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Claus Leggewie, Harald Welzer
Das Ende der Welt, wie wir sie kannten

Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie


Frankfurt am Main 2009 (Fischer); 278 Seiten; ISBN-10: 3100433114, ISBN-13: 978-3100433114






Im Hintergrund der Welt, wie wir sie kannten, türmen sich seit Jahrzehnten Megakrisen auf, die wir nur deshalb ignorieren können, weil unsere komfortablen Lebensumstände die Illusion befördern, alles werde schon irgendwie gut ausgehen. Tatsächlich signalisieren Klimawandel, schwindende Energieressourcen, Umweltverschmutzung, Ernährungskrisen und das Wachstum der Bevölkerung die Endlichkeit unseres Lebensstils. Wir erleben, wie unsere Lebensgewohnheiten die Funktionsgrenzen der kapitalistischen Wirtschaftsform überschreiten, und die Finanzkrise zeigt, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann und wird. Finanz- und Wirtschaftskrise, Klimawandel, schwindende Ressourcen und der Raubbau an der Zukunft der kommenden Generationen bilden einen sozialen Sprengstoff, der bald explodieren könnte.

Sind die Demokratien des Westens fähig, sich so zu modernisieren, dass sie zukunftsfähig werden? Ist es möglich, das erreichte Niveau dafür zu nutzen, eine Form des Wirtschaftens und Lebens zu entwickeln, die nicht auf Wachstum, sondern auf Gerechtigkeit und Lebensqualität setzt? Erst das Ende der Illusion, dass unser Erfolgsmodell auch unter den Bedingungen einer globalisierten Welt funktioniert, bietet Chancen auf eine Zukunft der Demokratie.

Die Autoren analysieren die Auswirkungen der sich auftürmenden Krisen des Kapitalismus und zeigen, wie die Demokratie in Gefahr gerät, wenn sie keinen Weg aus der Leitkultur der Verschwendung findet. Das Buch ist ein Plädoyer für eine Erneuerung der Demokratie von unten und eine Ermunterung für alle Initiativen, die andere Formen des Wirtschaftens und Lebens einüben und dabei nicht auf den Fetisch Wachstum, sondern auf Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit setzen.


Claus Leggewie


geboren 1950, Professor für Politikwissenschaft und Publizist, ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, wo er den Forschungsschwerpunkt KlimaKultur ins Leben rief. Von 1995 bis 1997 war er der erste Inhaber des Max-Weber-Chair an der New York University; er bekleidete Gastprofessuren an der Université Paris-Nanterre und am Institut für die Wissenschaften vom Menschen Wien und war 1999/2000 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin




Harald Welzer


geboren 1958, ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und lehrt Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdecke sowie an der Emory University Atlanta.


Inhaltsverzeichnis


Am Ende, oder: Klimawandel als Kulturwandel






Kapitel I: Die Krise verstehen, oder: die Grenzen eines kulturellen Modells




Nothing spezial. Über die Entwirklichung von Risiken




Biblische Plagen, kulminiert




Wider alle Evidenz




Der Klimawandel als kulturelles Problem




Peak Oil




Die Wälder sind gesund




Wie aus dem kritischen ein springender Punkt werden kann




Anna H. fragt, warum ihre Zukunft kolonialisiert wird




Horizontale Ungerechtigkeit




Wer »A« sagt, muss nicht »B« sagen




Zwei Grad plus




Wo wir stehen







Kapitel II: Denn sie tun nicht, was sie wissen. Warum Umweltbewusstsein und Handeln verschiedene Dinge sind




Kognitive Dissonanzen




Partikulare Vernunft




Kulturelle Verpflichtungen




Der Automann




Nachmittags Schwimmschule




Warum man warme Winter für normal hält




Warum wir uns nicht bewegt haben







Kapitel III: Business as usual. Zur Kritik der Krisenbewältigung




Marktversagen




Die politische Ökonomie des Klimaschutzes




Wachstum muss sein




Green Recovery, oder: Wird der Kapitalismus grün?




Demobilisierung: nicht Konjunkturspritzen, Konversionsprogramme!




Geo-Engineering: die Wunderwaffen im Klimakampf




Renaissance, oder: Abgesang der Staatlichkeit?




Die Dritte Industrielle Revolution




Wir sind das Volk







Kapitel IV: Demokratie unter Druck




Unzufriedene Demokraten




Demoautoritarismus




(Wie) Können Demokratien den Klimawandel bewältigen?




Last Exit Kopenhagen: Schwierigkeiten globalen Regierens




Über die Leitplanke




Die Alternative







Kapitel V: Die Große Transformation




Die Menschen wollen nicht verzichten: aus dem Wörterbuch des Unpolitischen




Verzicht als Gewinn




Andersherum. Frau K.’s Haushaltsverstand




Spaß am Widerstand, oder: Kann man die neue Welt auch kaufen?




Menschen werden Bürger




Empowerment und Resilienz




Eine Kultur der Achtsamkeit




Resilienz lernen




Selbst-Helfer




Wie Basisinitiativen die Klimapolitik in Bewegung bringen




Dunbars Numbers. Die neue Übersichtlichkeit




Seltsame Bündnispartner im Klimakampf




Wegen Klima auf die Barrikaden?




Utopia.de




Frau K. hat keine Wahl




APO 2.0, oder: Bürger auf die Barrikaden!







Wer ist wir? Eine Geschichte über sich selbst erzählen






Anmerkungen, Literatur, Danksagung



Personenregister, Sachregister


Leseprobe


Am Ende, oder: Klimawandel als Kulturwandel






It's the end of the world as we know it. (R.E.M.)






Weltuntergang? Nein, nicht die Welt gerät aus den Fugen, wie man in letzter Zeit lesen konnte, wohl aber die Strukturen und Institutionen, die der Welt, wie wir sie kannten, Namen und Halt gaben: kapitalistische Märkte, zivilisatorische Normen, autonome Persönlichkeiten, globale Kooperationen und demokratische Prozeduren. Als moderne Menschen sind wir gewohnt, linear und progressiv zu denken – nach vorne offen. Sicher gab es auf dem Weg von Wachstum und Fortschritt Zäsuren und Rückschläge, aber unterm Strich ging es immer weiter aufwärts. Die Denkfiguren von Kreislauf und Abstieg gerieten in Misskredit, Endlichkeit wurde undenkbar.






Das war die Welt, wie wir sie kannten: Märkte expandierten über ihre periodischen Krisen hinweg in eine gefühlte Unendlichkeit, Staaten sicherten die soziale Ordnung und den Weltfrieden, der flexible Mensch verwandelte Naturgefahren per Technik und Organisation in beherrschbare Risiken. Nur manchmal und dann vorübergehend schien die Leitidee des Fortschritts außer Kraft gesetzt zu sein. Selbst ein Zivilisationsbruch wie der Holocaust und ein Völkermord wie in Darfur konnten die Grundüberzeugung nicht erschüttern, auf dem besten aller Wege zu sein. Globale Mobilität und Kommunikation machten die Welt klein und zugänglich, auch die Demokratie vollendete 1989 ihren Siegeszug. Die Welt wurde uns damit immer bekannter.






Dass sie so, wie wir sie kannten, nicht mehr wiederzuerkennen ist, liegt nicht an der Natur, die bei aller Gesetzlichkeit immer Sprünge gemacht hat, sondern an dem von Menschen verursachten Wandel des Klimas. Das Weltklima kann an tipping points mit unkalkulierbarer Dynamik gelangen und umkippen, wenn nicht rasch – genau genommen: im kommenden Jahrzehnt – radikal anders gewirtschaftet und umgesteuert wird. Die kurze Spanne bis 2020 – nur zwei, drei Legislaturperioden, einen kurzen Wirtschaftszyklus, zwei Sommerolympiaden weiter – entscheidet über die Lebensverhältnisse künftiger Generationen.






Damit ist eine Perspektive der Endlichkeit in den linearen Fortschritt eingezogen, die dem modernen Denken fremd, geradezu ungeheuerlich ist. Risiken verwandeln sich zurück in Gefahren. Nicht nur die Rohstoffe sind endlich, mit ihnen könnten auch die großen Errungenschaften der westlichen Moderne zur Neige gehen, als da sind: Marktwirtschaft, Zivilgesellschaft und Demokratie. Der Klimawandel ist somit ein Kulturwandel und ein Ausblick auf künftige Lebensverhältnisse. Das meint nicht »in the year 2525«, es betrifft eine überschaubare Zeitgenossenschaft. Wer 2010 zur Welt kommt, kann das Jahr 2100 noch erleben; ohne rasches und entschlossenes Gegensteuern wird die globale Durchschnittstemperatur dann um vier bis sieben Grad Celsius gestiegen sein und unsere Nachkommen eine Atemluft vorfinden, wie sie heute nur in engen und stickigen Unterseebooten herrscht.






Während wir – das sind in diesem Fall die Bewohnerinnen und Bewohner der Länder des atlantischen Westens – noch glauben, das Zentrum der Weltgesellschaft zu bilden und ihre Zukunft nach Belieben gestalten zu können, driften wir längst aus diesem Zentrum heraus, und andere Mächte rücken in die Mitte. Der wirtschaftliche und machtpolitische Einflussgewinn von Ländern wie China, Indien, Brasilien, Russland wird sich trotz ihrer aktuellen Probleme fortsetzen, und auch andere werden dieser Aufstiegsbewegung folgen. Die Figuration der Weltgesellschaft verändert sich und damit die Rolle, die wir in ihr spielen. Und Probleme, die vorerst nur die europäische Peripherie – Island, Lettland oder Ungarn – plagen, zeigen dem Zentrum seine eigene Zukunft.






Unser Selbstbild und unser Habitus sind, nach 250 Jahren überlegener Macht, Ökonomie und Technik, noch an Verhältnisse gebunden, die es so gar nicht mehr gibt. Dieses Nachhinken unserer Wahrnehmung und unseres Selbstbildes hinter der Veränderungsgeschwindigkeit einer »globalisierten Welt« findet sich auch auf anderen Ebenen unserer Existenz – etwa in Bezug auf die Energie-, Umwelt- und Klimakrisen. Obwohl es nicht den geringsten Zweifel daran gibt, dass die fossilen Energien endlich sind und die zunehmende Konkurrenz um Ressourcen bei gleichzeitigem Rückgang der verfügbaren Mengen zuerst zu Konflikten, wahrscheinlich auch Kriegen führen wird und dann zu einer Welt ohne Öl, pflegen wir politische Strategien und Lebensstile, die für eine Welt mit Öl entwickelt worden sind. Während das Artensterben in beispielloser Geschwindigkeit voranschreitet, die Meere radikal überfischt und die Regenwälder gerodet werden, wird unser Handeln von der Vorstellung geleitet, es handele sich dabei um reversible Prozesse. Die Zerstörung wird mit illusionären Korrekturvorstellungen bemäntelt, und trotz der Evidenz des Klimawandels bleibt das Gros der Politiker – das gängige Krisenmanagement zeigt es – auf kurzatmige und illusionäre Reparaturziele fixiert. Wer im Blick auf Quartalsbilanzen und Wahltermine vor allem Arbeitsplätze in scheiternden Industrien bewahren will, betreibt eine Politik von gestern.






Die Geschichte kennt Beispiele von Zivilisationen, die länger erfolgreich waren als die Kultur des Westens. Sie sind untergegangen, weil sie an Strategien, die für ihren Erfolg und Aufstieg gesorgt hatten, unter veränderten Umweltbedingungen zäh festgehalten haben. ›Was mag‹, fragte Jared Diamond, ›derjenige gedacht haben, der auf der Osterinsel den letzten Baum gefällt und damit den unaufhaltsamen Untergang einer 700 Jahre lang erfolgreichen Kultur besiegelt hat? Wahrscheinlich, dass Bäume schon immer gefällt wurden und dass es völlig normal sei, wenn auch der Letzte fällt.‹ Wir sind alle Osterinsulaner: Würde man nach einer schlichten Überlebensregel selbstverständlich davon ausgehen, in einem Jahr nur soviel an Ressourcen zu verbrauchen, wie die Erde per annum zur Verfügung stellen kann, dann müssten wir diese Jahresration auf 365 Tage verteilen und dürften sie nicht vor dem 31. Dezember ausgeschöpft haben. Der Tag, an dem man so zu rechnen begann, war Silvester 1986, der erste Earth Overshoot Day. Nur zehn Jahre später wurden bereits 15 Prozent mehr des Jahresbudgets verbraucht, der Scharniertag fiel also in den November, und 2008 war dieser Zeitpunkt bereits am 23. September erreicht.






Bei Fortschreibung des aktuellen Verbrauchs wird das Budget 2050 schon nach sechs Monaten aufgezehrt sein. Wir hängen keinen romantischen Naturvorstellungen an, aber solche scheinbar naiven Rechnungen entlarven den vermeintlichen Realismus, der den frivolen Zukunftsverbrauch der kapitalistischen Wachstumsökonomie auszeichnet. An dem waren eben nicht nur gedankenlose Banker beteiligt. Die größte Massenbewegung nach dem »Ausbruch« der Finanzkrise im September 2008 war der Ansturm auf die Showrooms der Autohäuser, um die Abwrackprämie kassieren zu können.






Gerade in Deutschland dreht sich alles um einen Industriezweig, der in Zukunft gar nicht mehr die Rolle spielen darf, die er in der Vergangenheit einmal hatte. Wer die Automobilindustrie päppelt (und dann auch noch mit so unsinnigen Maßnahmen wie mit einer Verschrottungsprämie), gibt für Überlebtes Geld aus, das für die Gestaltung einer besseren Zukunft nicht mehr verfügbar ist. Solche Rettungspläne folgen der Auto-Suggestion, eine Welt mit mehr als neun Milliarden Bewohnern könnte so aussehen wie Europa heute, mit achtspurigen Straßen und ausufernden Parkplätzen.






Wir müssen heraus aus den Pfadabhängigkeiten und Vergleichsroutinen. Die akute Weltwirtschaftskrise wird mit der Großen Depression der 1930er Jahre verglichen und überschreitet bereits deren Parameter! Doch das verkennt noch den Ernst der Lage. Die Welt durchlebt nicht nur eine historische Wirtschaftskrise, ihr steht auch die dramatischste Erwärmung seit drei Millionen Jahren bevor. Es mag sich bombastisch oder alarmistisch anhören: Aber die Große Transformation, die ansteht, gleicht in ihrer Tiefe und Breite historischen Achsenzeiten wie den Übergängen in die Agrargesellschaft und in die Industriegesellschaft.






Der Klimawandel ist deswegen ein Kulturschock, weil es immer schwieriger wird, zu ignorieren, wie stark sich unsere Wirklichkeit bereits verändert hat und wie sehr sie sich noch verändern muss, um zukunftsfähig zu sein. Was Techniker decarbonization (Entkohlung) nennen und Ökonomen als Low Carbon Economy (karbonarme Wirtschaft) ausmalen, kann nicht auf die Veränderung einiger Stellschrauben der Energiewirtschaft beschränkt bleiben – 80 Prozent unseres komfortablen Lebensstils ruhen auf fossilen Energien. Am Horizont der Großen Transformation steht eine postkarbone Gesellschaft mit radikal veränderten sozialen, politischen und kulturellen Parametern.






Eine Gesellschaft, die die Krise verstehen und meistern will, kann sich nicht mehr auf Ingenieurskunst, Unternehmergeist und Berufspolitik verlassen (die alle gebraucht werden), sie muss – das ist die zentrale These unseres Buches – selbst eine politische werden: Eine Bürgergesellschaft im emphatischen Sinn, deren Mitglieder sich als verantwortliche Teile eines Gemeinwesens verstehen, das ohne ihren aktiven Beitrag nicht überleben kann. Auch wenn diese Zumutung so gar nicht in die Zeit hineinzupassen scheint: Die Metakrise, mit der wir zu kämpfen haben, fordert mehr, nicht weniger Demokratie, individuelle Verantwortungsbereitschaft und kollektives Engagement.






Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie: Unser Buch verbindet eine auf aktuelle Daten gestützte Zeitdiagnose mit einem wirklichkeitsnahen Politikentwurf. Wir sind keine Klimaforscher im herkömmlichen Sinne, nehmen den Klimawandel aber als eine Heuristik künftiger Kulturverhältnisse, als ein Findbuch guten Lebens. Kultur ist eine Antwort auf drei Fragen: wie die Welt im Inneren beschaffen ist, wie sie sein soll und wie sie vermutlich werden wird. Im ersten Kapitel stellen wir die Gründe und Ausmaße der aktuellen Metakrise dar, deren bloße Ausrufung noch nicht zu einem Kurswechsel führt, eher zu Verleugnung und Resignation. Im zweiten Kapitel beschreiben wir die Kluft zwischen Wissen und Handeln – warum Menschen nicht tun, was sie wissen, sondern sich lieber an die »Zuständigen« wenden, an Markt, Technik und Staat. Im dritten Kapitel tragen wir dazu eine Kritik des laufenden Krisenmanagements vor, das sich auf überholte Instrumente verlässt und in alten Mustern verharrt. Im vierten Kapitel behandeln wir den Wettstreit autoritärer und demokratischer Ansätze zur Überwindung der globalen Krise, und im Schlusskapitel loten wir die Chancen einer Demokratisierung der Demokratie aus.






Das ist alles andere als ein Weltuntergangsszenario. Wir wünschen uns Leserinnen und Leser, die froh sind, die alte Welt hinter sich lassen zu können, und die an der Gestaltung einer besseren mitwirken wollen. Denn bei aller Absturzgefahr bieten Wirtschaftskrise und Klimawandel Spielräume für individuelles Handeln, für demokratische Teilhabe und globale Kooperation. Diesem Großexperiment unter Zeitdruck ist alle Welt unfreiwillig, aber wissend ausgesetzt.