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Christian Felber
Neue Werte für die Wirtschaft

Eine Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus


Wien 2008 (Deuticke/Zsolnay); 336 Seiten; ISBN 978-3-552-06072-2






»In diesem Buch möchte ich die Kernversprechen und die zentralen Werte des Kapitalismus in Ruhe betrachten, um herauszufinden, worauf ihre Anziehungskraft beruht. Sind es reine Mythen, ist nur manches an ihnen falsch, anderes gut? Dieser »Dekonstruktion« gelten die ersten acht Kapitel (…) Sodann erweitere ich die hoffentlich ans Tageslicht gekommene humanistische Ethik um eine ökologische Dimension. Ziel ist, unseren Horizont zu weiten. Das Endprodukt sollte ein stabiles und attraktives Fundament für die Neuordnung des Werteschaffens (Wirtschaftens) sein. (…)

Die Notwendigkeit, dieses Buch zu schreiben, erwuchs direkt aus den „50 Vorschlägen für eine gerechtere Welt“, die im Herbst 2006 erschienen und sich Anfang 2008 in der 6. Auflage befinden. Denn so positiv die meisten Vorschläge aufgenommen wurden, sie alle stoßen auf ein gemeinsames Hindernis: das Gewinninteresse mächtiger Konzerne. Das hat in mir einen tiefgehenden Nachdenkprozess über die Motiv- und Anreizstrukturen in der Welt des Wirtschaftens ausgelöst, dessen Ergebnisse nun vor Ihnen liegen.« (Aus dem Vorwort)


Christian Felber


Christian Felber, geboren 1972 in Salzburg, studierte Romanische Philologie und Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie in Wien und Madrid, seit 1996 freier Publizist und Autor, seit 2000 engagiert bei Attac Österreich, das er mitbegründet und mit aufgebaut hat. Er ist ein gefragter Referent zu Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen. Veröffentlichungen u. a.: »Schwarzbuch Privatisierung« (gem. mit Michel Reimon, 2003); »Das kritische EU-Buch« (hrsg. von Attac, 2006), »Kooperation statt Konkurrenz« (2009)


Inhaltsverzeichnis


Vorwort







1.

Freiheit




Gibt es ein stärkeres Versprechen als das der Freiheit? – Neoliberale Freiheit – Fragwürdiger Freiheitsbegriff – Vorrang von Wirtschaftsfreiheiten – Keine freie Wahl der Wirtschaftsform – Machtfreie Tauschbeziehungen? – Die Pferdeäpfeltheorie – Das Prinzip des sinkenden Aneignungswiderstands – Größenschranke für Unternehmen – Macht der Großen über die Kleinen – Das Ösi-Syndrom: das Ebenen-Dilemma – Größenschranke für Einkommen – Größenschranke für Eigentum – Glück – Zeitnotstand statt Zeitwohlstand – Mangelnde Mitbestimmung – Konsumfreiheit: das neue Volksopium – Ökologie – Zusammenfassende Thesen







2.

Erfolg




Maßlosigkeit – Unternehmen suchen maximalen Gewinn – Suchtcharakter – Säuglingsgesellschaft – Ungleichheit nimmt zu – Macht – Die Geister, die wir riefen… Das Regulierungsdilemma des Kapitalismus – Nein zum Wettbewerb – Patente – Produktversagen – KonsumentInnen als Mittel – Ökologie – Gesellschaft der Zu-kurz-Gekommenen – Werte-Widerspruch – Zusammenfassende Thesen







3.

Wettbewerb




Effizienz und Leistung – Innovation durch Wettbewerb – Gemeinwohl durch Wettbewerb – Perfekter Wettbewerb ist Illusion – Angst ist das falsche Motiv – Mangel an Selbstwert – Darwin und der Markt – Psychosoziale Folgen – Kooperation – Zusammenfassende Thesen







4.

Leistung




Wer nicht arbeitet, soll verhungern – Wert der Leistung – Systemische Leistung – Vermögensteuern – Eine wahre Leistungsgesellschaft – Verschiebung von Werten – Zusammenfassende Thesen







5.

Wettbewerbsfähigkeit




Standorte werden selektiert – Zwei-Fronten-Krieg – Alle Politik ist Standortpolitik – Reduktion auf einen einzelnen Zweck – Ende der Demokratie – Lissabon-Ziel – Angriff auf Standort verboten – Die Geschichte der Solidarität – Falsches Ziel aufgeben – Kooperieren – Standort Erde – Zusammenfassende Thesen







6.

Chancengleichheit




Nichtdiskriminierung und Eigenverantwortung – Verengung auf Bildung – Ungleicher Start – Genetische Lotterie – Der Leistungsansatz in der Parecon – Konkurrenz an sich verhindert Chancengleichheit – Frauen haben weniger Chancen (am Markt) – Kommunikative Geschenkwirtschaft – Zusammenfassende Thesen







7.

Eigenverantwortung




Verantwortung ist nicht delegierbar – Ökonomische Zivilcourage – Gleichheit als Voraussetzung von Freiheit – Regeln kommen nicht von allein – Sauerstoff der Demokratie – Freiheit des Vogels im Käfig – KonsumentInnendemokratie? – Soziale Risiken kollektiv versichern – Ökologische Eigenverantwortung – Eigenverantwortung und Haftungsbegrenzung – Zusammenfassende Thesen







8.

Soziale Verantwortung




Von der »bottom line« zum Management-Tool – Freiwillig oder verbindlich? – Die Guten sind die Dummen – Wohlstandsmaschinen statt Profitmaschinen – Zusammenfassende Thesen







9.

Ökologische Ethik




Neues Paradigma: Allverbundenheit-Abhängigkeit – Wieder ganz machen – Bedürfnis- statt Gewinnorientierung – Ganzheit, Einheit in der Vielfalt – Naturverbundenheit – Ökologisches Selbst – Empathie und Mitgefühl – Gleichzeitigkeit von Individuen und Ganzem – Vielfalt und Ko-Evolution – Nähe und Dezentralisierung – Zyklisch gedeihen statt wachsen – Kreativität – Zielreichtum und Zeitwohlstand – Kontemplation – Humanisierung der Wirtschaft – Die besten Anreize nützen – Zusammenfassende Thesen







10.

Eine Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus




Private Unternehmen ja, gewinnorientierte Unternehmen nein – Anreiz futsch? – Menschennatur ist gestaltbar – Kreativität woandershin lenken – Der Rahmen für ökonomische Freiheit ist egal – Gewinn als Voraussetzung für soziale Sicherheit – Begrenzung der Einkommensungleichheiten – Langfristig: Bezahlung nach Einsatz – Erfolg neu definieren – Weniger Innovationen? – Werbeterror gelindert – Verantwortung – Die Eigentumsfrage – Gemeinschaftseigentum fördern – Moderne Allmenden – Mitbestimmung nach dem Maß der Betroffenheit – Kooperation – Wie schaffen wir den Übergang? – Investive Finanzmärkte – Werte- und Gefühlskunde, Naturerfahrung – Freiheit? – Zusammenfassende Thesen








Literatur


Leseprobe


Vorwort






Es wird keine neue Wirtschaftsordnung geben ohne ein neues Wertesystem.
G
il Ducommun






Der Kapitalismus wurde viel kritisiert, und er hat bisher jede Kritik überlebt. Seine Verteidiger haben stets zugegeben, dass er Ungleichheit schafft, die ökologischen Lebensgrundlagen angreift und nicht allen gleiche Chancen bietet. Doch welche Wirtschaftsform schafft höheren Wohlstand, welche ist effizienter, welche fördert Innovationen stärker und vor allem: Welche Wirtschaftsform bietet dem Individuum größere Freiheit? Auf diese Frage hat es bisher keine überzeugende Antwort gegeben,deshalb sitzt der Kapitalismus trotz aller Kritik fester im Sattel denn je.






Und dennoch: Das Unbehagen im Kapitalismus wächst. Weltweit. Nicht nur, weil die Ungleichheiten wachsen, die ökologische Zerstörung und die Unsicherheiten, sondern auch, weil immer mehr Menschen spüren und erahnen, dass die zentralen Versprechen des Kapitalismus – Freiheit und Glück – gar nicht eingelöst werden. Es handelt sich um tiefsitzende Mythen, die wir im Laufe der Jahrhunderte brav erlernt haben. Heute herrschen diese Mythen, die eine Gesellschaft angeblich frei und glücklich machen, in Gestalt des Wettbewerbs-, Wettbewerbsfähigkeits-, Leistungs- und Wachstumsmythos unumschränkt. Der Kapitalismus befindet sich in einer ethischen Hochkonjunktur. Seine Werte sind die Werte der Gesellschaft.






Und hier liegt der Widerspruch. Denn die kapitalistischen Werte – Leistung, Konkurrenz, Effizienz, Gewinn und Wachstum – passen nicht mit unseren demokratischen und humanistischen Grundwerten zusammen: Freiheit (Selbstbestimmung), Gleichheit (Gerechtigkeit), Brüderlichkeit (Solidarität), Verantwortung,Vertrauen, Verbundenheit und Mitgefühl. Die Werte der Wirtschaft widersprechen den Werten des Lebens und der Gemeinschaft. Der Vorrang für das Finanzkapital zerstört das ökologische und Sozialkapital – und die Menschenwürde.






Der entscheidende Punkt: Die staatlichen Institutionen und Gesetze prägen den Charakter der Gesellschaft (Erich Fromm). Jedes Gesetz und jede Institution fördert bestimmte Werte und schwächt andere. Daher ist es entscheidend, welcher wirtschaftspolitischen Instrumente wir uns bedienen. Derzeit werden Egoismus, Konkurrenz und Gier gesetzlich gefördert. Mitgefühl, Solidarität und Verantwortung kommen zu kurz. So schwächen wir uns als Gesellschaft selbst. Intelligente Gesellschaftenschaffen sich Institutionen und Gesetze, die sie stärken,nicht unterminieren.






Wir begründen diese Entscheidung mit dem Verweis auf eine angebliche »Natur des Menschen«. Konkurrenz und Egoismus seien in unseren Genen zu Hause. Dagegen könnten wir nichts tun, wir sollten uns daher diese »Menschennatur« zunutze machen – auf dem »freien« Markt. Doch diese Sicht von uns ist eine Täuschung, sie ist der ideologische Kern des Kapitalismus. Das sozialdarwinistische Menschenbild ist ebenso überholt wie die Annahme, dass Menschen »von Natur aus« nach Macht und Reichtum strebten. Zwar sind Menschen zweifellos zu Macht- und Gewinnstreben fähig, das haben wir hinlänglich bewiesen; aber genauso fähig sind wir zum Helfen, zum Kooperieren und zum Teilen.






Die Verfolgung kapitalistischer Ziele macht uns nachweislich nicht glücklich. Machtstreben macht krank, höheres Einkommen bringt schon nach der Deckung einfacher Bedürfnisse nicht mehr Zufriedenheit. Wenn Geld zum Lebensinhalt wird und wir unsere Talente nur noch zur Verbesserung des Kontostandes verwenden anstatt zur Verbesserung unserer Beziehungen, werden wir nachweislich unglücklich. Wenn wir materialistische Werte übernehmen – dazu erzieht uns der Kapitalismus –, fühlen wir uns unfrei, weil wir unsere Lebensziele nicht selbst bestimmen und die meiste Zeit und Energie darauf verwenden, nicht-authentische Werte und Ziele zu verfolgen.






In diesem Buch möchte ich die Kernversprechen und die zentralen Werte des Kapitalismus in Ruhe betrachten, um herauszufinden, worauf ihre Anziehungskraft beruht. Sind es reine Mythen, ist nur manches an ihnen falsch, anderes gut? Dieser »Dekonstruktion« gelten die ersten acht Kapitel: Hält das Freiheitsversprechen des Kapitalismus? Bringt der Wettbewerb wirklich Effizienz und Innovation? Ist unser Verständnis von Erfolg und Leistung gesund? Sollen wir wirklich alle versuchen, global wettbewerbsfähig zu werden? Ist das die Kernbedeutung von »Eigenverantwortung«? Dabei trennt sich die Spreu vom Weizen, die humanistische Essenz dieser Werte soll herausgeschält und der kapitalistische Ballast abgeworfen werden.






Sodann erweitere ich die hoffentlich ans Tageslicht gekommene humanistische Ethik um eine ökologische Dimension. Ziel ist, unseren Horizont zu weiten. Das Endprodukt sollte ein stabiles und attraktives Fundament für die Neuordnung des Werteschaffens (Wirtschaftens) sein.






PS: Die Notwendigkeit, dieses Buch zu schreiben, erwuchs direkt aus den »50 Vorschlägen für eine gerechtere Welt«, die im Herbst 2006 erschienen und sich Anfang 2008 in der 6. Auflage befinden. Denn so positiv die meisten Vorschläge aufgenommen wurden, sie alle stoßen auf ein gemeinsames Hindernis: das Gewinninteresse mächtiger Konzerne. Das hat in mir einen tiefgehenden Nachdenkprozess über die Motiv- und Anreizstrukturen in der Welt des Wirtschaftens ausgelöst, dessen Ergebnisse nun vor Ihnen liegen.









1. Freiheit






Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus.
Im Kommunismus ist es genau umgekehrt.
John Kenneth Galbraith






Der Westen hat die Freiheit verspielt
und der Osten die Gerechtigkeit.
Friedrich Dürrenmatt






Gibt es ein stärkeres Versprechen als das der Freiheit?






Seit rund dreihundert Jahren, eine vergleichsweise kurze Zeitspanne in der Geschichte der Menschheit, suchen Nationalökonomen nach der idealen Wirtschaftsform. Die Entwürfe pendeln zwischen den Polen Kapitalismus und Kommunismus, dabei fällt auf, dass sie sich stets auf den zentralen Wert Freiheit berufen. Keine Utopie kommt ohne das Freiheitsversprechen aus. John Stuart Mill schrieb »Über die Freiheit«. Karl Marx wollte die Proletarier aus ihren »Ketten« befreien, und Friedrich Hayek warnte vor dem »Weg in die Knechtschaft«, bevor er die»Verfassung der Freiheit« niederschrieb. Sein Schüler Milton Friedman plante mit seinem Hauptwerk »Kapitalismus und Freiheit« die beiden Begriffe ein für alle Mal aneinanderzuketten.






Hayek und Friedman prangerten den Freiheitsverlust in zentralen Planwirtschaften an und stellten den Wettbewerbskapitalismus als die »beste« Wirtschaftsform hin. Folgt man jedoch Schritt für Schritt ihrer Argumentation, entpuppt sich nicht nur der real existierende Kapitalismus heute als ein Vielfrontenkrieg gegen die Freiheit, schon die theoretische Begründung wird ihren eigenen liberalen Ansprüchen nicht gerecht. Im ersten Kapitel werden diejenigen Wegzweigungen aufgespürt,an denen die Neoliberalen vom Pfad der Freiheit abgewichen sind, um von diesen Punkten aus ein neues Wirtschaften anzudenken. Gesucht wird nicht die »beste« aller Wirtschaftsformen – das wäre die Wiederholung des Fehlers von Hayek und Friedman –, sondern eine, die mehr Freiheit bringt als die kapitalistische Marktwirtschaft.






Neoliberale Freiheit






Friedrich A. von Hayek definiert Freiheit zunächst als einen »Zustand, in dem ein Mensch nicht willkürlichem Zwang durch den Willen eines anderen oder anderer unterworfen ist«. Dieses Freiheitsverständnis leitet er von Aristoteles ab: »So wie wir einen Menschen frei nennen, der für seine eigenen Zwecke und nicht für die eines anderen lebt.« Hayek folgert aus dieser Freiheitsdefinition: »Die Aufgabe einer Politik der Freiheit muss es daher sein, Zwang oder seine schädlichen Wirkungen zu verringern.« Die Neoliberalen schließen sich zunächst auch dem liberalen Grundsatz an, dass die Freiheit eines Menschen dort enden müsse, wo die des anderen beginnt. Bei Friedman lesen wir: »Die Freiheit eines Menschen muss beschränkt werden, um die Freiheit eines anderen zu bewahren.« Die entscheidende Abweichung erfolgt, wenn die Neoliberalen innerhalb der verschiedenen Freiheiten eine klare Hierarchie errichten: »Wirtschaftliche Freiheit ist die Voraussetzung für jede andere Art von Freiheit«, schreibt Hayek. Friedman meint: »Die wirtschaftspolitische Organisationsform, die unmittelbar für wirtschaftliche Freiheit sorgt, nämlich der Wettbewerbskapitalismus,sorgt auch für politische Freiheit.« Stärker: »Die Geschichte lehrt, dass der Kapitalismus eine notwendige Voraussetzung für politische Freiheit ist«, glaubt Nobelpreisträger Friedman.






Wirtschaftliche Freiheit lässt sich wiederum auf zwei Grundfreiheiten reduzieren: Privateigentum und Wettbewerb: »Das System des Privateigentums ist der wichtigste Garant für Freiheit«, so Hayek, und: »Wenn wir die individuelle Freiheit nicht zerstören wollen, muss dem Wettbewerb gestattet werden, ungehindert zu funktionieren.« Friedman: »Die Aufgabe der Regierung muss es sein, unsere Freiheit zu schützen, also (…) für Wettbewerb auf den Märkten zu sorgen.«






Der Kern neoliberaler Freiheit ist also das Recht auf Besitz und Konkurrenz. Im Folgenden wollen wir uns ansehen, ob der Vorrang dieser Wirtschaftsfreiheiten a) tatsächlich das Fundament für alle anderen Freiheiten ist, ob dies b) die größtmögliche Freiheit für alle bringt und ob c) damit nicht ganz neue, Freiheit einschränkende Zwänge einhergehen.






Fragwürdiger Freiheitsbegriff






Die These, dass Wirtschaftsfreiheit die Mutter aller Freiheiten, der »Garant« für politische Freiheit sei, lässt sich mit einem einfachen Beispiel widerlegen: Dieses Buch können Sie nur lesen, weil es Meinungsfreiheit gibt. Gäbe es keine Menschenrechte, würden viele Menschen ihrer Existenzgrundlage beraubt werden oder gewaltsam zu Tode kommen. Sie könnten gar keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben. Es braucht zuerst eine (menschen)rechtliche Sicherheit, auf der ökonomische Freiheit gedeihen kann. Was gälte die Eigentumsfreiheit, wenn das Leben nicht geschützt würde? Wem diente der Wettbewerb in einer Sklavenwirtschaft?






Von einem originär liberalen Standpunkt aus darf wirtschaftliche Freiheit persönliche und politische Freiheiten nicht einschränken, umgekehrt schon: Um die persönliche und politische Freiheit zu wahren, müssen dem Wirtschaften klare Grenzen gesetzt werden. Ein Metzger darf kein Menschenfleisch verkaufen. Ein privater Fernsehsender darf in der Hoffnung auf höhere Einschaltquoten nicht zum Mord aufrufen. Ein Arbeitgeber darf eine Frau für die gleiche Arbeit nicht geringer entlohnen als einen Mann, auch wenn ihm das einen höheren Gewinn brächte.






Privateigentum ist im deutschen Grundgesetz deshalb sozialpflichtig, weil die demokratische Gesellschaft den einzelnen Menschen erst das Recht auf Eigentum gibt, dieses schützt und dafür eine Gegenpflicht einfordert. Kurz: Die Wettbewerbs-, Unternehmens- und Eigentumsfreiheit ist den Menschen- und politischen Bürgerrechten nicht übergeordnet, sondern liegt im Wert darunter. Zu diesem Schluss kommt auch der indische Nobelpreisträger Amartya Sen: Freiheit spiegle sich in der »Menge der Verwirklichungschancen«, und politische Freiheiten seien nicht nur ein Mittel dafür, sondern ein »an sich erstrebenswertes Entwicklungsziel«. Hingegen könne die »ungehinderte Nutzung des Privateigentums – das Fehlen von Einschränkungen und Besteuerung – zu anhaltender Armut beitragen«. Die Ansicht,dass Wirtschaftsfreiheiten der »wichtigste Garant« aller anderen Freiheiten seien, ist illiberal.






Vorrang von Wirtschaftsfreiheiten






Entgegen dieser Grunderkenntnis ist heute der Vorrang von Wirtschaftsfreiheiten besonders auf der internationalen Rechtsebene weit gediehen. In der EU genießen die »Binnenmarktfreiheiten« – Kapitalverkehrs-, Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit – Vorrang vor den meisten anderen Werten und Freiheiten, wie dem Recht auf Gesundheit und intakten Lebensraum oder dem Recht auf Freiheit von Armut und sozialer Not. Die Welthandelsorganisation WTO gibt dem Handelsrecht Vorrang vor allen anderen Rechten. Sie wurde eigens außerhalb der UNO angesiedelt, um keine Rücksicht auf die Menschen-, Arbeits- und Frauenrechte, soziale Sicherheit, Entwicklung,Umweltschutz, Gesundheitsvorsorge oder Ernährungssicherheit nehmen zu müssen. Sie setzt nur Wirtschaftsfreiheiten durch. Klagen kann man in der WTO die Verletzung der eingegangenen Freihandelsverpflichtungen (sehr wirkungsvoll) und die Verletzung geistiger Eigentumsrechte, nicht aber die Verletzung von Menschenrechten, Zerstörung von Lebensraum, Gesundheitsgefährdung, Geschlechterdiskriminierung, Zerstörung kultureller Vielfalt, Kartellbildung oder Steuerflucht – auch bei keinem anderen internationalen Gericht. Beim Weltbank-Tribunal für Investitionsstreitigkeiten (ICSID) können nur Konzerne klagen, die ihre Investitionsrechte verletzt sehen, nicht aber Menschen, deren Rechte von Investoren verletzt werden. Die vorrangige Durchsetzung globaler Wirtschaftsfreiheiten – mit der Begründung, sie seien die Grundlage aller weiteren Freiheiten – hat die Freiheit und die politischen Rechte zahlloser Menschen verletzt:






In zahlreichen Ländern sinken infolge der Handelsliberalisierung die Reallöhne, wachsen Armut, soziale Unsicherheit und Ungleichheit, werden Arbeitsrechte außer Kraft gesetzt; in Sonderwirtschaftszonen grassieren Ausbeutung, Sexismus und sklavenähnliche Arbeitsbedingungen.



Der freie Kapitalverkehr hat schwere Finanzkrisen ausgelöst,darunter die Südostasienkrise, der allein 25 Millionen Arbeitsplätze zum Opfer fielen; die Armut in der Region verdoppelte sich schlagartig.



Der Freihandel hat zahllose Industrien in Lateinamerika und Afrika zerstört, in Lateinamerika spricht man von »De-Industrialisierung« und »Reprimarisierung«, also vom Rückfall höherer Volkswirtschaften in den Agrar- und Rohstoffsektor.



Der Freihandel mit Agrargütern hat Millionen von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen weltweit ruiniert, sie verarmen und verhungern. Der Hunger nimmt weltweit zu. Die UNCTAD spricht von »inmisering trade«.



Investitionen in Afrika, Lateinamerika oder Südostasien zerstörenden Lebensraum von Tausenden Menschen. Ihre Existenzgrundlage – Wald,Wasser,Fischgründe,Weideland – wird zerstört. Kulturelle Verarmung und Zwangsmigration stehen auf der Tagesordnung.



Die Privatisierung der essenziellen Bereiche Bildung, Gesundheit, Energie oder Trinkwasser hat zum Ausschluss weiter Bevölkerungskreise von der Versorgung geführt. In Südafrika tranken arme Menschen, die sich sauberes Trinkwasser nicht leisten konnten, verseuchtes Flusswasser, woraufhin eine Cholera-Epidemie ausbrach und Tausende Menschenleben forderte.



Der globale Schutz geistigen Eigentums in Form von Monopolrechten für Pharmakonzerne hat dazu geführt, dass Medikamente für Millionen von Menschen unerschwinglich werden.Täglich sterben 13 000 Menschen an behandelbaren Krankheiten. Patentrechte sind auch die Ursache dafür, dass sich die agrarische Gentechnik ausbreitet und zahllose Kleinbauern und -bäuerinnen ruiniert. In Indien begehen Zehntausende mittellos gewordene BäuerInnen Selbstmord.






Der Vorrang für Wirtschaftsfreiheiten schränkt die politischen Rechte und Freiheiten zahlloser Menschen ein. Der liberale Grundsatz, wonach Freiheiten dort ihre Grenze finden müssen, wo die Freiheit anderer beginnt, wird systematisch gebrochen. Das gilt nicht nur für den Vorrang politischer vor wirtschaftlichen Freiheiten; auch die wirtschaftliche Freiheit des einen endet heute nicht dort, wo die des Nächsten beginnt. Die Verabsolutierung ökonomischer Freiheit ist ein totalitärer Reduktionismus. Alles, was nicht ganzheitlich gedacht und gelebt wird, rächt sich früher oder später, weil das Übersehene, mindestens gleich Gültige oder noch Wichtigere integriert werden muss. (…)









10. Eine Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus






[Der Kapitalismus] ist kein Erfolg. Er ist weder intelligent noch schön, er ist weder gerecht noch tugendhaft – und außerdem funktioniert er nicht (…) Wenn wir allerdings darüber nachdenken, was wir an seine Stelle setzen, sind wir völlig ratlos.
John Maynard Keynes






(…)






Kooperation






(…) Um den Unterschied noch einmal zu verdeutlichen: Wer entscheidet heute über den Sieger im Wettbewerb?






1.

Der Staat, indem er die Regeln vorgibt: Unternehmen sollen um den größten Gewinn konkurrieren. Die unethischeren setzen sich tendenziell durch, weil es auf globaler Ebene gar keine und auf nationalstaatlicher Ebene unterschiedliche Regulierungen gibt. Aufgrund ihrer Gewinnorientierung verhindern die Unternehmen(sverbände) Regeln, die das Gewinnstreben mäßigen, und setzen sogar globale Regeln zur beständigen Ausweitung des Gewinnstrebens durch.







2.

Die KonsumentInnen, indem sie auf Basis verfügbarer Informationen und des herrschenden Eigennutz-Paradigmas großteils die kostengünstigsten Produkte oder die mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis auswählen. Ihnen werden allerdings von den gewinnorientierten Unternehmen entscheidende Informationen vorenthalten; zugleich werden sie mit irreführenden Informationen verführt und manipuliert. Aufgrund der extremen Einkommensunterschiede lässt die Kaufkraft vieler keine ethische Entscheidung zu.







3.

Der Markt setzt aufgrund fehlender (zum Beispiel ökologischer) Regulierung und mangelnder (zum Beispiel ökologischer) Information falsche Preissignale, was die Präferenzen der KonsumentInnen prägt. Wenn unökologische Produkte billiger sind, werden sie stärker nachgefragt als ökologischere, obwohl die KonsumentInnen lieber ökologischere Produkte hätten: Es gewinnen die Falschen. Neun der zehn größten Weltkonzerne verkaufen Autos oder Öl.






Und wer entscheidet in der neuen Wirtschaft über die SiegerInnen des Wettbewerbs?






1.

Der Staat, indem er die Regeln vorgibt: je stärker ein Unternehmen das Gemeinwohl fördert – Mitbestimmung, Kooperation, soziale Sicherheit, Geschlechtergerechtigkeit –, desto stärker wird es gefördert. Dadurch gewinnen die ethischen Produkte gegenüber den weniger ethischen an Wettbewerbsfähigkeit, sie werden im Vergleich billiger.







2.

Die KonsumentInnen, indem sie kritisch, mündig und eigenverantwortlich konsumieren. Sie sind nicht mehr durch manipulative Werbung gelenkt und verführt, sie besitzen objektivere Informationen über die Produkte. Das Bildungssystem,die Medien und die moralischen Autoritäten bestärken die Menschen darin, global verantwortlich zu handeln.







3.

Der Markt sendet nicht mehr so falsche Signale, weil die Verletzung der Menschenrechte oder sozialversicherte Umweltzerstörung nicht mehr die Preise verzerren und sich dadurch keine falschen Präferenzen der KonsumentInnen bilden. Unter dem Paradigma der Verantwortung und des Gemeinwohls wirken die KonsumentInnen als zusätzliches Markt- und Preiskorrektiv, weil sie aus innerem Antrieb an Preisen und Löhnen (am Wohl aller) interessiert sind.






An dieser Gegenüberstellung wird noch einmal klar, dass die neue Welt nur durch ein Zusammenspiel von Werten und Gesetzen entstehen kann, moralische Appelle allein bewirken zu wenig. Genau diese Lehre können wir aus dem Kapitalismus ziehen: Er hat Werte geprägt und gleichzeitig Gesetze geschaffen, die uns zur Befolgung dieser Werte anreizen oder zwingen. So kam es zur schizophrenen Situation von heute, dass die Gesetze uns zu Werten erziehen, die unseren verfassungsmäßigen liberalen, christlichen und humanistischen Grundwerten widersprechen.






Wie schaffen wir den Übergang?






Viele werden sich fragen: Wie können wir den Übergang zu so einer Wirtschaft organisieren? Das geht einfacher, als die meisten vermuten: in einer schleichenden Metamorpohose. Am Start begründen nicht-gewinnorientierte Pionierbetriebe einen dritten Wirtschaftssektor – neben dem privat-gewinnorientierten und dem öffentlichen. Sie treten nicht in freie Konkurrenz mit den traditionellen Unternehmen, sondern werden durch eine Reihe von Schutz- und Fördermaßnahmen begünstigt, zum Beispiel durch:






Steuererleichterungen



Vorrang bei öffentlichen Aufträgen



günstige Kredite durch öffentliche Banken



Abschreibungsmöglichkeiten für Kooperationskosten



Zusammenarbeit mit Universitäten und Forschungseinrichtungen



Vorrang bei der Ansiedlungspolitik von Kommunen und Städten



Wettbewerbe für humanes Management und soziale Innovationen



Koordinationszentren für die Kooperation






Ein solches »Treibhausklima« für Pionierbetriebe wird in Brasilien derzeit erfolgreich geschaffen: Das Staatssekretariat für Solidarische Ökonomie nützt unterschiedlichste Instrumente, um die bereits mehr als 20 000 alternativen Unternehmen, die zwei Millionen Menschen beschäftigen, zu fördern. Genossenschaften gibt es auf der ganzen Welt, in Europa begannen die meisten Banken nicht-gewinnorientiert. Selbst im Kernland des Kapitalismus, in den USA, haben 30 000 Betriebe Erfahrung mit Selbstverwaltung durch die ArbeiterInnen. Diese geförderten PionierInnen sammeln wichtige erste Erfahrungswerte, die von den NachfolgerInnen übernommen werden können. In dem Maße, in dem der Dritte Sektor innerhalb der Wirtschaft heranwächst, werden die Anreize erhöht, dass die traditionellen Unternehmen sich umwandeln. Nach vielleicht zehn Jahren würde das System kippen. (…)






Freiheit?






(…) Wir können einander bekriegen oder globalen Frieden schließen. Wir können unsere Kinder zur Solidarität und zum Teilen erziehen oder zu Leistungskonkurrenz und Egoismus. Wir können in gewinnorientierten Unternehmen Geld-Werte schaffen oder in gemeinwohlorientierten ganzheitliche. Wir können uns das Ziel setzen, Kapital bis in den Himmel zu akkumulieren oder das Wohl aller zu heben.






Wir haben die Freiheit, den Rahmen für das Wirtschaften gemeinsam festzulegen. Wir sind ausreichend instinktentbunden, um uns bewusst für bestimmte Werte zu entscheiden. Für diese kollektive Entscheidung braucht es Reife und Verantwortung, die aus echter Autonomie erwächst. Autonomie ist kein Entwicklungsziel des Kapitalismus. Der Kapitalismus hält uns in einem Ziel- und Wertesystem gefangen, das uns am echten Freisein hindert. Allein deshalb sollten wir uns von ihm lösen. (…)






Die Frage »Was kann ich tun? « ist eine der radikalsten überhaupt, letztendlich bedeutet sie: Was heißt für mich frei sein? Sie geht an den Kern unseres Menschseins. Wenn wir die Wirtschaft verändern wollen, müssen wir unser Leben ändern: »Du musst selbst die Veränderung sein, die du in der Welt sehen willst«, sagte Gandhi. Derzeit tragen wir alle den Kapitalismus ethisch und praktisch mit, wir sind Teil des Systems. Wir können uns nur schrittweise zu einer neuen Wirtschaftsform weiterentwickeln, es ist eine lange, vielleicht lebenslange Wanderung, eine ethische Systemmigration. Es ist nicht damit getan, in den Bioladen zu gehen oder auf Ökostrom umzusatteln, wir müssen alle Lebensbereiche neu fundieren und konstruieren und unsere Beziehungen re-ligieren: die Beziehung zu uns selbst, die Beziehungen zwischen uns und die Beziehung zur Natur und zum großen Ganzen.






'Der erste Schritt ist, dass wir die Wertstrukturen, in die wir eingebettet sind und die wir täglich gemeinsam reproduzieren, immer tiefer verstehen, um sie in den kleinsten Gedanken und Handlungen in unserem Alltag zu verändern. Da alles mit allem verbunden ist, hat jede kleinste Änderung in unserem Denken und Handeln sofort Auswirkungen auf alles andere. Schleichende Evolution, nicht brachiale Revolution bringt uns zu einer neuen Form des Zusammenlebens und Wirtschaftens.






Was also kann ich tun? Hinschauen, hineinhorchen, mitfühlen, Verantwortung übernehmen, solidarisch sein, kritisch bleiben, nichts als Naturgesetz hinnehmen, mich demokratisch einmischen. Auch und gerade im Ökonomischen.


Siehe auch:


Christian Felber: 50 Vorschläge für eine gerechtere Welt – Gegen Konzernmacht und Kapitalismus



Christian Felber: Kooperation statt Konkurrenz – 10 Schritte aus der Krise



Christian Felber: Gemeinwohl-Ökonomie – Eine demokratische Alternative wächst (Erweiterte Neuausgabe)



Christian Felber: Retten wir den Euro!



Christian Felber: GeldDie neuen Spielregeln