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Ilya Prigogine / Isabelle Stengers
Dialog mit der Natur

Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens


München 1981 (Piper), 314 Seiten; ISBN 3-492-02532-3






Die Naturwissenschaft im 20. Jahrhundert – vor allem die Entwicklung der Elementarteilchenphysik, der Astrophysik und der Molekularbiologie – hat unsere Einsichten in das Wesen der Natur von Grund auf verändert. Dabei ist uns jedoch kaum bewußt geworden, daß diese neuen Entwicklungen auch alle seit den Anfängen der modernen Wissenschaft etablierten Ideen in Frage stellen: die Vorstellungen über den Begriff der Ordnung, der Zeit, über die Gesetze der Natur und das Erkenntnisideal, das die Wissenschaft anstreben kann.

Ilya Prigogines und Isabelle Stengers »Dialog mit der Natur« schildert informativ und dramatisch die Geschichte dieser Infragestellung. Das Buch setzt ein mit dem Triumph der klassischen Naturwissenschaft als der Quelle aller wissenschaftlichen Erkenntnis. Es zeigt, in welchem kulturellen Umfeld und durch welche theoretischen Erkenntnisse das Bild vom »Automaten« Natur und des außerhalb der natürlichen Welt stehenden, gleichsam allwissenden Menschen entstehen konnte. Die Einsicht des Industriezeitalters in die Endlichkeit natürlicher Reserven bedeutete eine erste Herausforderung dieser überkommenen Vorstellungen.

Die jüngsten Entwicklungen in der Thermodynamik – die Entdeckung von dissipativen Strukturen und die Untersuchung der Instabilität in offenen Systemen – veranlassen uns, der Natur ihre Erfinderkraft wieder zuzugestehen. Jetzt tritt die Zeit in allen Ebenen der Beschreibung auf und mit ihr die unübersehbare Vielfalt von Entwicklungsphänomenen und Prozessen der Selbstorganisation. Die Quantenmechanik, die veränderte Konzeption der Dynamik und die Thermodynamik machen einsichtig, daß wissenschaftliche Erkenntnis den Menschen in die Welt, die er erforscht, unwiderruflich einbeziehen muß.

Damit entsteht ein neues Verhältnis von Mensch und Natur, das uns auch zur Überwindung des klassischen Gegensatzes von Natur und Kultur und der sie behandelnden Wissenschaften führt. Es muß demnach zu einem neuen Dialog zwischen Mensch und Natur kommen, gerade zu einem Zeitpunkt, an dem die wissenschaftliche Entwicklung und die menschliche Zukunft schicksalhaft miteinander verknüpft sind. Dazu beizutragen ist das Anliegen dieses Buches.


Ilya Prigogine


geboren 1917 in Moskau, seit 1951 Professor für Physikalische Chemie an der Freien Universität Brüssel, zahlreiche Gastprofessuren in den USA, ab 1967 auch Direktor des Center for Statistical Mechanics and Thermodynamics an der University of Texas, Austin. 1977 erhielt er den Nobelpreis für Chemie. Gestorben 2003 in Brüssel.




Isabelle Stengers


geboren 1949 in Brüssel. Diplom in Chemie und Philosophie. Wissenschaftliche Mitarbeiterin von Ilya Progogine


Inhaltsverzeichnis


Einleitung: Die Herausforderung an die Wissenschaft






Teil I – Die Faszination des Universalen






Kapitel I: Das Projekt der modernen Wissenschaft



1. Der neue Moses



2. Eine entzauberte Welt



3. Die Newtonsche Synthese



4. Der experimentelle Dialog



5. Der Ursprungsmythos der Wissenschaft



6. Die Grenzen der klassischen Wissenschaft






Kapitel II: Feststellung des Wirklichen



1. Die Gesetze Newtons



2. Bewegung und Veränderung



3. Die Sprache der Dynamik



4. Der Laplacesche Dämon






Kapitel III: Die zwei Kulturen



1. Diderot und der Diskurs des Lebenden



2. Kants kritische Ratifikation



3. Eine Philosophie der Natur? Hegel und Bergson



4. Prozeß und Realität: Whitehead



5. „Ignoramus, ignorabimus“: Der Kehrreim der Positivisten



6. Ein Neubeginn






Teil II – Die Wissenschaft vom Komplexen






Kapitel IV: Die Energie und das industrielle Zeitalter



1. Die Wärme als Rivalin der Gravitation



2. Das Prinzip der Erhaltung der Energie



3. Wärmekraftmaschinen und der Pfeil der Zeit



4. Von der Technik zur Kosmologie



5. Die Geburt der Entropie



6. Das Boltzmannsche Ordnungsprinzip



7. Carnot und Darwin






Kapitel V: Die drei Stufen der Thermodynamik



1. Fluß und Kraft



2. Die lineare Thermodynamik



3. Fern vom Gleichgewicht



4. Jenseits der Schwelle der chemischen Instabilität



5. Die Begegnung mit der Molekularbiologie



6. Verzweigungen und Bruch der Symmetrie



7. Verzweigungs-Kaskaden und der Übergang zum Chaos



8. Von Euklid zu Aristoteles






Kapitel VI: Ordnung durch Schwankungen



1. Zwischen Chaos und Ordnung



2. Das Gesetz der großen Zahlen



3. Strukturstabilität



4. Populationsdynamik, die logistische Gleichung



5. Auslese durch Konkurrenz



6. Zufall und Notwendigkeit



7. Die zwei Gesellschaftsformen



8. Zwei Wissenschaften für eine einzige Welt?






Teil III – Vom Sein zum Werden






Kapitel VII: Der Zusammenprall der Doktrinen



1. Boltzmanns Durchbruch



2. Dynamik und Thermodynamik: Zwei getrennte Welten



3. Gibbssche Ensembles



4. Die subjektivistische Interpretation der Irreversibilität






Kapitel VIII: Die Erneuerung der zeitgenössischen Wissenschaft



1. Einfachheit des Mikroskopischen?



2. Das Ende der Universalität: Die Relativitätstheorie



3. Das Ende des Galileischen Objekts: Die Quantenmechanik



4. Die Heisenbergsche Unschärferelation



5. Die stille Welt der Quantenmechanik



6. Zeit und Messung






Kapitel IX: „Zeit – das unzerstörbare Grundgewebe“



1. Was ist Zeit?



2. Die Grenzen der klassischen Begriffe



3. Die Erneuerung der Dynamik



4. Eine zweite Zeit



5. Von der Dynamik zu den Wahrscheinlichkeiten



6. Ein partizipatorisches Universum



7. Können wir die Zeit anhalten?



8. Der Pfeil der Zeit und die Einheit der Natur..






Ausklang: Von der Erde zum Himmel



1. Eine offene Wissenschaft



2. Jenseits der Tautologie



3. Zeit und Zeiten



4. Ein Strudel in einer turbulenten Natur



5. Die Erneuerung der Natur






Anmerkungen



Verzeichnis der Schlüsselbegriffe



Namenregister


Leseprobe


Einleitung: Die Herausforderung an die Wissenschaft






1.






Es ist kaum übertrieben, wenn man den 28. April 1686, an dem Newton seine Principia der Royal Society in London vorlegte, als einen der größten Tage in der Geschichte der Menschheit bezeichnet. Sie enthielten die Grundgesetze der Bewegung und eine klare Formulierung der fundamentalen Begriffe, die wir heute noch benutzen, wie etwa Masse, Beschleunigung und Trägheit. Den größten Eindruck machte wohl das Buch Ill der Principia, »The System of the World«, welches das universelle Gesetz der Gravitation enthielt. Newtons Zeitgenossen erkannten sofort die überragende Bedeutung dieses Werkes. Die Gravitation wurde sowohl in London als auch in Paris zu einem Gegenstand der Konversation.






Kunst und Literatur sind universell. Es ist nicht möglich, zwischen einer chinesischen oder einer impressionistischen Landschaftsmalerei oder zwischen den Epen der Inder und Homer zu wählen; dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Wissenschaft im modernen Sinne aus der abendländischen Welt hervorgegangen ist.






Drei Jahrhunderte sind inzwischen seit Newtons Principia verflossen. Die Wissenschaft hat sich unglaublich rasch entwickelt und durchdringt unser aller Leben. Unser wissenschaftlicher Horizont hat sich zu einem wahrhaft phantastischen Umfang erweitert. Im mikroskopischen Bereich untersucht die Elementarteilchenphysik Prozesse, bei denen es um physikalische Dimensionen in der Größenordnung von 10 hoch -15 cm und um Zeiten in der Größenordnung von 10 hoch -12 sec geht. Auf der anderen Seite führt uns die Kosmologie bis hin zu Zeiten von der Größenordnung von 10 hoch 10 Jahren, zum sogenannten »Alter des Universums«. Wissenschaft und Technik hängen so eng wie nie zuvor zusammen. Neue Biotechnologien und Fortschritte in der Informationsverarbeitung versprechen, das Leben unserer Gesellschaft radikal zu verändern.






Mit diesem quantitativen Wachstum gehen qualitative Veränderungen einher, deren Auswirkungen weit über die Wissenschaft im engeren Sinne hinausreichen und unser Bild der Natur unmittelbar beeinflussen. Die großen Begründer der abendländischen Wissenschaft betonten Universalität und den ewigen Charakter der Naturgesetze. Ihnen ging es um die Formulierung allgemeiner Schemata, die geradezu mit der Definition der Rationalität identisch sein sollten. In der Einleitung zu Berlins Against the Current ist es sehr schön ausgedrückt: »Sie suchten nach allumfassenden Schemata, nach universellen einheitlichen Rahmen, innerhalb derer gezeigt werden konnte, daß alles, was existiert, systematisch – d. h. logisch oder kausal – miteinander verknüpft ist, sie suchten nach umfassenden Strukturen, in denen es für spontane, unerwartete Entwicklungen keine Lücken geben sollte, in denen alles, was geschieht, zumindest im Prinzip vollkommen durch unwandelbare allgemeine Gesetze erklärbar sein sollte.«






Es ist eine dramatische Geschichte. Es gab in der Tat Augenblicke, als dieses ehrgeizige Programm kurz vor seiner Vollendung zu stehen schien. Einer dieser Augenblicke war etwa die Formulierung von Bohrs berühmtem Atommodell, das die Materie auf einfache Planetensysteme aus Elektronen und Protonen reduzierte. Ein anderer Moment von großer Spannung verband sich mit Einsteins Versuch, sämtliche Gesetze der Physik zu einer einzigen »einheitlichen Feldtheorie« zu kondensieren. Dieser gigantische Traum ist heute gescheitert. Wohin wir auch blicken, finden wir Entwicklung, Diversifikation und Instabilitäten. Das gilt interessanterweise für alle grundlegenden Ebenen – im Bereich der Elementarteilchen, in der Biologie und in der Astrophysik, die uns ein expandierendes Universum und die Entwicklung von Sternen zeigt, welche in der Bildung von Schwarzen Löchern kulminiert.






Das Bild der Natur hat sich grundlegend geändert – hin zum Mannigfaltigen, zum Zeitbedingten, zum Komplexen. Diese neue, in der Geschichte der Wissenschaft beispiellose Situation möchten wir in dieser Monographie untersuchen.






In der klassischen Wissenschaft lag der Akzent auf den zeitunabhängigen Gesetzen. Sobald die Anfangsbedingungen gegeben sind, bestimmen diese ewigen Gesetze für alle Zeiten die Zukunft, so wie sie die Vergangenheit bestimmt haben. Eine solche Sicht weckt unsere Begeisterung, denn sie besagt, daß die Welt für den menschlichen Geist intelligibel ist. Und dennoch wirft sie ein Problem auf, denn die auf diese Weise enträtselte Welt erscheint als ein Automat, als ein Roboter.






Eines der Motive, die hinter dem Werk der kritischen Atomisten, hinter dem Werk eines Demokrit, eines Epikur oder Lukrez stehen, war bekanntlich der Wunsch, die Menschen von der Furcht, von der Furcht vor dem Unbekannten, vor dem Zorn der Götter zu befreien. Wieder und wieder betont Lukrez, daß wir nichts zu befürchten hätten, daß die Welt nichts anderes sei als »Atome« und »Leere«. Wir müßten, sagt er, die Täuschungen unserer Sinnesorgane überwinden, um tiefer in den Sinn der Wirklichkeit einzudringen: »Damit du nun aber nicht meinen Worten zu mißtrauen beginnst, weil wir die Urkörper nicht mit den Augen sehen können, höre nun auch noch von anderen Körpern, von denen du sicher zugestehen mußt, daß sie in den Dingen vorhanden sind und doch nicht gesehen werden können.«






Diese Beschreibung der physikalischen Welt, die nur Atome und die Leere kannte, ließ jedoch ein anderes Problem entstehen, das Lenoble als die »Angst des modernen Menschen« bezeichnet hat: Wie können wir uns selbst in der zufälligen Welt der Atome wiedererkennen? Beinhaltet die Wissenschaft einen Bruch zwischen dem Menschen und der Natur? »Alle Körper, das Firmament, die Sterne, die Erde und ihre Königreiche wiegen nicht den geringsten der Geister auf, denn er erkennt das alles und sich selbst; aber die Körper erkennen nichts.« Dieser Gedanke von Pascal drückt jenes Gefühl der Entfremdung aus, das wir ebenfalls bei einem so hervorragenden Wissenschaftler wie Monod antreffen: »... der Mensch (muß) endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.«






Needham hat betont, daß das abendländische Denken immer geschwankt hat zwischen der Vorstellung einer Welt, die ein Automat ist, und einer Theologie, nach der Gott über das Universum herrscht. Needham nennt dies »die eigentümliche europäische Schizophrenie«. Stehen wir tatsächlich vor dieser tragischen Alternative? Müssen wir wählen zwischen einer Wissenschaft, die zur Entfremdung führt, und einer antiwissenschaftlichen, metaphysischen Naturauffassung? Ziel dieses Buches ist es, zu zeigen, daß eine solche Wahl nicht länger nötig ist, daß die Veränderungen, die sich heute in der Wissenschaft vollziehen, zu einer grundlegend neuen Situation hinführen. Das Interesse der Wissenschaft verlagert sich vom Einfachen zum Komplexen. Der Glaube an die Einfachheit der mikroskopischen Welt wurde erschüttert. Diese Veränderung läßt uns neue Begriffe und neue Methoden erkennen.






Arthur Eddington hat in seinem schönen Buch The Nature of the Physical World zwischen primären und sekundären Gesetzen unterschieden. Die »primären Gesetze« kontrollieren das Verhalten einzelner Teilchen, und die »sekundären« Gesetze sind auf Gesamtheiten von Atomen oder Molekülen anzuwenden. Ein hervorragendes Beispiel für ein sekundäres Gesetz ist der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der den Begriff der Entropie einführt. Eddington schreibt: »Vom Standpunkt der Philosophie der Wissenschaft aus muß die mit der Entropie verknüpfte Konzeption meines Erachtens als der große Beitrag des 19. Jahrhunderts zum wissenschaftlichen Denken betrachtet werden. Sie bedeutete eine Abkehr von der Auffassung, daß alles, was die Wissenschaft beachten müsse, durch eine mikroskopische Zerlegung der Objekte entdeckt wird.« Eddington weist nach unserer Auffassung auf etwas sehr Wichtiges hin.






Sicherlich bestehen einige der größten Erfolge der modernen Wissenschaft in Entdeckungen auf der mikroskopischen Ebene, auf der Ebene der Moleküle, Atome oder Elementarteilchen. Die Molekularbiologie hat beispielsweise mit ungeheurem Erfolg spezifische Moleküle isoliert, die im Mechanismus des Lebens eine wesentliche Rolle spielen. Dieser Erfolg war in der Tat so überwältigend, daß das Ziel der Forschung für viele Wissenschaftler jene »mikroskopische Zerlegung der Objekte« wurde, von der Eddington spricht. Doch seit der Formulierung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik im 19. Jahrhundert ist die Tendenz zur Erforschung komplexer Systeme weiter fortgeschritten. Heute schließlich können wir in gewisser Vereinfachung sagen, daß unser Interesse sich von der Substanz auf die Beziehungen, auf die Kommunikation, auf die Zeit verlagert. Diese neuere Entwicklung der Wissenschaft bietet uns die einzigartige Gelegenheit, die Stellung der Wissenschaft innerhalb der allgemeinen Kultur neu zu bestimmen. Die moderne Wissenschaft ist im spezifischen Kontext des europäischen 17. Jahrhunderts entstanden. Wir nähern uns nun dem Ende des 20. Jahrhunderts, und es scheint, daß die Wissenschaft eine universalere Botschaft enthält, eine Botschaft, bei der es um die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur und um die Wechselwirkung zwischen Mensch und Mensch geht. Das vorliegende Buch möchte zu einer Klärung dieser neuen Botschaft beitragen.






2.






Wie ist es zu dem Dilemma gekommen, das wir im vorigen Abschnitt beschrieben haben? Wie kam es, daß ein glänzender Durchbruch in der Molekularbiologie, die Entschlüsselung des genetischen Codes, bei Monod mit einem tragischen Ton endet? Gerade dieser Fortschritt macht uns, so heißt es dort, zu den Zigeunern des Universums. Diese Aussage enthält eine seltsame Paradoxie. Ist die Wissenschaft nicht eine Art von Kommunikation, ein Dialog mit der Natur? In der Geschichte der Ideen treffen wir häufig auf die nachdrücklichste Unterscheidung zwischen der von Menschen geschaffenen und der von Gott geschaffenen Welt. Sehr eindringlich wird das in einer berühmten Passage der Neuen Wissenschaft von Vico beschrieben: »Doch in dieser Nacht voller Schatten, die für unsere Augen das entfernteste Altertum bedeckt, erscheint das ewige Licht, das nicht untergeht, von jener Wahrheit, die man in keiner Weise in Zweifel ziehen kann: daß diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist: Und darum können (denn sie müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muß jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der Welt der Natur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben, nachzudenken über die Welt der Nationen, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben.«






Die Unterscheidung zwischen der Natur und dem Menschen kann jedoch keine so absolute sein. Neuere Untersuchungen an einfachen Organismen, wie etwa den Akresin-Amöben, haben gezeigt, daß bereits aufgrund von lokalen chemischen Wechselwirkungen ein kollektives Verhalten möglich ist. Was den Mechanismus der Chemotaxis betrifft, der die Bewegungen der einfachsten Bakterien lenkt, so kann er mit der Existenz verschiedener Rezeptoren auf der Außenmembran der Bakterien in Zusammenhang gebracht werden, die es dem Bakterium ermöglichen, das äußere Medium zu erkunden und sich in die Richtung zu bewegen, in der es erwartet, reichlichere Nahrung zu finden. Leben wäre nicht möglich ohne eine aktive Wechselwirkung zwischen dem Lebendigen und der Natur, die es umgibt.






Die Befragung der Natur nimmt die unterschiedlichsten Formen an. Sumer hatte die Schrift entdeckt; die sumerischen Priester kamen auf die Idee, daß die Zukunft auf eine verborgene Weise in den um uns stattfindenden Ereignissen niedergeschrieben sein könnte. Sie versuchten sogar, diesen Glauben zu systematisieren, und vermischten dabei auf eigentümliche Weise magische und rationale Elemente. Insofern können wir sagen, daß die im 17. Jahrhundert begründete abendländische Wissenschaft nur ein neues Kapitel in dem unaufhörlichen Dialog zwischen dem Leben und seiner Umwelt eröffnet. Alexandre Koyré hat die Neuerung, welche die moderne Wissenschaft mit sich brachte, im »Experiment« gesehen. Danach beruht die moderne Wissenschaft auf der Entdeckung einer neuen und spezifischen Form der Kommunikation mit der Natur, nämlich auf der Überzeugung, daß die Natur auf die experimentelle Fragestellung wahrheitsgemäß antwortet. Wie kann man den experimentellen Dialog definieren? Er schließt sowohl ein Begreifen als auch ein Verändern ein. Experimentieren bedeutet nämlich nicht nur, daß die Tatsachen, so wie sie sind, getreulich beobachtet werden, noch bedeutet es, nur nach empirischen Zusammenhängen zwischen den Phänomenen zu suchen, sondern es setzt eine systematische Wechselwirkung zwischen theoretischen Begriffen und Beobachtungen voraus. Wir werden noch auf die Einzelheiten dieses systematischen Bemühens zurückkommen, mit dem die Natur provoziert werden soll, unzweideutig zu sagen, ob sie einer bestimmten Annahme gehorcht oder nicht.






In vielfältigster Weise haben Wissenschaftler ihr Entzücken darüber geäußert, daß sie, nachdem sie die »richtige« Frage herausgefunden hatten, entdecken konnten, wie das Puzzle sich zusammenfügt. In diesem Sinne gleicht die Wissenschaft einem Spiel zwischen zwei Partnern, bei dem wir das Verhalten einer Realität zu erraten haben, die sich nicht unseren Glaubensvorstellungen, Ambitionen und Hoffnungen fügt. Man kann die Natur nicht zu jeder beliebigen Aussage zwingen. Die wissenschaftliche Forschung ist kein Monolog. Gerade das damit verbundene Risiko macht das Spiel auf einzigartige Weise spannend...






Aber die abendländische Wissenschaft ist mit diesen methodologischen Überlegungen noch bei weitem nicht erschöpft. Selbst Karl Popper, der sich um eine normative Beschreibung der wissenschaftlichen Rationalität bemühte, mußte zugeben, daß die rationale Wissenschaft ihre Existenz letzten Endes ihrem Erfolg verdankt: Die Eignung der wissenschaftlichen Methode beruht allein auf den erstaunlichen Übereinstimmungen, die sie zwischen unseren theoretischen Hypothesen und den experimentellen Antworten entdeckt. Zwar ist die Wissenschaft ein riskantes Spiel, doch scheint sie Fragen entdeckt zu haben, auf welche die Natur in konsistenter Weise antwortet. Dieser Erfolg der abendländischen Wissenschaft stellt eine historische Tatsache dar, die a priori nicht vorherzusehen war, die aber, nachdem sie eingetreten ist, nicht mehr umgangen werden kann. Der erstaunliche Erfolg der modernen Wissenschaft hat somit in irreversibler Weise unser Verhältnis zur Natur verändert. Insofern darf man durchaus von einer »wissenschaftlichen Revolution« sprechen. Gewiß gibt es in der Geschichte der Menschheit auch andere einzigartige Situationen, in denen ein Zusammentreffen von Umständen zu einer irreversiblen Veränderung geführt hat. Ein solcher einzigartiger Vorgang ist die neolithische Revolution. Während wir aber hier wie im Hinblick auf die »Entscheidungssituationen« der biologischen Evolution nur Vermutungen anstellen können, sind wir bei der wissenschaftlichen Entwicklung in der glücklichen Lage, daß ihre entscheidenden Episoden dokumentiert sind.






Die neolithische Revolution dauerte Tausende von Jahren. Die wissenschaftliche Revolution hat erst vor drei Jahrhunderten begonnen. Sie liefert uns ein einzigartiges Beispiel für eine gut dokumentierte Reihe von Ereignissen mit jener eigentümlichen Mischung aus »Zufälligkeit« und »Notwendigkeit«, die wohl jeden Aspekt der Geschichte charakterisiert. Die bewundernswerte Leistung der klassischen Wissenschaft bestand darin, daß sie eine neue Rationalität hervorbrachte, die uns einen Hinweis auf die Intelligibilität der Natur gab. Die Wissenschaft leitete einen erfolgreichen Dialog mit der Natur ein, dessen Ergebnis jedoch recht überraschend war. Sie enthüllte dem Menschen eine tote, passive Natur, eine Natur, die sich wie ein Automat verhielt, der, wenn er einmal programmiert worden ist, in alle Ewigkeit den in seinem Programm niedergelegten Regeln folgt. In diesem Sinne hat der Dialog mit der Natur den Menschen von der Natur isoliert, statt ihn ihr näherzubringen. Manche, darunter Pascal und Monod, den wir bereits zitiert haben, sahen in dieser von der Wissenschaft »entdeckten« Einsamkeit den Preis, den wir für diese neue Rationalität zu zahlen hatten.






Das war ein bedrückendes Dilemma. Die moderne Wissenschaft erschreckte sowohl ihre Gegner, die in ihr ein unannehmbares und bedrohliches Wagnis sahen, als auch manche ihrer Anhänger, wie etwa Monod. Es ist in der Tat sehr merkwürdig, daß aus einem der größten Erfolge der menschlichen Vernunft eine traurige Wahrheit wurde. Man meinte, daß die Wissenschaft alles, was sie berührt, entzaubere. Aber die Wissenschaft von heute ist nicht mehr diese »klassische« Wissenschaft. Man hat die Hoffnung aufgegeben, alle Naturvorgänge unter eine kleine Zahl von »ewigen« Gesetzen zusammenzufassen. Die Naturwissenschaften beschreiben heute ein zersplittertes Universum, das reich an qualitativen Unterschieden und potentiellen Überraschungen ist. Wir haben entdeckt, daß der Dialog mit der Natur nicht mehr bedeutet, von außen einen entzauberten Blick auf eine mondartige Wüste zu werfen, sondern vielmehr, eine komplexe und vielfältige Natur an Ort und Stelle nach ausgewählten Gesichtspunkten zu erforschen.






Diese Veränderung des Blickwinkels beruht nicht auf einer willkürlichen Entscheidung. In der Physik wurde sie uns aufgezwungen durch neue Entdeckungen, die niemand hätte vorhersehen können. Wer hätte erwartet, daß die meisten Elementarteilchen sich als vergängliche Wesen erweisen würden, die sich dauernd verwandeln? Wer hätte erwartet, daß mit der Ausdehnung des Universums die Geschichte auf dem Niveau des Weltganzen Einzug hält? Auf verschiedenen Wegen – von den jüngsten Entdeckungen der Physik und Biologie bis zu den raschen demographischen Veränderungen unseres Jahrhunderts – bildet sich eine neue Naturauffassung heraus. Damit setzt sich in gewissem Sinne eine Tendenz fort, die im 19. Jahrhundert einsetzte. Darwin lehrte uns, daß der Mensch in die biologische Evolution eingebettet ist; Einstein lehrte uns, daß wir in ein sich entwickelndes Universum eingebettet sind. Die Lehre Darwins bedeutet, daß wir mit allen Formen des Lebens zusammenhängen; das expandierende Universum bedeutet, daß wir mit dem gesamten Kosmos zusammenhängen.






3.






Es ist für die klassische Wissenschaft bezeichnend, daß sie – aus Gründen, die wir schon genannt haben – zwiespältig von der Gesellschaft aufgenommen wird: Sie kann Begeisterung und heroische Bejahung der harten Implikationen der Rationalität hervorrufen, aber auch heftige Ablehnung und Feindseligkeit. Auf die wissenschaftsfeindlichen Strömungen von heute werden wir noch zurückkommen. Ein Beispiel aus der Vergangenheit bietet die irrationalistische Strömung im Deutschland der zwanziger Jahre, die den kulturellen Hintergrund der Quantenmechanik bildete. Gegen eine Wissenschaft, die mit Begriffen wie Kausalität, Gesetzmäßigkeit, Determinismus, Mechanizismus und Rationalität verknüpft wurde, führte man mit Leidenschaft Ideen ins Feld, die von der Wissenschaft geleugnet und damals als Verkörperung einer grundlegenden Irrationalität der Natur aufgefaßt wurden. Leben, Schicksal, Freiheit und Spontaneität wurden zu Manifestationen einer dunklen Tiefe, die sich der Vernunft entzieht. Ohne näher auf den gesellschaftlich-politischen Hintergrund einzugehen, der sie so einflußreich und so heftig werden ließ, kann man sagen, daß diese Ablehnung der rationalen Wissenschaft die Gefahren verdeutlicht, die mit der klassischen Wissenschaft verbunden sind. Wenn die Wissenschaft Erfahrungen, die für die Menschen bedeutsam sind und sich mit Begriffen wie Freiheit, Schicksal oder Spontaneität verknüpfen, außer acht läßt, kann es geschehen, daß diese Begriffe dem Bereich des Irrationalen zugeschlagen werden und dann eine furchterregende Macht entfalten.






Welche sind die Annahmen der klassischen Wissenschaft, von denen wir glauben, daß die Wissenschaft sich heute von ihnen befreit hat? Sie gehen im wesentlichen auf die grundlegende Überzeugung zurück, das Mikroskopische sei einfach und von einfachen mathematischen Gesetzen beherrscht. Das erscheint uns heute als eine irreführende Idealisierung. Ähnlich würde man verfahren, wenn man Gebäude auf Konglomerate von Ziegelsteinen reduzierte; dabei können wir aus denselben Ziegelsteinen eine Fabrik, einen Palast oder eine Kathedrale bauen. Nur auf der Ebene des Gebäudes als Ganzem erkennen wir die Wirkung der Zeit, des Stils, in dem das Gebäude entworfen wurde.






Wir stoßen hier wieder auf eine Dichotomie, die wir in der ganzen Geschichte des abendländischen Denkens antreffen. Nur die unveränderliche Welt der Ideen galt, um mit Platon zu sprechen, als »von der Sonne des Intelligiblen beschienen«. Im gleichen Sinne galten nur die ewigen Gesetze als Ausdruck der Rationalität der Wissenschaft. Das Zeitliche wurde als Illusion verachtet. Das ist heute nicht mehr der Fall. Wir haben entdeckt, daß die Irreversibilität, weit davon entfernt, eine Illusion zu sein, eine wesentliche Rolle in der Natur spielt und vielen Prozessen spontaner Selbstorganisation zugrunde liegt. Wir wissen heute, daß die Selbstorganisation von Lebensvorgängen wahrscheinlich auf derartigen Prozessen beruht. Wir finden uns in einer Welt des Zufalls wieder, einer Welt, in der Reversibilität und Determinismus nur für einfache Grenzfälle gelten, während Irreversibilität und Unbestimmtheit die Regel sind.






4.






Gegenstand unseres Buches ist dieser Begriffswandel der Wissenschaft vom Goldenen Zeitalter der klassischen Wissenschaft bis zur Gegenwart. Es handelt sich also weder um eine Enzyklopädie noch um eine Popularisierung. Über so faszinierende Anwendungen der Theorie wie in der Astrophysik oder in der Elementarteilchenphysik wird man kaum etwas finden. Die Relativitätstheorie wird nur gestreift. Das beruht auf einer bewußten Entscheidung. Wir sind – wie alle Wissenschaftler dieser Generation – fasziniert von diesen Fragen und den neuen Erkenntnissen, die um sie herum erwachsen. Unser Thema ist indessen der Dialog des Menschen mit der Natur. Hier stoßen wir auf Probleme, die zu unserer, der makroskopischen Welt gehören, einschließlich der Welt der Moleküle, speziell der Biomoleküle, und der Atome. Die Probleme der Elementarteilchen oder der Astrophysik, bei denen es um ganz andere Größenordnungen geht, liegen uns dagegen ferner. Daß Neuentwicklungen auf diesen Gebieten die Probleme, um die es im vorliegenden Buch geht, zumindest in absehbarer Zeit beeinflussen werden, ist kaum anzunehmen. Wir wollen also die Bedeutung von drei Jahrhunderten wissenschaftlicher Entwicklung von einem bestimmten Standpunkt aus untersuchen, der uns begreifen läßt, wie die Wissenschaft, ursprünglich ein integraler Bestandteil der »klassischen Kultur«, sich allmählich öffnete, so daß sie heute ganz andersartige Fragestellungen in sich aufnehmen kann.






Sicherlich enthält unsere Materialauswahl ein subjektives Element. Der zentrale Begriff dieses Buches ist das Problem der Zeit und ihrer Beziehung zur Komplexität. Dieses Problem steht tatsächlich im Mittelpunkt der Forschungen, die einer der Autoren sein ganzes Leben lang betrieben hat. Als er als junger Mann an der Universität Brüssel zum erstenmal mit Physik und Chemie in Berührung kam, war er erstaunt, wie wenig die Wissenschaft über die Zeit zu sagen hatte, denn in seinem Bildungsgang war es bis dahin vor allem um Geschichte und Archäologie gegangen. Dieses Erstaunen hätte zu zwei Einstellungen führen können, die wir beide in der Vergangenheit antreffen: entweder das Problem auszuklammern, da in der klassischen Wissenschaft für die Zeit kein Platz zu sein schien, oder im Gegenteil nach einer anderen Naturauffassung zu suchen, in der die Zeit eine wesentliche Rolle spielen würde. Diesen Weg hatten, um nur zwei Philosophen zu nennen, Bergson und Whitehead gewählt. Die erste Einstellung hätte man, wie es häufig geschieht, als positivistisch, die letztere als metaphysisch bezeichnet.






Es gab jedoch noch einen dritten Weg: zu untersuchen, ob die Einfachheit jener Art von zeitlicher Entwicklung, wie sie traditionell in der Physik und der Chemie betrachtet wurde, nicht darauf beruhte, daß man sich hauptsächlich auf mikroskopische Elemente konzentrierte, die Idealisierungen sind. Hier müssen wir wieder an die Analogie zu den Ziegelsteinen und Kathedralen denken und an die bereits zitierte Unterscheidung Eddingtons zwischen primären und sekundären Gesetzen. Wenn wir ein Gas betrachten, das nach und nach eine gleichförmige Temperatur erreicht, werden wir nur dann auf die Rolle der Zeit stoßen, wenn wir das System als ganzes, das aus einer großen Gesamtheit von Molekülen besteht, betrachten. Das einzelne, für sich genommene Molekül verändert sich während des Vorgangs nicht.






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