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Worldwatch Institute (Hrsg.)
in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch
Zur Lage der Welt 2006
China, Indien und unsere gemeinsame Zukunft

Münster 2006 (
Westfälisches Dampfboot); 320 Seiten; ISBN 3-89691-628-9








Der rasante ökonomische Aufstieg so bevölkerungsreicher Länder wie China und Indien verändert die Welt. Aber nicht nur in der globalen Wirtschaft ist dieser Wandel bemerkbar, sondern auch in der Kultur, der Politik und in unserem Alltag. Eine weltweite nachhaltige Entwicklung ist ohne diese beiden Länder nicht zu erreichen. Wie das zum Wohle aller gelingen kann – das beschreibt der Bericht „Zur Lage der Welt 2006“ des renommierten Worldwatch Institute in Washington. Weitere Beiträge befassen sich u.a. mit so aktuellen Themen wie Nanotechnologie, Biotreibstoffe und Fleischproduktion. „Zur Lage der Welt“ ist ein jährlich erscheinender Report des Worldwatch Institute. Diese Berichte sind seit fast 20 Jahren richtungsweisend in der Diskussion über eine nachhaltige Entwicklung. Zum vierten Mal erscheint "Zur Lage der Welt" in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch.


Worldwatch Institute


Worldwatch ist eine unabhängige, weltweit ausgerichtete Forschungsorganisation für Umweltfragen und Probleme der Sozialpolitik mit Sitz in Washington, D. C. Seine einzigartige Verbindung von interdisziplinärer Forschung und allgemein zugänglichen Publikationen hat das Institut zu einer führenden Autorität gemacht, wenn es um die Belange einer umweltschonenden und sozial gerechten Gesellschaft geht. In den vier Hauptforschungsfeldern des Instituts – Menschen, Natur, Energie und Ökonomie – befassen sich die Forscher von Worldwatch mit einer Vielzahl von Gegenständen wie Bevölkerung, Ernährung, Wasser, Urbanisierung, Meere, Wälder, ansteckende Krankheiten, Bioinvasion, Verschmutzung, Materialgebrauch, Energie, Klimawandel, Transportwesen, Konsum, Sicherheit, Globalisierung und Herrschaft, nachhaltiges Wirtschaften und Informationstechnologie. Jedes Jahr stellt Worldwatch seine Ergebnisse in einigen Publikationen vor, zu denen auch die Jahrbücher State of the World (Zur Lage der Welt) und Vital Signs gehören. Das erste Worldwatch Paper erschien 1975. Seit jenem Jahr hat Worldwatch mehr als 160 Forschungsberichte veröffentlicht, die sich mit vielen der dringlichsten ökonomischen, sozialen und Umweltfragen in der Welt befassen. Das Institut veröffentlichte seinen Jahresbericht „Zur Lage der Welt“ erstmals 1984.


Heinrich-Böll-Stiftung


Die Heinrich-Böll-Stiftung mit Sitz in den Hackeschen Höfen im Herzen Berlins ist eine politische Stiftung und steht der Partei Bündnis 90/Die Grünen nahe. Die Stiftung arbeitet in rechtlicher Selbstständigkeit und geistiger Offenheit. Heinrich Bölls Ermutigung zur zivilgesellschaftlichen Einmischung in die Politik ist Vorbild für die Arbeit der Stiftung. Ihre vorrangige Aufgabe ist die politische Bildung im In- und Ausland zur Förderung der demokratischen Willensbildung, des gesellschaftspolitischen Engagements und der Völkerverständigung. Dabei orientiert sie sich an den politischen Grundwerten Ökologie, Demokratie, Solidarität und Gewaltfreiheit. Die Stiftung engagiert sich in der Welt durch die Zusammenarbeit mit rund 200 Projektpartnern in über 60 Ländern auf vier Kontinenten.


Germanwatch


Seit 1991 setzt sich Germanwatch für eine zukunftsfähige Entwicklung ein. Denn durch karitative Hilfsmaßnahmen allein können soziale und ökologische Katastrophen und allmähliche Verschlechterung der Lebensumstände in Ländern der sogenannten Dritten Welt nicht verhindert werden. Vielmehr muss an den Ursachen gearbeitet werden, die in den globalen Wirtschaftsstrukturen und der Ungerechtigkeit der Güterverteilung liegen. Politik und Wirtschaft der Industrieländer müssen sich in vielfacher Weise neu orientieren, um zukunftsfähiger zu werden. In diesem Sinne betrachtet Germanwatch auch die Industriestaaten als "Entwicklungsländer". Mit wissenschaftlich fundierten, umwelt- und entwicklungspolitischen Lösungsvorschlägen spricht Germanwatch Regierungs- und Wirtschaftsvertreter persönlich an und findet dort zunehmend Gehör. Ziel von Germanwatch ist nicht nur eine effiziente Arbeit für eine zukunftsfähige Nord-Süd-Politik, sondern die Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit für komplexe entwicklungspolitische Themen. Germanwatch versteht sich hier auch als Informant für Presse- und Medienvertreterinnen.


Inhaltsverzeichnis


Vorwort zur deutschen Ausgabe. Von Ralf Fücks und Klaus Milke






Geschäft und Verantwortung – Zur Debatte um ökologische und soziale Kriterien für unternehmerisches Handeln. Von Klaus Milke






Vorwort von Xie Zhenhua
(Direktor des staatlichen Amtes für Umweltschutz der Volksrepublik China)






Vorwort von Sunita Narain
(Direktorin des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt in Indien)






Christopher Flavin
EINLEITUNG






Christopher Flavin / Gary Gardner
KAPITEL 1: China, Indien und die neue Weltordnung






Danielle Nierenberg
KAPITEL 2: Für ein Umdenken in der globalen Fleischindustrie






Sandra Postel
KAPITEL 3: Die Süßwasserökosysteme schützen!






Suzanne C. Hunt / Janet L. Sawin (mit Peter Stair)
KAPITEL 4: Biokraftstoff – eine Alternative zum Erdöl?






Hope Shand / Kathy Jo Wetter
KAPITEL 5: Die Wissenschaft des Winzigen. Eine Einführung in die Nanotechnologie






Michael Renner / Zoë Chafe
KAPITEL 6: Katastrophen, Konflikte und die Chancen auf Frieden






Aaron Cosbey
KAPITEL 7: Handel und nachhaltige Entwicklung – zwei unvereinbare Ziele?






Jennifer L. Turner / Lü Zhi
KAPITEL 8: Zum Aufbau einer grünen Zivilgesellschaft in China






Erik Assadourian
KAPITEL 9: International agierende Unternehmen im Wandel






Anhang: Autorinnen und Autoren


Leseproben


Vorwort zur deutschen Ausgabe



von Ralf Fücks (Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung)



und Klaus Milke (Vorstandsvorsitzender Germanwatch)






Der China-Hype geht um. Der Aufstieg Chinas und – mit deutlichem Abstand – auch Indiens zu Wirtschaftsmächten ersten Ranges beeindruckt, fasziniert und erschreckt im Westen Öko-nomen, Geostrategen und nicht zuletzt auch die Ökologen. Mit durchschnittlichen Wachstumsraten von rund 9,4% pro Jahr in den vergangenen 26 Jahren ist Chinas Boom ohne Beispiel in der Wirtschaftsgeschichte.






„Reichwerden ist glorreich“ hieß die Parole, die Deng Xiao Ping zu Beginn dieses atemberaubenden Aufstiegs ausgab. Heute weiß die chinesische Führung, dass sie einen Tiger losgelassen hat, den sie nun reiten muss. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte und sozialen Spannungen sind immens, genauso wie die ökologischen Belastungen, die der Boom hervorgebracht hat.






Wer sich etwas näher mit den ökologischen Herausforderungen in China beschäftigt, wird einem Paradoxon begegnen. Da sind auf der einen Seite die überdeutlichen Krisensignale: Luft- und Wasserverschmutzung, Bodenerosion und Ressourcenerschöpfung in erschreckenden Ausmaß. International bekannt gewordene ökologische Katastrophen wie der Chemieunfall am Songhua-Fluss bei Harbin und die chronische Grundwasserverseuchung im „Krebsdorf“ Huangmengying sind wohl nur die Spitze des Eisbergs. Hinzu kommt ein steil ansteigender Ressourcenverbrauch, der schon lange nicht mehr aus dem eigenen Land befriedigt werden kann. Die nach den großen Überschwemmungen des Jahres 1996 erlassenen Gesetze gegen die Abholzung der chinesischen Wälder haben dazu geführt, dass nun Südostasien und das Amazonasbecken auch für den chinesischen Holzbedarf geplündert werden. Chinesische Konzerne sichern sich mit staatlicher Protektion Öl- und Gasvorkommen in Afrika und Lateinamerika, ohne Rücksicht auf ökologische und menschenrechtliche Bedenken. Daraus erwachsen auch außenpolitische Komplikationen, wenn die chinesische Führung die Zusammenarbeit mit repressiven Regimes vom Iran bis zum Sudan vorantreibt und damit eine gemeinsame Position der internationalen Staatengemeinschaft unterläuft.






Auf der anderen Seite begegnet man in der chinesischen Führung einem ökologischen Problembewusstsein, das unter westlichen Regierungen keineswegs selbstverständlich ist. Die chinesische Umweltgesetzgebung kann sich durchaus sehen lassen. Grenzwerte und Standards sind oft stringenter als im Westen. Und die in westlichen Ohren etwas seltsam anmutende Rhetorik vom „wissenschaftlichen Konzept von Entwicklung“ und der „harmonischen Gesellschaft“, die mit dem 11. Fünfjahresplan Einzug gehalten hat, nähert sich einer Strategie nachhaltiger Entwicklung an: Sehr viel mehr Gewicht als bisher wird hier nun auf den Abbau der enormen sozialen Spannungen und den Schutz der Umwelt gelegt. Das scheint mehr als hohle Propaganda, sondern der Versuch, ein neues Leitbild zu etablieren, das sich von der simplen Parole Deng Xiao Pings entfernt.






Doch übersetzt sich das in der Staatsführung vorhandene Problembewusstsein nicht in konsistente Aktionen in den Provinzen, Städten und Dörfern. Die Gesetzgebung greift nicht, oder allenfalls sehr langsam. Eine Marktwirtschaft lässt sich nicht mehr mit den traditionellen Mitteln der Kommandowirtschaft steuern. Der Aufbau einer leistungsfähigen und unabhängigen Gerichtsbarkeit, die Kontrolle der staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteure durch eine lebendige öffentliche Meinung sind die Herausforderungen, vor denen China steht (und hinsichtlich derer Indien dem Nachbarn ein großes Stück voraus ist). Wie Sunita Narain, langjährige Partnerin der Heinrich-Böll-Stiftung, in ihrem Vorwort ganz richtig betont, ist ein hohes Maß an Demokratie die Voraussetzung für einen ökologischen Wandel.






Und wir? In ökologischer Hinsicht schaut die westliche Welt auf China wie in einen Spiegel, der das eigene Bild um ein vielfaches vergrößert. Wir schauen auf Chinas Ressourcenhunger und erkennen im Erschrecken unseren eigenen, pro Kopf um ein Vielfaches höheren. Mit dem spitzen Finger auf China zeigen hilft daher nicht – er zeigt unmittelbar auf uns zurück. Produktiv wird das Erschrecken über China dann, wenn wir – gemeinsam mit China – sehr viel entschlossener als bisher die bestehenden Auswege aus der Wachstumsfalle beschreiten. Das weltweit beispiellos ambitionierte Ausbauprogramm Chinas für erneuerbare Energien bietet hierfür hervorragende Ansatzpunkte.






Fatal wäre es, wenn wir die Umweltprobleme und Umweltsünden Chinas als billige Ausrede nutzten, um hierzulande ökologische Ambitionen auf dem Altar eines ökonomischen Wettlaufs mit China zu opfern. Trotz aller notwendigen Kritik gibt es nur eine gemeinsame Zukunft. „Weiter so, nur schneller“ oder gar der Versuch einer Destabilisierung Chinas sind keine Antwort auf die chinesische Herausforderung.






Diese Botschaft vermittelt auch der diesjährige Bericht zur Lage der Welt mit seinem Schwerpunkt auf Indien und China. In den USA geschrieben, fokussiert das Kapitel 1 auf die Beziehung der einzigen verbliebenen Weltmacht zu den beiden aufsteigenden asiatischen Mächten. Für die USA ist dieser Aufstieg von zwei neuen Riesen zu globalen wirtschaftlichen und politischen Akteuren die zentrale geopolitische Herausforderung. Europa scheint diese Herausforderung noch kaum erfasst zu haben. Um so zeitgemäßer ist das leidenschaftliche Plädoyer des Präsidenten des Worldwatch Institutes, im Aufstieg Asiens eher die Chancen denn die Bedrohungen zu erkennen.









Vorwort von Xie Zhenhua
(Direktor des staatlichen Amtes für Umweltschutz der Volksrepublik China)






Von der UN-Konferenz über die menschliche Umwelt im Jahr 1972 bis zum Weltgipfel über nachhaltige Entwicklung 2002 (und darüber hinaus) haben Länder dafür gearbeitet, die Umwelt zu schützen, von der unser aller Überleben abhängt. Mit der Verabschiedung der Milleniumsziele, der Millenium Development Goals, ging die internationale Gemeinschaft die feierliche Verpflichtung ein, die Armut zu beseitigen, Bildung und Wissen zu stärken und zu verbreiten, die Rechte und Interessen von Frauen und Kindern zu schützen, AIDS zu verhüten, die Umwelt zu bewahren und die globale Zusammenarbeit zu fördern.






In den vergangenen Jahren hat die Welt erhebliche Fortschritte bei der nachhaltigen Entwicklung gemacht. Dennoch müssen wir uns bewusst sein, dass die Verfassung der globalen Umwelt nicht besser geworden ist. Eher wird sie nach wie vor schlechter, und insbesondere die sich entwickelnden Länder sehen sich schweren Herausforderungen bei der Durchsetzung nachhaltiger Entwicklung gegenüber: Die Armut in manchen Ländern hat mit den wachsenden Ungleichheiten zwischen Nord und Süd zugenommen; die Industrieländer haben den Transfer von Technologie und Entwicklungshilfe verlangsamt; einige Länder leiden noch immer unter nicht nachhaltigen Produktionsmethoden und an Überkonsum, und ungewohnte Bedrohungen wie etwa der Terrorismus untergraben den Weltfrieden und die Entwicklung. Eine Menge schwieriger Aufgaben liegt vor uns, und die Welt hat noch immer einen weiten Weg zurückzulegen, um die Milleniumsziele zu erreichen.






Die chinesische Regierung hat nachhaltige Entwicklung zu einer nationalen Strategie und den Umweltschutz zu einem der Pfeiler der staatlichen Politik gemacht. Seit Mitte der 1990er Jahre, haben wir das Tempo beim Aufbau der notwendigen Infrastruktur für die Umwelt in unseren Städten beschleunigt, die Prävention gegen Umweltverschmutzung und die Kapazitäten zu ihrer Bekämpfung verbessert, haben mehr als 80.000 extrem umweltschädliche kleine Unternehmen geschlossen und das öffentliche Bewusstsein für Umweltfragen geschärft.






Beim Eintritt in das neue Jahrhundert sind wir entschlossen, zunächst die Verschmutzung zu bekämpfen und dann präventiv zu arbeiten, und wir sind bestrebt, eine ressourcenschonende und umweltfreundliche Gesellschaft aufzubauen. Eine umweltfreundliche Gesellschaft ist eine, in der die Menschen sich Produktionsmethoden und einen Lebensstil aneignen, die die harmonische Koexistenz von Mensch und Natur fördern. Seit 1978 hat China ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von rund 9,4 % aufzuweisen, verbunden mit einem bemerkenswerten Anstieg im Konsumniveau der Bevölkerung. Zur selben Zeit hat sich in einigen Städten und Regionen die Umweltqualität verbessert, die Emissionen der hauptsächlichsten Verschmutzer sind unter Kontrolle, wir haben internationale Abkommen zur Umwelt unterzeichnet, und die Teilnahme und das Interesse der Öffentlichkeit an Verbesserungen der Umweltqualität sind gestiegen.






Während dieser Zeitspanne haben unsere Anstrengungen zur Bewältigung von Umweltproblemen gezeigt, dass die chinesische Regierung eine verantwortungsbewusste Regierung ist, dass das chinesische Volk ein verantwortungsbewusstes Volk ist und dass Chinas Entwicklung verantwortungsbewusst vorangetrieben wird.






In den kommenden 15 Jahren wird die chinesische Bevölkerung weiter anwachsen, und die volkswirtschaftliche Produktion wird sich vervierfachen. Der Verbrauch natürlicher Ressourcen wird weiter zunehmen und noch größeren Druck auf die Umwelt erzeugen. Der kürzlich verabschiedete Vorschlag für den Elfjahresplan zur Volkswirtschaft und zur sozialen Entwicklung liefert eine Blaupause für die harmonische Entwicklung von Chinas Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt.






Die Erhaltung der Umwelt und die Durchsetzung einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung hängen von der Anstrengung sämtlicher Länder der Erde ab. In der Vergangenheit haben wir breite Unterstützung seitens vieler Industrieländer und durch die internationale Gemeinschaft erfahren. China ist bereit, große Anstrengungen zu unternehmen, um die fortgesetzte Zusammenarbeit für den Umweltschutz zu unterstützen, wozu auch die bilaterale Kooperation mit Industrie- wie auch Entwicklungsnationen gehört, wie etwa Indien, sowie mit internationalen Organisationen. Zusätzlich werden wir die Partnerschaften mit den Ländern des Südens verstärken, um unseren Teil zum schnellstmöglichen Erreichen der Millenium Development Goals beizutragen.






Ich freue mich sehr, dass Zur Lage der Welt 2006 die Herausforderungen und Aufgaben aufzeigt, denen China und Indien, ebenso wie die ganze Welt, sich gegenübersehen. Das hat uns sehr nachhaltig ins Bewusstsein gerufen, dass uns eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Strategien der nachhaltigen Entwicklung und beim Erreichen der Millenium Development Goals zufällt. Ich hoffe, dass die Industrieländer zu ihren Zusagen stehen und Fonds und Technologien zur Verffigung stellen, um die sich entwickelnden Länder im Kampf gegen Armut und Hunger sowie bei der Verbesserung der Umwelt und der nachhaltigen Entwicklung zu unterstützen. Das ist der Wunsch und die tiefste Sehnsucht der gesamten Menschheit.









Vorwort von Sunita Narain
(Direktorin des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt in Indien)






Jahre, bevor Indien unabhängig wurde, wurde Mahatma Ghandi eine einfache Frage gestellt: Sollte seiner Ansicht nach das freie Indien so „entwickelt“ sein wie das Land seiner Kolonialherren, Großbritannien? „Nein“, sagte Ghandi und setzte seinen Interviewer damit in Erstaunen, der argumentierte, Großbritannien sei das Modell, dem man nacheifern müsse. Ghandi antwortete: „Wenn Großbritannien die halbe Welt ausplündern musste, um dahin zu kommen, wo es heute ist, wie viele Welten würde Indien brauchen?“






Ghandis Weisheit ist auch für uns heute von Bedeutung. jetzt, wo Indien und China davorstehen, in die Liga der Reichen einzutreten, sollte die Sorge über ihr Wachstum uns nachdenklich machen. Nachdenklich nicht nur über die Auswirkungen, die diese bevölkerungsreichen Länder auf die Ressourcen dieser Erde haben, sondem von neuem – in der Tat: noch einmal von neuem – nachdenklich über das Paradigma ökonomischen Wachstums, das wesentlich bevölkerungsärmere Länder hervorgebracht hat, die die Ressourcen dieser einzigen Erde, die wir haben, plündern und auf ewig verschwinden lassen.






Wir wollen Klartext reden. Das westliche Wachstumsmodell, das Indien und China so fieberhaft nachzuahmen versuchen, ist in sich selbst krank. Es braucht riesige Ressourcen – Energie und Rohstoffe – und bringt enorm viel Abfall hervor. Die industriallsierte Welt hat gelernt, die negativen Folgen der Produktion von Wohlstand zu lindern, indem sie riesige Mengen an Geld investierte. Aber wir wollen auch klar sagen, dass es der industrialisierten Welt nie gelungen ist, diese Folgen wirklich zu beherrschen – sie bleibt meilenweit hinter den Problemen zurück, die sie selber schafft.






Nehmen wir zum Beispiel die Kontrolle der örtlichen Luftverschmutzung in den Städten der reichen Welt. Das wirtschaftliche Wachstum der Nachkriegszeit war begleitet von dem Kampf, in jeder Stadt die Verschmutzung in den Griff zu bekommen: von London über Tokio bis New York. Auf das wachsende Umweltbewusstsein der Bürger antwortete man, indem man in neue Technologien für Autos und Kraftstoff investierte. Mitte der 1980er Jahre zeigten die Indikatoren der Luftverschmutzung an – gemessen nach der Menge der in der Luft enthaltenen Partikel –, dass die Städte sauber waren. In den frühen 1990er Jahren aber hatte das wissenschaftliche Messen Fortschritte gemacht. Die Wissenschaftler stellten fest, dass das Problem nicht in der Summe aller Bestandteile der Luft bestand, sondern nur diejenigen betraf, die winzig waren und eingeatmet werden und so in die Lungen und den Blutkreislauf gelangen konnten. Der Hauptverursacher dieser kleinen Giftpartikel, dieser in der Luft schwebenden kleinen Teile, die man einatmen konnte, war Diesel als Kraftstoff in Automobilen. Also wurde die Fahrzeug- und Kraftstofftechnologie weiterentwickelt. Man reduzierte den Schwefel im Dieselkraftstoff und fand Wege, die Partikel im Fahrzeug gewissermaßen einzuschließen. Man glaubte, die Technologie der neuen Generation habe die Herausforderung besiegt.






Aber das ist nicht der Fall. Heute entdecken westliche Wissenschaftler, dass mit der Reduktion der Masse der Partikel durch die Technologie die Größe der Partikel reduziert, aber ihre Zahl erhöht wird – nicht verringert. Diese Partikel sind noch kleiner. Sie werden Nanopartikel genannt (gemessen nach Nanometern – ein Nanometer ist ein Millardstelmeter) und sind nicht nur schwierig zu messen, sondern können auch – das sagen die Wissenschaftler – noch tödlicher sein, weil sie mühelos die menschliche Haut durchdringen. Schlimmer noch: Auch wenn die Technologie die Partikel reduziert hat, so geschah das um den Preis einer zunehmenden Emission von ebenso giftigen Stickstoffoxiden durch diese Fahrzeuge.






Die industrialisierte Welt mag ihre Städte sauber bekommen haben, aber ihre Emissionen haben das gesamte Weltklima in Gefahr gebracht und Millionen von Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben, aufgrund des Klimawandels noch verwundbarer und ärmer gemacht. Mit anderen Worten, der Westen jagt nicht nur weiterhin hinter den Problemen her, die er selber schafft, er verlagert auch das Problem des ökonomischen Wachstums auf andere, die in einer weniger glücklichen Situation und weniger in der Lage sind, mit den Auswüchsen dieses Wachstums fertigzuwerden.






Eben dieses Wachstumsmodell möchte die arme Welt jetzt übernehmen. Und warum nicht? Die Welt hat keinen anderen Weg aufgezeigt, der funktionieren würde. In der Tat wird gepredigt, dass die Wirtschaft nur funktionieren kann, wenn sie nach neuen Lösungen für alte Probleme sucht. Man sagt uns, dass der Weg zur Schaffung von Wohlstand Fortschritt bedeutet, und man sagt uns, dass dieser Lebensstil nicht in Frage gestellt werden kann.






Aber ich glaube, dass die arme Welt einen besseren Weg einschlagen muss. Der Süden – Indien, China und die Nachbarn – hat keine andere Wahl, als die Flugbahn der Entwicklung neu zu berechnen. Als die industrialisierte Welt ihre intensive Wachstumsperiode durchlief, war ihr Prokopfeinkommen wesentlich höher als heute im Süden. Der Ölpreis war niedriger, was bedeutete, dass das Wachstum weniger kostete. Jetzt übernimmt der Süden dasselbe Modell: sehr kapitalintensiv und deshalb sozial spaltend; rohstoff- und enrgiereich und deshalb umweltschädlich. Aber der Süden verfügt nicht über die Kapazitäten, um die Investitionen tätigen zu können, die für soziale Gerechtigkeit und für Nachhaltigkeit erforderlich wären. Er kann die negativen Folgen des Wachstums nicht mildern. Das ist tödlich.






Bleiben wir beim Problem der Luftverschmutzung. Vor einigen Jahren plädierte die Organisation, bei der ich arbeite, dass die Stadt Delhi ihr öffentliches Transportsystern auf Gas umstellen sollte. Der Wechsel zum Gas würde einen technologischen Sprung bedeuten, und er würde die Emission von Partikeln drastisch reduzieren. Delhi hat heute die größte Busflotte der Welt sowie andere kommerzielle Transportmittel, die mit Gas betrieben werden. Das Ergebnis ist, dass die Stadt das Niveau ihrer Luftverschmutzung stabil hält, trotz der enormen Anzahl von Fahrzeugen, trotz schwacher Technologie und noch schwächerer Regulationssysteme zur Messung der Emission der einzelnen Fahrzeuge. Mit anderen Worten, Neu Delhi hat zur Kontrolle der Luftverschmutzung nicht den technologisch aufwendigen Weg eingeschlagen, der Autos nachrüstet und den Kraftstoff sauberer zu machen versucht. Und doch hat es unter den Gesichtspunkten der Technologie und des Wachstums einen Riesensprung gemacht.






Heute, bei einer noch immer steigenden Zahl privater Fahrzeuge, die die Straßen aller Städte verstopfen und die Lungen der Menschen vergiften, bleibt die Frage: kann die Stadt den Traum der Mobilität neu erfinden, so dass er nicht zum Albtraum wird? Kann sie für die Zukunft der Stadt neue Wege erschließen, die die Annehmlichkeiten der Mobilität und des wirtschaftlichen Wachstums mit den Erfordernissen der öffentlichen Gesundheit verbindet? Unter dem Paradigma des hybriden Wachstums – das das beste des Neuen mit dem Besten des Alten verbindet – würden Städte damit weitermachen, das öffentliche Verkehrssystern mit den fortgeschrittensten Technologien zu betreiben.






Mit anderen Worten, auch wenn überall auf der Welt nach kleinen Lösungen für die Luftverschmutzung und für die Übervölkerung gesucht wird, müssen wir die Antwort insgesamt neu erfinden. Im Fall der Wasserversorgung ist es dasselbe. Indien und China können es sich nicht leisten, Wasser zu verschwenden und dann erst effizient zu werden. Sie können es sich nicht leisten, erst die Luft zu verschmutzen und sie danach zu reinigen. Sie müssen das Wasserversorgungsparadigma neu erfinden – im Fall Indien heißt das, an die alte Tradition anzuknüpfen und Millionen lokaler und dezentraler Strukturen des Wassermanagements aufzubauen, um die Ressourcen zu mehren. Indien muss das Regenwasser sammeln, um seine Wasserreserven aufzubauen. Gleichzeltig muss es Anleihen bei der Zukunft machen und in Technologien der Wasserwirtschaft für das Recycling und den erneuten Gebrauch investieren. Es muss zum Beispiel das Abwasser-System neu strukturieren, das sowohl kapital- als auch rohstoffintensiv ist und das Wasser als Förderband und Weg der Abfallentsorgung nutzt; es kann sich nicht leisten, den Abfall zu klären, der heute seine Flüsse und Seen vergiftet. Wasser wird also darüber entscheiden, ob Indien reich wird oder arm bleibt. Um aber eine wasserreiche Zukunft zu sichern, braucht Indien Erfindergeist und Genie, nicht nur Geld und Technologie.






Die Frage ist jedoch, ob all das wirklich möglich ist. Denn schließlich: Wenn die reiche Welt keine Lösungen für die Probleme umweltschädlicher Entwicklung gefunden hat, warum sollte es der armen gelingen? Tatsache ist, dass die Umweltbewegungen der reichen Welt nach der Schaffung des Wohlstands entstanden sind, während der Zeit der Abfallproduktion. Sie kämpften für die Begrenzung und Beherrschung des Abfalls, waren aber nicht in der Lage, Argumente für ein neues Paradigma für die Abfallproduktion zu liefern. Dieses Umweltbewusstsein, das in Zeiten des Reichtums entstand, war nicht gezwungen, noch weiter zu gehen. Die Umweltbewegung im Süden wächst andererseits in einer Periode der Wohlstandsschaffung, inmitten enormer Ungleichheit und Armut. In dieser Umweltbewegung der relativ Armen sind die Antworten auf den Wandel schwer, ja unmöglich zu finden, solange nicht die Frage neu gestellt wird.






Es kann Veränderung geben. Aber dafür sind zwei Voraussetzungen unerlässlich. Die erste ist ein hohes Maß an Demokratie, damit die armen und marginalisierten Opfer überhaupt nach Veränderung rufen können. Es ist wichtig zu begreifen, dass die wichtigste Triebkraft des Umweltwandels in unseren Ländern nicht die Regierung ist, es sind nicht die Gesetze, Erlasse, Fonds oder die Technologie selber. Es ist die Fähigkeit der Menschen, ihre Demokratie zu „leben“. Aber Demokratie ist viel mehr als der Text einer Verfassung. Sie muss sorgfältig gehütet und gefördert werden, damit die Medien und die richterliche Gewalt und alle Organe der Regierungstätigkeit im öffentlichen und nicht im privaten (das heißt korporativen) Interesse entscheiden können. Ganz einfach gesagt, braucht diese Umweltbewegung der Armen mehr glaubhafte öffentliche Institutionen, nicht weniger.






Zweitens braucht der Wandel Wissen: neues und innovatives Denken. Diese Fähigkeit, anders zu denken, erfordert Mut und Selbstvertrauen, um die historische Tünche, die Arroganz der alten, etablierten, letztendlich nur übernommenen Ideen zu beseitigen. Ein Durchbruch, ein mentaler „Bocksprung“ ist es, was der Süden am nötigsten braucht. Die schädlichste Folge des gegenwärtigen industriellen Wachstums ist die: Sie hat die Planer des Südens in stumpfsinnige Geister verwandelt, die glauben, dass es keine Lösungen gibt. Sie glauben, dass es nur Probleme gibt, deren Antworten in den bewährten Antworten der reichen Welt liegen.






Das ist der Punkt, an dem die reiche Welt von Ghandi lernen muss. Sie muss lernen, dass sie nichts predigen kann, da sie nichts zu lehren hat. Sie kann aber, wenn sie dem Umweltbewusstsein der Armen folgt, lernen, die Ressourcen der Erde zu teilen, damit es für alle eine gemeinsame Zukunft gibt.


Siehe auch


Vorwort zur deutschen Ausgabe – mit PDF-Downloadmöglichkeit



epo – Entwicklungspolitik online



Zur Lage der Welt – Jahresberichte – Übersicht