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Leopold Kohr
Das Ende der Großen

Zurück zum menschlichen Maß

Salzburg/Wien 2002 (Otto Müller Verlag); 343 Seiten; ISBN 3-7013-1055-6
Neuausgabe der deutschen Fassung von „The Breakdown of Nations“ (London 1957)








Bereits vor fünfzig Jahren sagte Leopold Kohr das Ende der großen Machtblöcke voraus und empfahl die Rückkehr zum menschlichen Maß. Dieses Plädoyer für die „richtige Größe“ entstand in einer Zeit, in der Wachstum und internationale Zusammenschlüsse dominierten, und ist heute – im Zeitalter der Globalisierung – aktueller denn je. Der Slogan „small is beautiful“, den Kohrs Schüler und Freund Fritz Schumacher in den 70er Jahren berühmt machte, hatte Kohr schon früher ausführlich begründet: Kleine Staaten und und soziale Einheiten seien effizienter und friedlicher als große. In brillanter Analyse zerlegt Kohr die Ideologien des Größenwahns in der Politik und in der Wirtschaft. Er zeigt anhand zahlreicher Beispiele aus Geschichte und Gegenwart, warum große Einheiten zwangsweise scheitern müssen und nur die Einhaltung des richtigen Maßes die Menschheit vor dem Sturz in den Abgrund retten kann. Die Leopold-Kohr-Akademie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die bedeutenden Werke Kohrs in einer neuen Reihe herauszugeben, derer erster und wohl wichtigster Band hiermit vorliegt.


Leopold Kohr


wurde am 5. Oktober 1909 in Oberndorf bei Salzburg geboren. In Wien, Innsbruck, London und Paris studierte er Rechts- und Staatswissenschaften. 1938 emigrierte er nach Amerika. Er lehrte seit 1943 unter anderem an den Universitäten in New Jersey, Puerto Rico und Aberystwyth (Wales). Nach der Pensionierung an der Universität Puerto Rico im Jahr 1973 übersiedelte er nach Wales, später nach Gloucester (England). 1983 erhielt er als erster Österreicher den „Right Livelihood Award“, den sogenannten Alternativen Nobelpreis. Das offizielle Österreich ehrte ihn durch Auszeichnungen wie das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik. Kurz bevor Kohr endgültig in seine Heimat zurückkehren wollte, starb er am 26. Februar 1994 in England.


Inhaltsverzeichnis


Vorwärts zum menschlichen Maß – Anmerkungen zum „Ende der Großen“



Anerkennungen



Vorwort des Autors zur englischen Ausgabe



Vorwort des Autors zur deutschen Ausgabe



Einleitung



Kapitel I: Die Philosophie des Elends



Kapitel II: Die Machttheorie der Aggression



Kapitel III: Ab sofort: Nichtvereinigung



Kapitel IV: Tyrannei in einer Welt der kleinen Staaten



Kapitel V: Die Physik der Politik



Kapitel VI: Der individuelle und der Durchschnittsmensch



Kapitel VII: Die Herrlichkeit der Kleinen



Kapitel VIII: Die Funktionsfähigkeit der Kleinen



KapitelI IX: Vereinigung durch Teilung



Kapitel X: Die Auflösung der großen Mächte



Kapitel XI: Wird es geschehen?



Kapitel XII: Das amerikanische Imperium



Anhang



Das Prinzip der Föderation. Übersichtskarten



Bibliographie



Leopold Kohr: Lebenslauf


Leseprobe


Einleitung






Alles ist Gift. Ausschlaggebend ist nur die Dosis.“
Theophrastus Paracelsus






1.






Wie Physiker unserer Zeit versucht haben, eine einzige integrierte Theorie zu erarbeiten, die nicht nur einige, sondern alle Phänomene des physischen Universums erklärt, habe auch ich – auf einer anderen Ebene – versucht, eine einzige Theorie zu entwickeln, mittels der nicht nur einige, sondern alle Phänomene des sozialen Universums auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Das Ergebnis ist eine neue vereinheitlichte politische Philosophie: die Philosophie der Größe. Sie beruht darauf, daß alle Formen sozialen Elends nur eine Ursache haben: ihre Größe.






Dies mag sich zwar sehr einfach anhören. Die Idee wird uns aber leichter verständlich, wenn wir bedenken, daß Größe (= Überdimensioniertheit) mehr verursacht als bloß soziale Probleme. Es scheint das zentrale Problem der Schöpfung zu sein. Wo immer etwas fehlerhaft ist, ist es zu groß. Wenn manche Sterne am Himmel oder die Uranatome in einer spontanen Explosion zersplittern, geschieht dies nicht, weil ihre Substanz aus dem Gleichgewicht geraten ist, sondern weil ihre Materie an die kritische Grenze gelangte, die jeder Akkumulation gesetzt ist: Ihre Masse ist zu groß geworden. Wenn der menschliche Körper etwa an Krebs erkrankt, so deshalb, weil eine Zelle oder eine Gruppe von Zellen begonnen hat, über ihre natürlich gesetzten Grenzen hinauszuwuchern. Erkrankt der Organismus eines Staates am Fieber der Aggression, an Brutalität, an Kollektivismus oder einfach an massiver Idiotie, so geschieht dies nicht, weil er einer schlechten Führung oder geistiger Verwirrung zum Opfer gefallen ist, sondern weil menschliche Wesen, die als Individuen oder als kleine Gruppe so reizvoll sein können, in hochkonzentrierte soziale Einheiten zusammengefaßt wurden, etwa in Horden, Gewerkschaften, Kartelle oder Großmächte, die als solche in unkontrollierbare Katastrophen hineinschlitterten. Denn soziale Probleme haben, in Abwandlung der berühmten Bevölkerungsdoktrin von Thomas Malthus, die unglückliche Neigung, sich im Verhältnis zum Wachstum jenes Organismus, dessen Teil sie sind, in geometrischer Reihe zu entwickeln, während die Fähigkeit des Menschen, mit ihnen fertig zu werden, nur in arithmetischer Reihe wächst. Die Probleme einer Gesellschaft, die sich über ihre optimale Größe hinaus entwickelt, wachsen also mit der Zeit rascher als die menschliche Fähigkeit, mit ihnen fertig zu werden.






Die Größe – und nur die Größe! – ist das zentrale Problem der menschlichen Existenz, im sozialen und im physischen Sinn. Ich habe nun aus einzelnen und scheinbar unzusammenhängenden Beweisen eine integrierte Größentheorie entwickelt und damit gezeigt, daß das, was überall sonst gilt, auch auf dem Gebiet der sozialen Beziehungen gültig ist. Und weiters: Da moralisches, physisches oder politisches Unheil nur von der Dimension abhängt, es sich demnach um ein Problem der Größenordnung handelt, liegt die einzige Lösung dieses Problems darin, die Substanz beziehungsweise den Organismus, der seine natürliche Größe überschritten hat, zu reduzieren. Es handelt sich hier grundsätzlich nicht um ein Problem des Wachsens, sondern um das des "Nicht-Weiterwachsens"; die Lösung heißt deshalb nicht: Zusammenschluß, sondern Teilung.






Natürlich kann man diese Theorie nicht auf die Arbeit eines Chirurgen, eines Bildhauers, eines Ingenieurs oder eines Redakteurs anwenden, zumal deren Aufgabe aus nichts anderem besteht, als etwas zu verkleinern, zu teilen, zu kürzen, was zu groß ist, und die kleineren Einheiten zu neuen Formen und gesünderen Strukturen zusammenzufügen. Anders ist das jedoch bei Sozialtechnokraten, die, wenn auf den unteren Organisationsebenen auch recht vernünftig, auf jenen der Politik und Wirtschaft unaufhörlich darauf hinarbeiten, immer größere Einheiten zu schaffen. Ihnen scheint der Vorschlag, abzuschneiden, wo etwas zu mächtig und zu groß geworden ist, nicht als Plattheit, sondern als Sakrileg. Da sie das Problem der Größe verkehrt sehen, meinen sie, es mit einem Problem der Kleinheit zu tun zu haben. Also verlangen sie Zusammenschluß dort, wo jedes Gesetz der Logik Teilung verlangte. Nur selten sehen sie die Dinge so, wie sie wirklich sind. Nach jahrelangen Unruhen in den überfüllten koreanischen Gefangenenlagern dämmerte es den Verantwortlichen allmählich, daß die Schwierigkeiten nicht in der Sturheit der kommunistischen Häftlinge begründet lagen, sondern in der Größe der Lager, in denen die Kriegsgefangenen untergebracht waren. Als man das endlich begriffen hatte, konnte man sehr schnell erträgliche Zustände herstellen: nicht, indem man etwa den Gefangenen gut zuredete, sondern indem man sie in viele leicht überschaubare Einheiten aufteilte.






Was aber für Menschen in überfüllten Gefangenenlagern zutrifft, gilt auch für Menschen, die in den übergroß wuchernden Gemeinschaften der Staaten unserer Welt leben: Ihre nicht mehr lenkbare Größe ist die einzige Ursache unserer Schwierigkeiten. Daher liegt die Lösung der Weltprobleme ähnlich wie jene im Falle der koreanischen Gefängnislager: nicht in der Schaffung noch größerer sozialer oder politischer Einheiten, wie das Staatsmänner von heute mit viel phantasielosem Eifer propagieren, sondern in der Zerstörung jener übermäßig angewachsenen Organismen, die man „Großmächte“ nennt. Unser Ziel sollte es sein, ein gesundes System kleinerer und leichter regierbarer Staaten wiederherzustellen, wie es sie in früheren Jahrhunderten gab. All das schlage ich in diesem Buch vor. Ich zweifle nicht daran, daß viele Leute dies als Gegensatz zu allen unseren heutigen Fortschrittskonzepten auffassen werden. Natürlich stimmt dies, aber ich kann darauf nur mit den Worten Professor Frank Tannenbaums (Columbia-Universität) antworten: Lassen wir sie nur, lassen wir den anderen Leuten ihre Slogans. Lassen wir sie bis ans Ende der Welt fortschreiten, dann werden sie ungeheuren Fortschritt haben!"






2.






Ich habe in der Behandlung meiner Ideen, die in diesem Buch zur Sprache kommen, den Ausdruck neu gebraucht. Dies ist nur teillweise richtig und insofern, als ich die Theorie der Größe zur Basis eines integrierten Systems der Philosophie gemacht habe, von der aus alle Probleme der Schöpfung leicht und kompetent gelöst werden können. Als spezifische Theorie jedoch, die sich nur auf spezielle Bereiche bezieht, wurde sie schon oft vorgeschlagen, obwohl man ihr, wenn auch nur als spezifische Theorie, nie jene zentrale Bedeutung zusprach, die ihr zusteht. Dies trifft besonders auf ihre Anwendung bei der Erklärung sozialer Phänomene zu. Auch hier ist das Konzept der kleinen Zelle als Grundlage jeder gesunden Struktur weder originell noch neu. Dies wurde schon vor Jahrhunderten von Männern wie Aristoteles oder dem heiligen Augustinus wunderbar formuliert. Heinrich IV. von Frankreich brachte es in einem der berühmtesten Friedenspläne der Geschichte zum Ausdruck: im Edikt von Nantes. Heute, da sich der Weg zur Größe der atomaren Endstation nähert, ist das Problem so dringlich geworden, daß es sich wie die feuchtigkeitsgeschwängerte Luft fast von selbst zu kondensieren scheint. Wann immer ein neuer Versuch unternommen wird, eine internationale Vereinigung zustande zu bringen, sind wir weniger von Hoffnung denn von Verzweiflung erfüllt. Eine dunkle Vorahnung scheint uns zu sagen, daß wir uns in die falsche Richtung bewegen; daß wir uns, je mehr wir uns zusammenschließen, immer mehr jener kritischen Masse nähern, ja daß unsere Dichte selbst, wie in einer Uranbombe, zu jener Explosion führen wird, die wir abzuwehren versuchen. Deshalb haben mehrere Autoren in den letzten Jahrzehnten auch eine Kehrtwendung hinsichtlich der Zielrichtung ihrer Forschungen gemacht, und sie versuchen, die Lösung eher in kleinen als in großen Organisationen zu suchen, in der Harmonie, nicht in der Einheit. Arnold Toynbee, der den Niedergang von Zivilisationen nicht im Kampfe zwischen Nationen, sondern im Aufstieg von Universalstaaten gesehen hat, schlägt anstelle makropolitischer Lösungen eine Rückkehr zu einer Form der Homonoia vor, zum griechischen Ideal einer sich selbst regulierenden Balance kleiner Einheiten. Kathleen Freeman zeigte in einer Studie über griechische Stadtstaaten, daß fast die gesamte westliche Kultur ein Produkt solcher nicht vereinigter kleiner Staaten war, von dem Augenblick an nicht mehr imstande, produktiv zu sein, in dem sie sich unter den Schutzmantel Roms begeben hatten und also vereint waren. Auf dem Gebiet der Wirtschaft widmete Justice Brandeis ein Lebenswerk dem "Fluch der Größe", indem er aufzeigte, daß jenseits relativ enger Grenzen ein zusätzliches Wachstum einer Anlage oder einer Organisation nicht mehr zu Wirksamkeit oder zur Produktivität eines Unternehmens beiträgt, sondern diese verringert. Auf soziologischem Gebiet fordert Frank Tannenbaum, der sich selbst als "Parochialist" (Vertreter kleiner Einheiten) bezeichnet, den Aufbau kleiner Gewerkschaften – im Gegensatz zu den ins Gigantische gewachsenen heutigen Organisationsformen; denn nur kleine Gewerkschaften scheinen dem Arbeiter noch das geben zu können, was ihm eine Massenorganisation nicht mehr geben kann: das Gefühl von Zugehörigkeit und Individualität.






Im politischen Bereich hat Henry Simons die Idee entwickelt, daß die Hindernisse auf dem Weg zum Weltfrieden nicht im scheinbaren Anachronismus kleiner Staatengebilde liegen, sondern in den Großmächten, diesen "Monstern des Nationalismus und Kommerzialismus“, in deren Auflösung er die einzige Chance für unser Überleben sieht. André Gide schließlich, um diese skizzenhafte Liste mit einem Dichter abzuschließen, hat einen ähnlichen Gedanken ausgedrückt, als er seine vielleicht letzten Worte schrieb: "Ich glaube an die Tugend kleiner Nationen. Ich glaube an die Tugend kleiner Nationen. Die Welt wird von wenigen gerettet werden."






All dies zeigt, daß die Idee und das Ideal der Kleinheit als einziges Serum gegen die krebsartige Wucherung der Übergröße – in der die überwiegende Mehrheit der heutigen Theoretiker nicht eine tödliche Krankheit, sondern eine perverse Hoffnung auf Rettung sieht – endlich reif zu sein scheint, neu anerkannt und verständlich formuliert zu werden. Wenn meine eigenen Spekulationen diesbezüglich schon keinen Eindruck machen sollten, dann vielleicht jene des Aristoteles oder des heiligen Augustinus. Obwohl ich weder die Ideen dieser noch anderer bereits erwähnter Autoren in meiner Theorie verwendete, finde ich es höchst erfreulich, mich in einer so ehrbaren Gesellschaft zu befinden. Ich werde mich aber nicht hinter ihren Beweisen noch hinter der Autorität ihrer Namen verstecken, um der Kritik jener zu entgehen, die behaupten, daß unsere Zeit alle ihre Probleme in einer alles umfassenden Weltgemeinschaft lösen kann. Die Analyse wie auch die Schlußfolgerungen sind ausschließlich meine eigenen.


Siehe auch:


www.leopold-kohr-akademie.at