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Brutale Gewalt in
aller Öffentlichkeit, Amokläufe an Schulen, tödliche
ethnische Konflikte und Kriege um knapper werdende Ressourcen:
Das Phänomen der Aggression wird immer bedrängender und
macht uns Angst.
Gewalt ist aber keine unverrückbare
Konstante der menschlichen Natur. Evolutionärer Zweck der
Aggression ist, uns gegen die Zufügung von Schmerzen wehren
zu können. Doch die Schmerzgrenze des Gehirns verläuft
anders, als wir bisher dachten. Unser Gehirn bewertet auch
Ausgrenzung und Demütigungen wie körperlichen
Schmerz und reagiert deshalb auch darauf mit Aggression. Dies
bedeutet: Aggression steht im Dienste der Verteidigung sozialer
Bindungen.
Auch Armut bedeutet Ausgrenzung und Demütigung,
zumal wenn sie sich im Angesicht von Reichtum ausbreitet. Wasser,
Nahrung und Rohstoffe werden auf unserem Globus zur immer
knapperen Ressource. Wenn wir das Problem der ungerechten
Ressourcenverteilung nicht in den Griff bekommen, wird die Gewalt
weltweit zunehmen und die menschliche Existenz bedrohen. Nur
Fairness, Kooperation und ein neues Verständnis der
Mechanismen der Gewalt können einen Weg aus der
Aggressionsspirale weisen.
»Die
Auflösung natürlich zusammenlebender Gemeinschaften,
die Zwänge einer arbeitsteiligen Erwerbswirtschaft, das
Konkurrenzprinzip als neue Grundlage des sozialen Zusammenlebens
und die Ausgrenzung derer, die weniger oder nichts besaßen,
dies alles sind klassische Reizauslöser der Schmerzgrenze.
Die Folge war eine massive Entfesselung der Dynamik der
menschlichen Aggression und eine über die postneolithischen
Gesellschaften hereinbrechende Gewaltwelle. Die Gewalt fand nicht
nur in mesopotamischen Legenden ihren Niederschlag. Mord und
Totschlag, Kriege und Massendeportationen kennzeichneten das
Geschehen in den sich entwickelnden mesopotamischen Kulturen.
Gewalt wurde zum Markenzeichen der Menschheitsgeschichte der
letzten 10 000 Jahre.« (J.
Bauer, Schmerzgrenze S.163)
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Die
Chancen für eine Selbstzerstörung des Menschen im 21.
Jahrhundert stehen nicht schlecht. Die Weltbevölkerung nimmt
stetig zu. Die Ressourcen Wasser, Nahrung, Energie und natürliche
Umwelt sind begrenzt. Große Teile der Menschheit leben in
Armut. Das hinter uns liegende Jahrhundert mit seinen weit über
200 Millionen Toten, die durch Kriege und andere menschengemachte
Grausamkeiten starben, war ein Jahrhundert der Gewalt'.
Zahlreiche Konfliktherde unseres Globus bergen das Potenzial für
weitere verheerende Kriege.
Ich möchte aufzeigen,
welchen Beitrag die modernen Neurowissenschaften leisten können,
um ein Problem zu entschlüsseln, an dessen Lösung das
20. Jahrhundert wiederholt und eindrucksvoll gescheitert ist: das
Phänomen der menschlichen Gewalt. Das Buch soll nicht nur
diejenigen inspirieren, die in Politik, Wirtschaft und in den
Medien Verantwortung tragen. Es soll uns allen einen Anstoß
geben, Erkenntnisse der modernen Hirnforschung nutzbar zu machen,
indern sie uns dabei helfen können zu verstehen, nach
welchen Regeln sich zwischenmenschliche Aggression entwickelt und
wie das Phänomen der Gewalt funktioniert.
Beiträge
verschiedener Mediziner und Biologen – allen voran Sigmund
Freud und Konrad Lorenz –, die das Konzept eines
»Aggressionstriebes« entwickelten und den
öffentlichen Diskurs zum Thema Gewalt im letzten Jahrhundert
implizit begleitet haben, wirken bis in unsere Gegenwart
hinein.
Obwohl frühere Grundannahmen über die
Gewalt aus heutiger Sicht unhaltbar geworden sind, erfreuen sich
diese Theorien weiterhin großer Popularität.
Anthropologische und soziobiologische Theorien – vom
Menschen als blutrünstigem Jäger (»man the
hunter«) bis hin zu den »egoistischen« Genen –
haben sich im Denken vieler Zeitgenossen (und in vielen
Lehrbüchern) festgesetzt, obwohl sie durch neuere Befunde
überholt sind.
Tötungsdelikte in U-Bahnen,
Amokläufe in Schulen, aber auch Kriege werden immer noch
gerne auf unerforschliche, unbeeinflussbare menschliche
Grundkonstanten zurückgeführt und zum »Dunklen im
Humanum«' erklärt, obwohl zur Frage der Ursache
menschlicher Gewalt inzwischen klare wissenschaftliche
Erkenntnisse vorliegen. Über Jahrzehnte hinweg haben
namhafte Anthropologen die evolutionäre Entwicklung des
Menschen in den letzten rund sieben Millionen Jahren als einen
durch blutrünstiges Jagdverhalten sowie durch Mord und
Totschlag charakterisierten Prozess dargestellt, als dessen
Ergebnis uns heute angeblich eine biologisch verankerte Lust auf
Gewalt und eine Liebe zum Krieg innewohne.
Eine
sorgfältige Überprüfung dieser Mythen ergibt ein
völlig anderes Bild: Unsere evolutionären Vorfahren
waren weder blutrünstige Jäger noch Mörder,
sondern überwiegend vegetarisch lebende Wesen, deren
Überleben nur deshalb gelang, weil sie, begleitet von einer
beachtlichen Zunahme ihres Gehirnvolumens, nicht nur eine
überlegene Intelligenz, sondern vor allem ein phänomenales
soziales Kooperationsverhalten entwickelten.
Eine in
größerem Umfang betriebene Jagd ist, evolutionär
gesehen, ein relativ junges Phänomen, das erst in einer Zeit
auftrat, als unser Gehirn biologisch bereits weitgehend das war,
was wir auch heute noch in unseren Köpfen tragen. Auch als
der Mensch schon die Fähigkeit zur Jagd entwickelt hatte,
blieb er über einen langen weiteren Zeitraum ein überwiegend
friedliches, egalitär eingestelltes und auf Kooperation
ausgerichtetes Wesen.
Während wir heute in fast allen
Bereichen den Versuch unternehmen, die uns umgebenden natürlichen
Phänomene wissenschaftlich zu erklären, sie zu
verstehen und diese Erkenntnisse in einer für uns günstigen
Weise zu nutzen, verbreiten manche Zeitgenossen den Eindruck,
Aggression sei ein unheimliches, letztlich unerforschliches
Phänomen. Die Mystifizierung der Aggression kann und muss
beendet werden. Dieses Buch soll dazu einen Beitrag leisten,
indem es, neurowissenschaftliche und anthropologische
Erkenntnisse der letzten Jahre zum Thema Gewalt
beleuchtet.
Theorien haben Einfluss
auf die Wirklichkeit
Theorien, die sich Menschen
über sich selbst bilden, finden ihren Niederschlag nicht nur
im akademischen oder feuilletonistischen Raum. Entsprechend waren
auch Vorstellungen, die über die menschliche Aggression
verbreitet wurden, nicht folgenlos. Tatsächlich haben
Konzepte, an die wir zu glauben bereit sind, massive
Rückwirkungen auf unsere Realität, in der Regel im
Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Dies lässt
sich auch experimentell zeigen. Frauen, die der (irrtümlichen)
Meinung waren, eine von ihnen eingenommene Placebo-Tablette habe
das männliche Sexualhormon Testosteron enthalten, verhielten
sich in Versuchstests prompt weniger fair und kooperativ. Warum?
Das gezeigte Verhalten fügte sich in eine Theorie, von der
die Probandinnen überzeugt waren und der zufolge sich Männer
vorzugsweise kompetitiv verhalten. Sie entsprachen also in ihrem
Verhalten den eigenen Vorstellungen über männliche
Verhaltensweisen. Ein anderes Beispiel für die sich selbst
erfüllende Kraft von Überzeugungen liefert ein
Experiment, in dem man Personen sagt, im Menschen staue sich –
unabhängig von den Lebensumständen – Aggression
auf, die im Sinne einer reinigenden »Katharsis«
regelmäßig abgelassen werden müsse (eine
wissenschaftlich widerlegte Theorie). Derart beeinflusste
Personen beginnen sich, wie Experimente zeigen, in ihrem Alltag
prompt aggressiver zu verhalten.
Das Phänomen, dass
von Theorien reale Effekte im Sinne einer sich selbst erfüllenden
Prophezeiung ausgehen können, hat einen Namen: Es wird als
»Thomas-Theorem« bezeichnet. Dass dieses Theorem sich
auch dann erfüllt, wenn sich die Theorie später als
wissenschaftlich falsch erweist, zeigen zahlreiche Beispiele. Zu
Beginn des 20. Jahrhunderts verbreiteten prominente Biologen und
Mediziner die Lehrmeinung, bei den unterschiedlichen Ethnien des
Menschen handle es sich um »Rassen«, die in einer
unweigerlichen, durch die Natur begründeten Konkurrenz
stünden. Es entspräche den regelhaften Gesetzen der
Evolution, dass sich die Völker und Nationen dieser Erde
einem kämpferischen Ausleseverfahren, der sogenannten
»natürlichen Selektion« zu stellen hätten.
Damit hatten namhafte, seinerzeit tonangebende Wissenschaftler
nicht nur ihren Zeitgenossen, sondern auch mehreren nachfolgenden
Generationen eine überaus resistente Laus in den Pelz
gesetzt.
Als Folge begannen vor hundert Jahren, lange vor
Hitlers Machtergreifung, in fast allen entwickelten Ländern
Rassenkampftheorien zu grassieren, die sich – zumal sie von
den akademischen Eliten verbreitet wurden – als seriöse
Wissenschaft ausgaben, tatsächlich aber ideologischer Unsinn
waren. In Deutschland und Österreich leistete dieser
pseudowissenschaftliche biologische Mythos einen wichtigen
Beitrag zur Anbahnung zweier Weltkriege. Nachdem die fatalen
realen Folgen der Theorie eingetreten waren, dienten sie
nachträglich als »Beweis« für das, was
eingangs behauptet worden war: dass Menschen unterschiedlicher
Ethnien ein natürlicher Kampfinstinkt innewohne. Ein
Paradebeispiel für die Kraft des Thomas-Theorems.
(...)
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Zum
Wesen der Aggression
Aggression ist ein evolutionär
entstandenes, neurobiologisch verankertes Verhaltensprogramm,
welches den Menschen in die Lage versetzen soll, seine
körperliche Unversehrtheit zu bewahren und Schmerz
abzuwehren. Die neurobiologischen Schmerzzentren des menschlichen
Gehirns reagieren jedoch nicht nur auf körperlichen Schmerz,
sondern werden auch dann aktiv, wenn Menschen ausgegrenzt oder
gedemütigt werden. Nach dem Gesetz der Schmerzgrenze wird
Aggression nicht nur durch willkürlich zugefügten
Schmerz, sondem auch durch soziale Ausgrenzung
hervorgerufen.
Nicht ausgegrenzt zu sein, sondern
befriedigende Beziehungen zu anderen zu pflegen, zählt zu
den menschlichen Grundmotivationen.
(...)
Aggression
wird erzeugt, wenn wichtige zwischenmenschliche Bindungen fehlen
oder bedroht sind. Die Grundregeln der Aggressionserzeugung
gelten nicht nur für einzelne Personen, sondern auch für
Menschengruppen oder Nationen.
Ein Hauptgrund dafür,
dass Aggression oder Gewalt häufig völlig unbegründet
und unverständlich erscheint, ist das Phänomen der
Verschiebung: In einem Menschen entstandene
Aggressionsbereitschaft kann vom Gehirn in einem
»Aggressionsgedächtnis« gespeichert werden. Dies
kann einerseits zur Folge haben, dass sich das aufgestaute
Aggressionspotenzial nicht gegen diejenige Person richtet, welche
die Aggression provoziert hatte, sondern an eine andere Adresse.
Andererseits besteht die Möglichkeit, dass sich ein
entstandenes Potenzial erst mit erheblicher zeitlicher
Verzögerung entlädt. Verschiebungsphänomene zeigen
sich nicht nur bei Einzelpersonen, sondern wiederum auch bei
Gruppen oder Nationen.
(...)
Aus dem Blickwinkel
ihrer evolutionären Entstehungsgeschichte betrachtet, ist
die Aggression ein kommunikatives Signal, welches der Umwelt
eines Individuums ein Zeichen geben soll, dass ein nicht
akzeptabler körperlicher oder sozialer Schmerz empfunden
wird. Wenn die Aggression ihre kommunikative Funktion des
Aufmerksammachens behält, ist sie konstruktiv. Wenn sie
diese Funktion eingebüßt hat, wird sie destruktiv und
zum Auslöser von Gewaltkreisläufen.
Aggression
und Gewalttätigkeit finden sich bei beiden Geschlechtern,
zeigen sich jedoch in unterschiedlicher Akzentuierung. Gene sind
per se, das heißt aus sich alleine heraus, nicht in der
Lage, aggressives Verhalten zu verursachen. Sie beeinflussen aber
die Empfindlichkeit der Schmerzgrenze und können –
allerdings nur im Zusammenspiel mit Aggression provozierenden
Faktoren – die aggressive Reaktionsbereitschaft verändern.
(...)
Aggression ist kein spontan auftretendes
menschliches Grundbedürfnis, ein »Aggressionstrieb«
existiert nicht.
(...)
Perspektiven
des Alltags
Soziale Ausgrenzungen und Demütigungen
ereignen sich in der Familie, in Kindergarten und Schule sowie im
beruflichen Alltag. Die Austragung von Konflikten ist in allen
drei Lebensbereichen nicht nur unausweichlich, sondern ein
absolutes Erfordernis. Nicht erforderlich ist jedoch, dies mit
Demütigungen zu verbinden, die ein gefährlicher
Auslöser für Gewalt sein können. Wir sollten uns
daher eine grundsätzliche Achtsamkeit zu eigen machen und
auf entwürdigendes Verhalten verzichten. Dies gilt vor allem
dann, wenn wir eine Konfrontation durchzustehen haben.
(...)
Zu den wichtigen Funktionen der Aggression gehört
die Verteidigung von zwischenmenschlichen Bindungen.
(...)
Der
Verlust von Bindungen (Ablösung aus dem Elternhaus, Trennung
von Partnerschaften, Entlassung am Arbeitsplatz) ist ein
unvermeidlicher Teil des Lebens, Bindungsverluste machen einen
Menschen zugleich aber auch besonders verletzlich. Drohende oder
tatsächliche Trennungen, die einem Menschen gegen den
eigenen Willen widerfahren, sind ein erstrangiger Auslöser
für Aggression bis hin zu schweren Gewalttaten. Deshalb
sollte allen Beteiligten eines Trennungsprozesses daran gelegen
sein, begleitende Demütigungen zu vermeiden und alles zu
tun, was den Trennungsschmerz abmildern kann.
Die
Aggression ist ein soziales Regulativ, sie soll uns zur Verfügung
stehen, wenn wir uns wehren müssen. Die Rolle als
Korrekturfaktor zur Beseitigung einer Störung kann die
Aggression jedoch nur dann spielen, wenn sie ihre Aufgabe als
kommunikatives Signal erfüllt. Dies bedeutet, sie muss für
den Adressaten verständlich sein. Eine Voraussetzung dafür
ist, dass sie sich verbaler Mittel bedient. Aggression, die ihren
kommunikativen Auftrag erfüllt, ist konstruktiv, andernfalls
ist sie destruktiv und begünstigt das Entstehen von
Gewaltkreisläufen.
(...)
Politische
Perspektiven
Ausgrenzungserfahrungen sind nicht nur
im privaten Umfeld möglich, sie können auch Teil des
gesellschaftlichen Zusammenlebens sein. Länder ohne
demokratische Strukturen grenzen bereits durch diesen Mangel
große Teile ihrer Bevölkerung aus. Aber auch in
Demokratien kann es, z. B. wenn sie ausschließlich
repräsentativ funktionieren wie in Deutschland, zu einem
Mangel an Partizipation kommen. Besonders starke
Ausgrenzungserfahrungen ergeben sich in einem Land jedoch aus der
konkreten Ungleichverteilung von Chancen. Insbesondere Armut im
Angesicht von Wohlstand anderer ist eine Ausgrenzungserfahrung
ersten Ranges.
Dem Gesetz der Schmerzgrenze folgt nicht
nur das Verhalten einzelner Personen, sondern auch das
»Verhalten« einer Gesellschaft als Ganzes. Arme
Länder zeigen höhere Gewaltspiegel. Vor allem
korreliert die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen
innerhalb eines Landes mit der Gewaltbereitschaft seiner
Bevölkerung. Länder mit hoher Ungleichverteilung haben
nicht nur höhere Homizidraten, auch die Gesundheit der
Bevölkerung ist hier stärker beeinträchtigt.
Gerechtigkeit ist für eine Gesellschaft die beste
Gewaltprävention.
Der wichtigste Ausweg aus
innergesellschaftlicher Benachteiligung ist die Bildung. Bessere
Bildung ist zugleich Gewaltprävention. Die
Solidargemeinschaft eines Landes sollte größte
Anstrengungen unternehmen, Bildungsangebote bereitzustellen, die
auch von »bildungsfernen« Milieus genutzt werden
können.
(...)
Erziehung ihrer Kinder zur
Bildungsbereitschaft sollte den Eltern in allen
gesellschaftlichen Schichten ein erstrangiges Anliegen
sein.
Internationale
Perspektiven
Zu den wichtigsten Reizen für
Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen auf der
internationalen Bühne zählen Armut und der Kampf um
knappe Ressourcen. Mehr als 75 Prozent der aktuellen Kriege
werden in der Dritten Welt geführt. Häufig findet sich
zwischen den Regionen eines ohnehin sehr armen Landes eine
Ungleichverteilung von potenziellen Ressourcen (...). Die Folge
sind Bürgerkriege bzw. sogenannte »Neue Kriege«
(Kriege, bei denen Warlords, kriminelle Banden oder ausländische
Interessenten die Fäden ziehen).
(...)
Große
Bedeutung für die Erzeugung gewaltsamer Konflikte auf der
internationalen Bühne haben neben Armut auch Demütigungen.
Sie spielten und spielen eine zentrale Rolle für den
fundamentalen Konflikt zwischen der islamischen und der
westlichen Welt. Ein Beispiel für die Demütigungsproblematik
sind Vorgänge, wie sie sich 2003 und 2004 in Abu Ghuraib im
Irak ereigneten. Ein besonderer Schauplatz in diesem Zusammenhang
ist seit Jahren der Nahe Osten. Es kann kein Zweifel darüber
bestehen, dass ein in seiner Existenz von seinen Nachbarn
bedrohtes Land das Recht hat, sich zu verteidigen. Fatal ist,
wenn dies mit einer nicht abreißenden Serie von unzähligen
alltäglichen Demütigungen verbunden ist, die zu einem
endlosen Kreislauf des Hasses und der Gewalt beitragen.
Eine
»neolithische Revolution im globalen Maßstab«?
Bei
einem Blick auf die derzeitige, durch absehbar begrenzte
Ressourcen und enorme technologische Anstrengungen
charakterisierte globale Situation erscheint ein Vergleich mit
der neolithischen Revolution alles andere als abwegig. Man könnte
metaphorisch davon sprechen, dass wir derzeit eine »neolithische
Revolution im globalen Maßstab« erleben. Auch Länder,
die sich bis vor Kurzem noch eines relativ beschaulichen Daseins
erfreuen konnten, wurden in den letzten Jahren von der
Globalisierung erfasst und gerieten ins Getriebe einer
Weltwirtschaft, die dabei ist, sich auf der Suche nach Ressourcen
und Renditen die letzten noch verbliebenen Biotope zu
erschließen.
Ähnlich wie die Menschen vor 10
000 Jahren, erleben wir auch heute einen neuen, massiven Einbruch
des ökonomischen Prinzips in alle Lebensbereiche. Wie
damals, so bedrohen auch heute Leistungsdruck, soziale
Desintegration und Gewalt ein menschenwürdiges
Zusammenleben. Wir spüren die gefährlichen Folgen des
als »Ökonomismus« bezeichneten Versuchs, die
Herrschaft des ökonomischen Prinzips über das »Prinzip
Menschlichkeit« zu stellen.
Interessanterweise
erleben wir als Antwort auf das mit Macht und im globalen Maßstab
hereinbrechende ökonomische Prinzip auch heute wieder jenen
Reflex, der sich schon im Gefolge der neolithischen Revolution
einstellte: das Aufkommen von Moralsystemen. Moralsysteme haben
eine Garantiefunktion: Ihre Aufgabe ist die Bewahrung einer
Vision eines menschlichen Zusammenlebens unter dem Vorzeichen von
Zusammenhalt, sozialer Akzeptanz und Gerechtigkeit.
(...)
Moralsysteme bzw. Religionen (...) bilden
aus der Sicht ihrer Anhänger und ihrer Repräsentanten
einen Gegenpol zur entfesselten Dynamik des ökonomischen
Prinzips. Je stärker dieses sich als eine Art Ersatzreligion
aufführt und versucht, den Menschen und dessen Bedürfnisse
bedingungslos seinen Ansprüchen unterzuordnen, desto
massiver und radikaler wird sich eine Religion dieser Tendenz
entgegenstellen. Was wir derzeit vor diesem Hintergrund
beobachten, ist ein immer brisanterer Konflikt zwischen einer
»ingroup« (Islam) und einer »outgroup«
(Westen). Auf beiden Seiten kommt dabei eine »bewährte«
Methode zur Anwendung, die erwiesenermaßen geeignet ist,
die Hemmschwellen für eine gewaltsame Auseinandersetzung zu
senken: die Dehumanisierung des jeweiligen Gegners.
In
jedem Falle wird der sich weiter verschärfende globale
Ressourcenmangel die Gefahr der Ausgrenzung von Teilen der
Menschheit und damit das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzungen
erhöhen. Die Vorstellung von einer absoluten Gleichheit
aller Menschen ist auch aus neurobiologischer Sicht keine
sinnvolle Forderung. Doch die Schere der materiellen Ungleichheit
darf sich nicht zu weit öffnen. Das menschliche Gehirn
verfügt über einen neurobiologisch verankerten Sinn für
Gerechtigkeit. Verstöße gegen die Fairness tangieren
die Schmerzgrenze und werden Aggression nach sich ziehen.
(...)
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