Folge des zivilisatorischen Prozesses

Kapitel 6 – Gegenpole zur Dynamik der Aggression: Die Entstehung von Moralsystemen, Rellgion und Recht
Die Erforschung der Moral
Empathie als »Grundstein« der Moral (Charles Darwin)
Vom Zweck der Moral
Neurobiologie der Moral: intuitive Reaktion und intellektuelle Einschätzung
Der »freieVv'ille« - Sind Menschen für ihre Handlungen moralisch verantwortlich?
Wenn eine »richtige« Entscheidung nicht möglich ist: moralische Dilemmata
Der Verlust der moralischen Unschuld
Zivilisatorische Stressoren gegen soziale Instinkte
Ein besonderes Moralsystem: die Religion
Gläubige und Gottlose im Testlabor
Religion als »solidarisches System«
Die Kehrseite der moralischen Medaille
Moralischer Freibrief für Scheinheilige
Der Heiligenschein im Testlabor
Zerknirschung macht den Menschen »gut«
»Wir« und »die anderen«: Moralsysteme als Ursache von Gewalt
»Ingroup« versus »outgroup«
»Ingroups« in der Krise: Rettung durch Erzeugung einer »outgroup«

Kapitel 7 – Alltägliche und globale Gewalt verstehen und begrenzen lernen
Zum Wesen der Aggression
Perspektiven des Alltags
Politische Perspektiven
Internationale Perspektiven
Eine »neolithische Revolution im globalen Maßstab«?

Danksagung
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Register


Leseprobe


Mythos Aggression






Die Chancen für eine Selbstzerstörung des Menschen im 21. Jahrhundert stehen nicht schlecht. Die Weltbevölkerung nimmt stetig zu. Die Ressourcen Wasser, Nahrung, Energie und natürliche Umwelt sind begrenzt. Große Teile der Menschheit leben in Armut. Das hinter uns liegende Jahrhundert mit seinen weit über 200 Millionen Toten, die durch Kriege und andere menschengemachte Grausamkeiten starben, war ein Jahrhundert der Gewalt'. Zahlreiche Konfliktherde unseres Globus bergen das Potenzial für weitere verheerende Kriege.

Ich möchte aufzeigen, welchen Beitrag die modernen Neurowissenschaften leisten können, um ein Problem zu entschlüsseln, an dessen Lösung das 20. Jahrhundert wiederholt und eindrucksvoll gescheitert ist: das Phänomen der menschlichen Gewalt. Das Buch soll nicht nur diejenigen inspirieren, die in Politik, Wirtschaft und in den Medien Verantwortung tragen. Es soll uns allen einen Anstoß geben, Erkenntnisse der modernen Hirnforschung nutzbar zu machen, indern sie uns dabei helfen können zu verstehen, nach welchen Regeln sich zwischenmenschliche Aggression entwickelt und wie das Phänomen der Gewalt funktioniert.

Beiträge verschiedener Mediziner und Biologen – allen voran Sigmund Freud und Konrad Lorenz –, die das Konzept eines »Aggressionstriebes« entwickelten und den öffentlichen Diskurs zum Thema Gewalt im letzten Jahrhundert implizit begleitet haben, wirken bis in unsere Gegenwart hinein.

Obwohl frühere Grundannahmen über die Gewalt aus heutiger Sicht unhaltbar geworden sind, erfreuen sich diese Theorien weiterhin großer Popularität. Anthropologische und soziobiologische Theorien – vom Menschen als blutrünstigem Jäger (»man the hunter«) bis hin zu den »egoistischen« Genen – haben sich im Denken vieler Zeitgenossen (und in vielen Lehrbüchern) festgesetzt, obwohl sie durch neuere Befunde überholt sind.

Tötungsdelikte in U-Bahnen, Amokläufe in Schulen, aber auch Kriege werden immer noch gerne auf unerforschliche, unbeeinflussbare menschliche Grundkonstanten zurückgeführt und zum »Dunklen im Humanum«' erklärt, obwohl zur Frage der Ursache menschlicher Gewalt inzwischen klare wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen. Über Jahrzehnte hinweg haben namhafte Anthropologen die evolutionäre Entwicklung des Menschen in den letzten rund sieben Millionen Jahren als einen durch blutrünstiges Jagdverhalten sowie durch Mord und Totschlag charakterisierten Prozess dargestellt, als dessen Ergebnis uns heute angeblich eine biologisch verankerte Lust auf Gewalt und eine Liebe zum Krieg innewohne.

Eine sorgfältige Überprüfung dieser Mythen ergibt ein völlig anderes Bild: Unsere evolutionären Vorfahren waren weder blutrünstige Jäger noch Mörder, sondern überwiegend vegetarisch lebende Wesen, deren Überleben nur deshalb gelang, weil sie, begleitet von einer beachtlichen Zunahme ihres Gehirnvolumens, nicht nur eine überlegene Intelligenz, sondern vor allem ein phänomenales soziales Kooperationsverhalten entwickelten.

Eine in größerem Umfang betriebene Jagd ist, evolutionär gesehen, ein relativ junges Phänomen, das erst in einer Zeit auftrat, als unser Gehirn biologisch bereits weitgehend das war, was wir auch heute noch in unseren Köpfen tragen. Auch als der Mensch schon die Fähigkeit zur Jagd entwickelt hatte, blieb er über einen langen weiteren Zeitraum ein überwiegend friedliches, egalitär eingestelltes und auf Kooperation ausgerichtetes Wesen.

Während wir heute in fast allen Bereichen den Versuch unternehmen, die uns umgebenden natürlichen Phänomene wissenschaftlich zu erklären, sie zu verstehen und diese Erkenntnisse in einer für uns günstigen Weise zu nutzen, verbreiten manche Zeitgenossen den Eindruck, Aggression sei ein unheimliches, letztlich unerforschliches Phänomen. Die Mystifizierung der Aggression kann und muss beendet werden. Dieses Buch soll dazu einen Beitrag leisten, indem es, neurowissenschaftliche und anthropologische Erkenntnisse der letzten Jahre zum Thema Gewalt beleuchtet.

Theorien haben Einfluss auf die Wirklichkeit

Theorien, die sich Menschen über sich selbst bilden, finden ihren Niederschlag nicht nur im akademischen oder feuilletonistischen Raum. Entsprechend waren auch Vorstellungen, die über die menschliche Aggression verbreitet wurden, nicht folgenlos. Tatsächlich haben Konzepte, an die wir zu glauben bereit sind, massive Rückwirkungen auf unsere Realität, in der Regel im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Dies lässt sich auch experimentell zeigen. Frauen, die der (irrtümlichen) Meinung waren, eine von ihnen eingenommene Placebo-Tablette habe das männliche Sexualhormon Testosteron enthalten, verhielten sich in Versuchstests prompt weniger fair und kooperativ. Warum? Das gezeigte Verhalten fügte sich in eine Theorie, von der die Probandinnen überzeugt waren und der zufolge sich Männer vorzugsweise kompetitiv verhalten. Sie entsprachen also in ihrem Verhalten den eigenen Vorstellungen über männliche Verhaltensweisen. Ein anderes Beispiel für die sich selbst erfüllende Kraft von Überzeugungen liefert ein Experiment, in dem man Personen sagt, im Menschen staue sich – unabhängig von den Lebensumständen – Aggression auf, die im Sinne einer reinigenden »Katharsis« regelmäßig abgelassen werden müsse (eine wissenschaftlich widerlegte Theorie). Derart beeinflusste Personen beginnen sich, wie Experimente zeigen, in ihrem Alltag prompt aggressiver zu verhalten.

Das Phänomen, dass von Theorien reale Effekte im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung ausgehen können, hat einen Namen: Es wird als »Thomas-Theorem« bezeichnet. Dass dieses Theorem sich auch dann erfüllt, wenn sich die Theorie später als wissenschaftlich falsch erweist, zeigen zahlreiche Beispiele. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreiteten prominente Biologen und Mediziner die Lehrmeinung, bei den unterschiedlichen Ethnien des Menschen handle es sich um »Rassen«, die in einer unweigerlichen, durch die Natur begründeten Konkurrenz stünden. Es entspräche den regelhaften Gesetzen der Evolution, dass sich die Völker und Nationen dieser Erde einem kämpferischen Ausleseverfahren, der sogenannten »natürlichen Selektion« zu stellen hätten. Damit hatten namhafte, seinerzeit tonangebende Wissenschaftler nicht nur ihren Zeitgenossen, sondern auch mehreren nachfolgenden Generationen eine überaus resistente Laus in den Pelz gesetzt.

Als Folge begannen vor hundert Jahren, lange vor Hitlers Machtergreifung, in fast allen entwickelten Ländern Rassenkampftheorien zu grassieren, die sich – zumal sie von den akademischen Eliten verbreitet wurden – als seriöse Wissenschaft ausgaben, tatsächlich aber ideologischer Unsinn waren. In Deutschland und Österreich leistete dieser pseudowissenschaftliche biologische Mythos einen wichtigen Beitrag zur Anbahnung zweier Weltkriege. Nachdem die fatalen realen Folgen der Theorie eingetreten waren, dienten sie nachträglich als »Beweis« für das, was eingangs behauptet worden war: dass Menschen unterschiedlicher Ethnien ein natürlicher Kampfinstinkt innewohne. Ein Paradebeispiel für die Kraft des Thomas-Theorems.

(...)






Auszüge aus Kapitel 7






Zum Wesen der Aggression

Aggression ist ein evolutionär entstandenes, neurobiologisch verankertes Verhaltensprogramm, welches den Menschen in die Lage versetzen soll, seine körperliche Unversehrtheit zu bewahren und Schmerz abzuwehren. Die neurobiologischen Schmerzzentren des menschlichen Gehirns reagieren jedoch nicht nur auf körperlichen Schmerz, sondern werden auch dann aktiv, wenn Menschen ausgegrenzt oder gedemütigt werden. Nach dem Gesetz der Schmerzgrenze wird Aggression nicht nur durch willkürlich zugefügten Schmerz, sondem auch durch soziale Ausgrenzung hervorgerufen.

Nicht ausgegrenzt zu sein, sondern befriedigende Beziehungen zu anderen zu pflegen, zählt zu den menschlichen Grundmotivationen.

(...)

Aggression wird erzeugt, wenn wichtige zwischenmenschliche Bindungen fehlen oder bedroht sind. Die Grundregeln der Aggressionserzeugung gelten nicht nur für einzelne Personen, sondern auch für Menschengruppen oder Nationen.

Ein Hauptgrund dafür, dass Aggression oder Gewalt häufig völlig unbegründet und unverständlich erscheint, ist das Phänomen der Verschiebung: In einem Menschen entstandene Aggressionsbereitschaft kann vom Gehirn in einem »Aggressionsgedächtnis« gespeichert werden. Dies kann einerseits zur Folge haben, dass sich das aufgestaute Aggressionspotenzial nicht gegen diejenige Person richtet, welche die Aggression provoziert hatte, sondern an eine andere Adresse. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass sich ein entstandenes Potenzial erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung entlädt. Verschiebungsphänomene zeigen sich nicht nur bei Einzelpersonen, sondern wiederum auch bei Gruppen oder Nationen.

(...)

Aus dem Blickwinkel ihrer evolutionären Entstehungsgeschichte betrachtet, ist die Aggression ein kommunikatives Signal, welches der Umwelt eines Individuums ein Zeichen geben soll, dass ein nicht akzeptabler körperlicher oder sozialer Schmerz empfunden wird. Wenn die Aggression ihre kommunikative Funktion des Aufmerksammachens behält, ist sie konstruktiv. Wenn sie diese Funktion eingebüßt hat, wird sie destruktiv und zum Auslöser von Gewaltkreisläufen.

Aggression und Gewalttätigkeit finden sich bei beiden Geschlechtern, zeigen sich jedoch in unterschiedlicher Akzentuierung. Gene sind per se, das heißt aus sich alleine heraus, nicht in der Lage, aggressives Verhalten zu verursachen. Sie beeinflussen aber die Empfindlichkeit der Schmerzgrenze und können – allerdings nur im Zusammenspiel mit Aggression provozierenden Faktoren – die aggressive Reaktionsbereitschaft verändern.

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Aggression ist kein spontan auftretendes menschliches Grundbedürfnis, ein »Aggressionstrieb« existiert nicht.

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Perspektiven des Alltags

Soziale Ausgrenzungen und Demütigungen ereignen sich in der Familie, in Kindergarten und Schule sowie im beruflichen Alltag. Die Austragung von Konflikten ist in allen drei Lebensbereichen nicht nur unausweichlich, sondern ein absolutes Erfordernis. Nicht erforderlich ist jedoch, dies mit Demütigungen zu verbinden, die ein gefährlicher Auslöser für Gewalt sein können. Wir sollten uns daher eine grundsätzliche Achtsamkeit zu eigen machen und auf entwürdigendes Verhalten verzichten. Dies gilt vor allem dann, wenn wir eine Konfrontation durchzustehen haben.

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Zu den wichtigen Funktionen der Aggression gehört die Verteidigung von zwischenmenschlichen Bindungen.

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Der Verlust von Bindungen (Ablösung aus dem Elternhaus, Trennung von Partnerschaften, Entlassung am Arbeitsplatz) ist ein unvermeidlicher Teil des Lebens, Bindungsverluste machen einen Menschen zugleich aber auch besonders verletzlich. Drohende oder tatsächliche Trennungen, die einem Menschen gegen den eigenen Willen widerfahren, sind ein erstrangiger Auslöser für Aggression bis hin zu schweren Gewalttaten. Deshalb sollte allen Beteiligten eines Trennungsprozesses daran gelegen sein, begleitende Demütigungen zu vermeiden und alles zu tun, was den Trennungsschmerz abmildern kann.

Die Aggression ist ein soziales Regulativ, sie soll uns zur Verfügung stehen, wenn wir uns wehren müssen. Die Rolle als Korrekturfaktor zur Beseitigung einer Störung kann die Aggression jedoch nur dann spielen, wenn sie ihre Aufgabe als kommunikatives Signal erfüllt. Dies bedeutet, sie muss für den Adressaten verständlich sein. Eine Voraussetzung dafür ist, dass sie sich verbaler Mittel bedient. Aggression, die ihren kommunikativen Auftrag erfüllt, ist konstruktiv, andernfalls ist sie destruktiv und begünstigt das Entstehen von Gewaltkreisläufen.

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Politische Perspektiven

Ausgrenzungserfahrungen sind nicht nur im privaten Umfeld möglich, sie können auch Teil des gesellschaftlichen Zusammenlebens sein. Länder ohne demokratische Strukturen grenzen bereits durch diesen Mangel große Teile ihrer Bevölkerung aus. Aber auch in Demokratien kann es, z. B. wenn sie ausschließlich repräsentativ funktionieren wie in Deutschland, zu einem Mangel an Partizipation kommen. Besonders starke Ausgrenzungserfahrungen ergeben sich in einem Land jedoch aus der konkreten Ungleichverteilung von Chancen. Insbesondere Armut im Angesicht von Wohlstand anderer ist eine Ausgrenzungserfahrung ersten Ranges.

Dem Gesetz der Schmerzgrenze folgt nicht nur das Verhalten einzelner Personen, sondern auch das »Verhalten« einer Gesellschaft als Ganzes. Arme Länder zeigen höhere Gewaltspiegel. Vor allem korreliert die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen innerhalb eines Landes mit der Gewaltbereitschaft seiner Bevölkerung. Länder mit hoher Ungleichverteilung haben nicht nur höhere Homizidraten, auch die Gesundheit der Bevölkerung ist hier stärker beeinträchtigt. Gerechtigkeit ist für eine Gesellschaft die beste Gewaltprävention.

Der wichtigste Ausweg aus innergesellschaftlicher Benachteiligung ist die Bildung. Bessere Bildung ist zugleich Gewaltprävention. Die Solidargemeinschaft eines Landes sollte größte Anstrengungen unternehmen, Bildungsangebote bereitzustellen, die auch von »bildungsfernen« Milieus genutzt werden können.

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Erziehung ihrer Kinder zur Bildungsbereitschaft sollte den Eltern in allen gesellschaftlichen Schichten ein erstrangiges Anliegen sein.

Internationale Perspektiven

Zu den wichtigsten Reizen für Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen auf der internationalen Bühne zählen Armut und der Kampf um knappe Ressourcen. Mehr als 75 Prozent der aktuellen Kriege werden in der Dritten Welt geführt. Häufig findet sich zwischen den Regionen eines ohnehin sehr armen Landes eine Ungleichverteilung von potenziellen Ressourcen (...). Die Folge sind Bürgerkriege bzw. sogenannte »Neue Kriege« (Kriege, bei denen Warlords, kriminelle Banden oder ausländische Interessenten die Fäden ziehen).

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Große Bedeutung für die Erzeugung gewaltsamer Konflikte auf der internationalen Bühne haben neben Armut auch Demütigungen. Sie spielten und spielen eine zentrale Rolle für den fundamentalen Konflikt zwischen der islamischen und der westlichen Welt. Ein Beispiel für die Demütigungsproblematik sind Vorgänge, wie sie sich 2003 und 2004 in Abu Ghuraib im Irak ereigneten. Ein besonderer Schauplatz in diesem Zusammenhang ist seit Jahren der Nahe Osten. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass ein in seiner Existenz von seinen Nachbarn bedrohtes Land das Recht hat, sich zu verteidigen. Fatal ist, wenn dies mit einer nicht abreißenden Serie von unzähligen alltäglichen Demütigungen verbunden ist, die zu einem endlosen Kreislauf des Hasses und der Gewalt beitragen.

Eine »neolithische Revolution im globalen Maßstab«?

Bei einem Blick auf die derzeitige, durch absehbar begrenzte Ressourcen und enorme technologische Anstrengungen charakterisierte globale Situation erscheint ein Vergleich mit der neolithischen Revolution alles andere als abwegig. Man könnte metaphorisch davon sprechen, dass wir derzeit eine »neolithische Revolution im globalen Maßstab« erleben. Auch Länder, die sich bis vor Kurzem noch eines relativ beschaulichen Daseins erfreuen konnten, wurden in den letzten Jahren von der Globalisierung erfasst und gerieten ins Getriebe einer Weltwirtschaft, die dabei ist, sich auf der Suche nach Ressourcen und Renditen die letzten noch verbliebenen Biotope zu erschließen.

Ähnlich wie die Menschen vor 10 000 Jahren, erleben wir auch heute einen neuen, massiven Einbruch des ökonomischen Prinzips in alle Lebensbereiche. Wie damals, so bedrohen auch heute Leistungsdruck, soziale Desintegration und Gewalt ein menschenwürdiges Zusammenleben. Wir spüren die gefährlichen Folgen des als »Ökonomismus« bezeichneten Versuchs, die Herrschaft des ökonomischen Prinzips über das »Prinzip Menschlichkeit« zu stellen.

Interessanterweise erleben wir als Antwort auf das mit Macht und im globalen Maßstab hereinbrechende ökonomische Prinzip auch heute wieder jenen Reflex, der sich schon im Gefolge der neolithischen Revolution einstellte: das Aufkommen von Moralsystemen. Moralsysteme haben eine Garantiefunktion: Ihre Aufgabe ist die Bewahrung einer Vision eines menschlichen Zusammenlebens unter dem Vorzeichen von Zusammenhalt, sozialer Akzeptanz und Gerechtigkeit.

(...)

Moralsysteme bzw. Religionen (...) bilden aus der Sicht ihrer Anhänger und ihrer Repräsentanten einen Gegenpol zur entfesselten Dynamik des ökonomischen Prinzips. Je stärker dieses sich als eine Art Ersatzreligion aufführt und versucht, den Menschen und dessen Bedürfnisse bedingungslos seinen Ansprüchen unterzuordnen, desto massiver und radikaler wird sich eine Religion dieser Tendenz entgegenstellen. Was wir derzeit vor diesem Hintergrund beobachten, ist ein immer brisanterer Konflikt zwischen einer »ingroup« (Islam) und einer »outgroup« (Westen). Auf beiden Seiten kommt dabei eine »bewährte« Methode zur Anwendung, die erwiesenermaßen geeignet ist, die Hemmschwellen für eine gewaltsame Auseinandersetzung zu senken: die Dehumanisierung des jeweiligen Gegners.

In jedem Falle wird der sich weiter verschärfende globale Ressourcenmangel die Gefahr der Ausgrenzung von Teilen der Menschheit und damit das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzungen erhöhen. Die Vorstellung von einer absoluten Gleichheit aller Menschen ist auch aus neurobiologischer Sicht keine sinnvolle Forderung. Doch die Schere der materiellen Ungleichheit darf sich nicht zu weit öffnen. Das menschliche Gehirn verfügt über einen neurobiologisch verankerten Sinn für Gerechtigkeit. Verstöße gegen die Fairness tangieren die Schmerzgrenze und werden Aggression nach sich ziehen.

(...)






Die zahlreichen Fußnoten werden hier nicht wiedergegeben.


ERRATUM


Auf Seite 13 des Buches, 6. Zeile von unten ff., sowie erneut auf Seite 14, 5. Zeile von oben ff., hat sich ein Fehler eingeschlichen. Sigmund Freud hatte im Ersten Weltkrieg nicht zwei Söhne verloren. Richtig ist: Zwei Söhne Freuds kämpften im Ersten Weltkrieg auf österreichisch-deutscher Seite. Martin, einer dieser beiden Söhne Freuds, wurde dabei verwundet. Autor und Verlag bedauern dieses Versehen.


Siehe auch


Joachim Bauer: Prinzip MenschlichkeitWarum wir von Natur aus kooperieren



Joachim Bauer: Das kooperative GenAbschied vom Darwinismus