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Herbert Gruhl
Ein Planet wird geplündert

Die Schreckensbilanz unserer Politik


Frankfurt am Main 1975 (Fischer); 384 Seiten; ISBN 3-10-028601-4






»Was die Menschheit in diesen Jahren erfährt, wird bei ihr den größten Schock hervorrufen, der ihr in der gesamten bisherigen Geschichte widerfahren ist. Nicht mehr der Mensch bestimmt den Fortgang der Geschichte, sondern die Grenzen dieses Planeten Erde legen alle Bedingungen fest für das, was hier noch möglich ist. (...) Die jetzige totale Wendung bedeutet, daß der Mensch nicht mehr von seinem Standpunkt aus handeln kann, sondern von den Grenzen unserer Erde ausgehend denken und handeln muß. Wir nennen diese radikale Umkehr die Planetarische Wende. Das bisherige Denken ging von den Wünschen und Bedürfnissen des Menschen aus. Er fragte sich: Was will ich noch alles? Das neue Denken muß von den Grenzen dieses Planeten ausgehen und führt zu dem Ergebnis: Was könnte der Mensch vielleicht noch?« (S.225f)

Siehe auch:
Herbert Gruhl: Himmelfahrt ins NichtsDer geplünderte Planet vor dem Ende


Herbert Gruhl


Geboren 1921 in Gnaschwitz (Sachsen). Politiker, Schriftsteller, konservativer Mahner vor dem leichtfertigen Umgang mit der Natur.

Nach Kriegsdienst und Flucht aus der Gefangenschaft Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Berlin, 1957 Promotion. 1954 Eintritt in die CDU, kommunalpolitisches Engagement im Raum Hannover. 1969 Wahl in den Deutschen Bundestag, dem er bis 1980 angehört. Mitglied des Innenausschusses und der Arbeitsgruppe für Reaktorsicherheit und Strahlenschutz. 1970-76 Vorsitzender der Arbeitsgruppe Umweltvorsorge in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Bereits seine erste Rede im Parlament gilt der Umweltpolitik. Nach der Veröffentlichung von „Ein Planet wird geplündert" wird Herbert Gruhl zu einer Kristallisationsfigur der sich formierenden Umweltbewegung. 1975-77 steht er dem "Bund Natur- und Umweltschutz" (BUND) vor. 1978 Austritt aus der CDU, Gründung der GAZ (Grüne Aktion Zukunft), die sich 1979 mit der entstehenden Partei „Die Grünen" zusammenschließt. Trennt sich von den Grünen 1981 (wegen deren „Linksdrift“). 1982-89 Bundesvorsitzender der ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei). 1990 Parteiaustritt; beteiligt sich an der Gründung der überparteilichen Gruppierung der „Unabhängigen Ökologen Deutschlands".

Anstelle eines leichtgläubigen Vertrauens in ein immerwährendes wirtschaftliches Wachstum und den technischen Fortschritt setzte Gruhl – teilweise in Anlehnung an Ludwig Erhards Politik des Maßhaltens – den Appell an eine Ethik des Verzichts, der Bescheidenheit und die Umkehr zu traditionellen Werten wie Familie und Heimat. Diese Haltung umschrieb er mit dem 1988 von ihm geprägten Begriff des "Naturkonservatismus".

Gestorben 1993 in Regensburg.


Inhaltsverzeichnis


Einführung






I. Der natürliche Regelkreis







Die Natur – Der Mensch in der Natur – Der Mensch und der Raum







II. Der künstliche Produktionskreis






1. Die Grundstoffe




Energie – Die mineralischen Rohstoffe – Die exponentiellen Steigerungsraten – Die vergessenen Produktionsfaktoren – Die neue Formel – Die einmaligen Bodenschätze sind „umsonst“ – Die industrialisierte Landwirtschaft – Der Wald verbrennt, die Wüste wächst



2. Der vergessene Faktor Zeit




Die Ernte der Jahrmillionen – Die einmalige Ernte des Wissens – Der Schwindel von der „Substitution“ – Rettung durch die Kernspaltung? – Das Gesetz der Entropie – Die Möglichkeiten der Wiederverwendung (Recycling)



3. Umweltverderbnis und Umweltschutz




Umwelt ist gleich Natur – Unser fehlerhaftes Wirtschaftssystem – Die Grenzen des Umweltschutzes – Die Reaktion



4. Der Faktor Arbeit




Die neue Dimension der Arbeit – Die unvollständige Lehre vom Arbeitswert – Die beiden Produktionskreise – Die Sage von der Verkürzung der Arbeitszeit – Die Menschen haben nie genug! – Das Märchen von der Dienstleistungsgesellschaft – Arbeit ist ein Akt der Vernichtung geworden



5. Selbstausrottung durch Geburten?




Der Erfolg führte zum Selbstbetrug – Kann die Menschenlawine gestoppt werden? – Sieg der Gewissenlosen?



6. Mehrproduktion – bis zum Endsieg?




Es begann mit einer Begriffsverwirrung – Die Steigerungsraten – Der Zahlenkult – Das Kapital – Die Komplizenschaft von Kapital und Arbeit und Staat – Mehrproduktion als Machtentfaltung – Der Ost-West-Gegensatz – Der totale Sieg endet in der totalen Selbstvernichtung







III. Die Planetarische Wende






1. Das Denken von den Grenzen her




Der Raumschiff-Schock – Das Generationsgewissen – Das Ende des „freien“ Marktes



2. Der Irrationalismus unserer Zivilisation




Die erdrückende Lawine des Wissens – Die technische Realisation – Unendliche Möglichkeiten in einer endlichen Welt? – Der unkontrollierte Spaltungsprozess – Die tödliche Anfälligkeit der Industriestaaten



3. Der allzu mühselige Weg zum Gleichgewicht




Unsere heutige Grenzsituation – Die Arbeitslosigkeit – Verzicht statt Leistung? – Die Freiheit, die noch bleibt – Die Raumschiff-Wirtschaft – Weltregierung? – Der Zustand der Nationalstaaten



4. Kampf ums Überleben




Die Stadien der Menschheitsgeschichte – Die totale Umschichtung der Potenzen – Die drei Welten – Geschlossene und offene Systeme – Der Zweikampf – Die übrigen Industrieländer – Die Dritte Welt







Schluß



Nachwort






Anmerkungen



Verteilung der Grundstoff-Vorräte der Welt



Literaturverzeichnis, Sach- und Namenregister


Leseprobe


Einführung
(Die ersten 3 von 16 Seiten; die komplette Einführung kann unter www.herbert-gruhl.de/html/einleitung.html nachgelesen werden.)






Die Bewohner dieser unserer Erde werden in den nächsten Jahrzehnten gewaltige Veränderungen erleben – nur nicht die, welche in den letzten Jahrzehnten überall vorausgesagt werden.






Die Aussagen über die Zukunft sind zumeist beherrscht von den Wunschvorstellungen der Verfasser und denen ihrer Leser. So erscheinen täglich Tausende von Büchern, in denen steht, wie die Welt sein sollte. Ab und zu muß auch ein Buch erscheinen, das sagt, wie die Welt wirklich ist.






Dieses Buch ist die Antwort eines Politikers auf die Herausforderungen einer weltgeschichtlichen Situation, die es noch nie gab, solange Menschen auf diesem Planeten leben. Insofern lassen sich auch keine ähnlichen Krisen aus der Geschichte heranziehen, um daraus Lehren für die weitere Entwicklung zu ziehen. Man muß sich schon der Mühe unterziehen, die verschiedensten, miteinander verflochtenen Komponenten zu untersuchen, die zum heutigen Zustand geführt haben und daraus ableiten, was sie in absehbarer Zeit bewirken werden – und vielleicht auch, wie dem zu begegnen ist.






Zur Ermittlung künftiger Entwicklungen sind aber nicht nur die gegenwärtigen Tendenzen und Kräfte zu berücksichtigen, sondern auch die Gegenkräfte und die dem Menschen gezogenen Grenzen. Diese werden in genau demselben Maße schärfer und unerbittlicher, wie menschliches Tun neue Fortschritte und Siege erringt. In der Natur- wie in der Sozialgeschichte gibt es unzählige Beispiele dafür, wie erfolgreiche Arten sich bei ihrer Ausbreitung immer weiter von ihrer Lebensbasis entfernten, sich über immer weitere Räume verteilen mußten oder diesen Lebensraum so überlasteten, daß sie schließlich an ihren eigenen Erfolgen zugrunde gingen.






Auch für die heutige Menschheit ergeben sich die größten Gefahren nicht aus ihren Mißerfolgen, sondern aus ihren Erfolgen. Diese Bestandsaufnahme kommt zu dem Ergebnis, daß die Menschheit nur noch einige wenige »Erfolge« braucht, damit ihr der Untergang sicher ist. Daß ihr diese Erfolge gelingen, dafür sind alle Voraussetzungen gegeben. Nach Friedrich Nietzsches Wort hat die Menschheit an der Erkenntnis ein schönes Mittel zum Untergang.






Die Erkenntnis hat es dem Menschen ermöglicht, sich von den Naturgewalten in mancher Hinsicht frei zu machen und immer mehr Naturkräfte in seinen Dienst zu stellen. Eine Hybris hat die erfolgreichen Völker erfaßt: sie halten nun alles für möglich. Stark zurückgeblieben sind bis zum heutigen Tage die Kenntnisse der Menschen über die Folgen ihrer Erkenntnisse. Jeder Überblick ging verloren, und gerade dieser wird von Jahr zu Jahr dringlicher. Eine Zuständigkeit für »das Ganze« ist nirgendwo auszumachen. Die Erfolge auf unzähligen Einzelgebieten haben jede Besinnung verdrängt und das Gewissen zum Schweigen gebracht. Nun ist Gott tot, die totale Produktion ist an seine Stelle getreten. So wie im Mittelalter alle Gedanken und Werke sich auf das Jenseits richteten, so konzentrieren sie sich heute auf den materiellen Zuwachs. Verdoppelung und nochmals Verdoppelung ist das Ziel: exponentielles Wachstum. Was das bedeutet, ist schwer zu erklären, es übersteigt das Begriffsvermögen. Halten wir uns darum an die alte Fabel. Sie ist anschaulich:






Fern im Osten saß ein König mit seinem klugen Minister beisammen, und da er ein guter Schachspieler war, wünschte der König eine Partie zu spielen. Übermütig versprach er seinem Minister für den Fall, daß er ihn zu besiegen vermöchte, als Preis so viele Reiskörner, wie auf die 64 Felder des Schachbretts entfielen – wobei ein Korn auf das erste Feld kommen, jedes folgende Feld aber die jeweils doppelte Zahl von Körnern erhalten sollte wie das vorhergehende. Fangen wir schon zu spielen an, drängte der König, dieweil ich einen Sack voll Reis herbeischaffen lasse!






Der Minister aber war ein Spielverderber. Er versteifte sich darauf, erst einmal auszurechnen, wie viele Reiskörner im Falle seines Sieges denn überhaupt gebraucht würden. Sie rechneten daher, statt zu spielen und kamen ganz ohne Computer auf folgende Reihe: 1 – 2 – 4 – 8 – 16 – 32 – 64 – 128 – 256 – 512 – 1024 – 2048 – 4096 – 8192 – 16 384 – 32 768 – 65 536 – 131 072. Damit waren sie jedoch erst beim 18. Feld. Sie brauchten längst nicht bis zum 64. Feld fortzufahren, dem König wurde schon bald klar, daß er nie und nimmer erfüllen könnte, was er da leichtfertig versprochen hatte.






Die heutige Welt hat Computer; doch sie rechnet nicht. Sie handelt ohne Umschweife, wie der König gehandelt hätte, wenn sein kluger Minister nicht gewesen wäre: Nachdem der erste Sack mit Reiskörnern nicht hinreichte, hätte er einen zweiten kommen lassen, dann einen dritten, vierten..., dann ganze Wagenladungen. Alle Keller, Gemächer, die Schloßhöfe wären bald mit Reissäcken angefüllt worden, während aus den entlegensten Gebieten des Reiches immer noch Wagen herangerollt wären. Seine Botschafter hätten schließlich mit den Nachbarstaaten um Reis auf Kredit verhandeln müssen. Denn als rechter König wäre er um alles in der Welt entschlossen gewesen, sein gegebenes Wort zu halten. Es wäre ja auch gelacht, wenn es nicht gelingen sollte, für lumpige 64 Felder genügend Reiskörner zu beschaffen.






Den letzten Teil der Geschichte kann man ruhig wörtlich nehmen. Mit fanatischer Verbissenheit ist die Menschheit dabei, die letzten Winkel des Planeten zu durchsuchen: die Tiefsee, die Regionen des ewigen Eises im Norden, die Antarktis im Süden. Nicht etwa, um mit den Funden weitere Jahrtausende menschlichen Lebens zu sichern, sondern, um den jetzigen Verbrauch weiterhin alle zehn bis 15 Jahre verdoppeln zu können. Wofür?






Die Begründung für dieses letzten Endes aussichtslose Unternehmen ist von entwaffnender Kindlichkeit: Warum sollte es nicht so weitergehen, wo es doch bisher so gut gegangen ist? Alle praktische Erfahrung scheint doch dafür zu sprechen, daß dieser Weg der richtige ist!






Und nun kommen diese Theoretiker, die zuerst das Ergebnis wissen wollen, bevor sie fröhlich drauflos verbrauchen! Welch ein Widersinn! Haben die Errungenschaften des weißen Mannes sich nicht inzwischen zur Weltzivilisation ausgeweitet? Hat nicht ein Volk nach dem anderen vor soviel durchschlagender und erschlagender Effizienz kapituliert? Beweisen nicht gerade die letzten traurigen Überreste von Naturvölkern, die von den Fotolinsen unserer Touristen bestaunt werden, wie überlegen unsere Zivilisation jeder anderen ist?






Wir wagen die Voraussage: wenn alles wie bisher weiterläuft, wird uns ihr Tun und Wissen bald bitter not tun, um zu überleben!









Nachwort






Fünf Jahre lang habe ich an der Konzeption und Niederschrift dieser Darstellung gearbeitet. Währenddessen haben sich die Ereignisse immer schneller in die befürchtete Richtung entwickelt. Ein früheres Erscheinungsdatum wäre darum wünschenswert gewesen; die Gründlichkeit durfte jedoch nicht der Aktualität geopfert werden.






Die vorliegende theoretische Begründung dafür, warum die gegenwärtige Weise der Bewirtschaftung dieses Planeten durch den Menschen nicht von Dauer sein kann, erscheint nun zu einem Zeitpunkt, zu dem die Unsicherheit bereits erschreckende Ausmaße erreicht hat und diese Wirtschaftsweise schon ins Wanken gerät. So brauchte manches eigentlich nicht mehr bewiesen zu werden. Ich habe dennoch einige Formulierungen so stehengelassen, wie sie vor ein oder zwei Jahren niedergeschrieben wurden. Der Leser wird selbst die Ironie entdecken, die sich ergibt, wenn die damals noch herrschende Euphorie mit der inzwischen eingetretenen Ernüchterung konfrontiert wird.






Noch nie in der Weltgeschichte war der Zwiespalt so groß, in den wir jetzt alle hineingestellt sind. E.F.Schumacher führte 1972 in seinem Buch aus: »Wer heute in der Wirtschaft steht – und Augen und Ohren offenhält –, befindet sich in einer ungewöhnlich schwierigen und verwirrenden Lage. Denken und Handeln haben für ihn ihre Einheit verloren: er führt ein Doppelleben und seine Gedanken haben einen doppelten Boden. In seinem Büro, von neun Uhr morgens bis fünf Uhr abends, fünf Tage die Woche, denkt und handelt er aufgrund gewisser Voraussetzungen, die jedoch völlig von denen abweichen, ja, ihnen diametral entgegengesetzt sind, die sich ihm aufdrängen, wenn er abends nach Hause kommt, Zeitungen und Zeitschriften liest, das Fernsehen einschaltet oder die gerade meistgelesenen Bücher konsultiert. Die Probleme, mit denen er von neun bis fünf zu ringen hat, beziehen sich zwar auf die gleichen Sachlagen wie die, denen er nach Geschäftsschluß begegnet, haben aber sonst kaum etwas gemein. Das Vokabular ist anders, die Diagnose ist anders und die Zielsetzungen und Zukunftsaussichten sind andere. Von neun bis fünf kämpft er für Wachstum, Ausbreitung, Rationalisierung, Einsparung von Arbeitsstellen bis zur völligen Automatisierung und vieles andere mehr – alles mit dem Zweck und in der Erwartung, damit Wohlstand, Behagen und Glück zu fördern. Nach Feierabend jedoch wird er mit dringenden Prophezeiungen bestürmt, die ihn vor dem Zusammenbruch der Zivilisation, vor Umweltkatastrophen, Erschöpfung der Bodenschätze und ähnlichen Gefahren warnen. Von neun bis fünf verfolgt er jede nur denkbare Methode, um den Gang der Entwicklung zu beschleunigen, während er es abends kaum vermeiden kann, ... allen erdenklichen Argumenten zugunsten einer Stabilisierung, einem Aufhören des Wachstums, kurz einer allgemeinen Verlangsamung zu begegnen. Von neun bis fünf läßt er nichts unversucht, um seine Erfolge zu vervielfachen; nach Geschäftsschluß wird er mit Analysen konfrontiert, aus denen hervorgeht, daß der Menschheit nicht von ihren Fehlleistungen, sondern von ihren Erfolgen die größte Gefahr droht: ... Und so zerfällt sein Leben Tag um Tag, Woche um Woche, in Zeiträume mit Aufgaben und Anforderungen, die sich völlig widersprechen und nicht miteinander vereinbart werden können.«






Noch schlimmer ergeht es dem Politiker. Er ist verdammt, das Unvereinbare zu jeder Tageszeit sowohl zu denken als auch zu tun. Er hastet von Termin zu Termin und bastelt an Gesetzen, die allen das Leben immer schöner, sicherer und leichter machen sollen. Dabei stößt er auf Realitäten, die ihm eindringlich vor Augen führen, daß dies alles so nicht mehr geht. Dennoch rast er von einer Veranstaltung zur anderen, wo die Zuhörer zuversichtlich Verheißungen erwarten, wenn nicht für jetzt, dann wenigstens für die Zeit nach der nächsten Wahl. Soll er ihnen die Wahrheit sagen und ihre hoffnungsvollen Blicke in Enttäuschung verwandeln? Wollen sie die Wahrheit überhaupt wissen? Und was hülfe es, wenn er ihnen die wahre Lage schilderte? Kann er überhaupt hoffen, sich ihnen verständlich zu machen? So setzt er eine gewichtige Miene auf, versucht seine eigenen Zweifel zu unterdrücken und ergeht sich, wie gehabt, in Dingen von großartiger Nichtigkeit.






Doch seltsam, auch das zündet im Jahre 1975 nicht mehr so richtig; oder liegt es daran, daß er selbst unsicher geworden ist? Muß er daran denken, was man ihm einige Jahre später vorhalten könnte, wenn das genaue Gegenteil eingetreten sein wird, wie er bereits argwöhnt?






Für den Politiker ist somit das Dilemma noch unerträglicher als für jeden sonst Berufstätigen; denn er kann sich nicht darauf berufen, daß über ihm noch jemand ist, der ihn anweist und für ihn (hoffentlich richtig) denkt. Er arbeitet zur gleichen Stunde mühevoll an der Verbesserung von Gesetzen, deren baldige Unzulänglichkeit er durchschaut, und er kann doch nicht hoffen, auch nur etwas von dem durchzusetzen, was wirklich not täte. Er sieht den Abgrund zwischen seinem täglichen Tun und dem, »was sich wirklich tut«, und hat keine Vorstellung, wie dieser überwunden werden könnte, ja er weiß nicht einmal, ob er überhaupt überwindbar ist. Währenddessen wird er von der Uhr von einer Verpflichtung zur anderen gehetzt und zwischen Anpassungsdruck und Pflichtgefühl zerrieben.






Indessen ist es dringend nötig, den Blick auf das Wesentliche zu richten, um die Kluft wenigstens gedanklich zu überbrücken. Das heißt, die Gesamtschau muß gewagt werden; nichts ist vordringlicher als diese. Es gibt nur die Wahl: Entweder die Augen verschließen oder das Wagnis auf sich nehmen und die Feindseligkeit einer konformistischen Umwelt ertragen.






Ich wage also eine Gesamtschau und weiß heute schon, welche Vorwürfe von den »Fachleuten« kommen werden: Meine Fachkenntnisse hätten auf dem Gebiet x nicht ausgereicht, ob ich denn noch nie etwas von y gehört hätte, daß man z noch viel eingehender untersuchen müsse und daß mein Vorgehen überhaupt schon methodisch bedenklich sei.






Ich gebe die Vorwürfe zurück, indem ich all diese klugen Leute der Einseitigkeit bezichtige. Ich werfe ihnen sogar vor, verantwortungslos zu sein. Denn während sie so reden, wird überall in der Welt pausenlos gehandelt – und das in einem Ausmaß wie nie zuvor in der Weltgeschichte. Es werden vollendete Tatsachen geschaffen, die wiederum unvermeidliche Folgewirkungen nach sich ziehen. Die Menschen werden fortlaufend von unzähligen Entwicklungen überrollt, die niemand bedacht hat – bis sie eines Tages unter den Auswirkungen ihrer Unbedachtsamkeiten zugrunde gehen. Die Spezialisten sind es gerade, die uns in die Sackgassen der Gegenwart geführt haben; ihre »Sachbezogenheit« ist nur der Vorwand für den mangelnden Mut, sich aus ihrem Fuchsbau, in dem sie Bescheid wissen, herauszuwagen und sich zu exponieren.






Ich folge dem amerikanischen Ökologen Barry Commoner, der feststellt: Wenn der Ökologe sich scheue, in die schwierige Domäne des Wirtschafts- und Politikwissenschaftlers einzudringen, dann müßten diese ihren eigenen Weg in das ebenso schwierige Gebiet der Ökologie finden. Angesichts der Dringlichkeit der Situation ist es notwendig, daß Volkswirtschaftler genauso wie Ökologen und erst recht Politiker das Risiko eingehen und die Grenzen ihrer jeweiligen Disziplin durch brechen – und die Kritik als eine Art sozialer Pflicht auf sich nehmen.






Mein Unternehmen hat das Ziel: die wissenschaftlichen Untersuchungen der letzten Jahre über die Menschheitsentwicklung zu vervollständigen, in ein System zu bringen und die politischen Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Meine Bedenken gegenüber der globalen Entwicklung trug ich – noch vorsichtig – Ende 1970 dem Deutschen Bundestag vor* und äußerte sie in einigen Aufsätzen und Reden. Jetzt ist die Zeit gekommen, eine unmißverständliche Sprache zu führen und ganz entschieden Stellung zu beziehen.






Die vielen Personen und Stellen, die mir freundlicherweise Material zur Verfügung gestellt haben, werden das Ergebnis in diesem Buch wiederfinden. Ihnen wie meinen engsten Helfern sei herzlich gedankt.






Die wertvollsten Ansätze verdanke ich den Professoren Hans Christoph Binswanger und Adolf Jöhr, deren Erkenntnisse mir mit der Veröffentlichung des 1. St. Galler Symposiums über »Umweltschutz und Wirtschaftswachstum« als erste in die Hände kamen. Ihnen, dem Studentenkomitee der Wirtschaftshochschule St. Gallen und einer Reihe weiterer Schweizer Wissenschaftler sei besonders gedankt.






Seitdem ist die Kette der Bestätigungen, auch aus den Vereinigten Staaten und anderen Ländern, immer länger und fester geworden. In allen Völkern beginnen nun Menschen hellwach zu werden. Es ist auch höchste Zeit, wir stehen in der entscheidenden Epoche. Jahrzehntausende ungeschriebener Menschheitsgeschichte und 5000 Jahre überlieferter Geschichte gebieten uns einen tapferen Versuch – auch dann, wenn wir scheitern sollten.






Barsinghausen am Deister, im Juli 1975
H.G.






* Siehe www.herbert-gruhl.de/html/rede.html