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Für
einen Fortschritt, der dem Leben dient! |
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(1)
Der Fortschritt unserer menschlichen Zivilisation dient nicht mehr
dem Leben. Die Lebensfreundlichkeit der Erde hat abgenommen. Ein
großes Artensterben ist im Gange. Dieses Artensterben ist eine
Folge unseres Fortschritts. Wir Menschen, vor allem die besonders
fortgeschrittenen in den reichen Ländern, sind es, die so viele
andere Arten verdrängen und die Lebensfreundlichkeit der Erde
verringern.
(2) Vor etwa 12 000 Jahren endete die letzte
Eiszeit. Die Erde erwärmte sich innerhalb weniger Jahrtausende
um rund fünf Grad Celsius, nicht immer stetig, sondern mit
teilweise abrupten Schwankungen von mehreren Grad in wenigen
Jahrzehnten. Dann aber blieb das Klima einigermaßen stabil, es
schwankte nur noch wenig. Damit begann das Holozän, das „ganz
neue“ Erdzeitalter. Unsere Vorfahren, als Jäger und
Sammler gut an die Eiszeit angepasst, entwickelten sich weiter zu
Bauern und Hirten, bildeten immer größere arbeitsteilige
Gemeinschaften bis hin zur modernen Industriegesellschaft, wurden
immer zahlreicher und bearbeiteten ihre natürlichen
Lebensgrundlagen mit immer stärkerer Wirkkraft. Heute staunen
wir über die Entwicklung: Alles in allem hat unser Fortschritt
in dieser ganzen Zeit immer weiter und immer schneller „aufwärts“
geführt.
(3) Doch sogar das „ganz neue“
Zeitalter ist alt geworden. Wir leben jetzt im Anthropozän, im
Zeitalter des Menschen. Unsere Aktivitäten dominieren, prägen
und belasten den gesamten Planeten. Dabei wollten wir Menschen nichts
anderes, als unsere Lebensverhältnisse verbessern. Und das taten
wir, immer erfolgreicher. Immer raffinierter. Immer kultivierter. Und
mit immer mehr Energie. Aus dem Verbessern wurde ein Ausbeuten der
Natur, und weil wir immer mehr geworden sind, treten wir uns auch
gegenseitig immer mehr auf die Füße. Unsere Rangeleien und
Streitereien um Jagdgründe, Weiden, Reviere und Beute, um
Rohstoffe und Märkte wurden ebenfalls immer raffinierter und
kultivierter, das kriegerische Töten und Zerstören immer
effektiver. Unser Fortschritt treibt jetzt so viel Neues hervor wie
noch nie, aber auch immer mehr Risiken und unerwünschte
Nebenwirkungen. Unsere Gesamtlage wird unsicherer. Der Weg „weiter
so“ scheint eher „abwärts“ zu führen.
(4)
Lange Zeit hat der Fortschritt für uns Menschen – genauer:
für einen Teil von uns – „aufwärts“
geführt zu immer besseren Lebensverhältnissen. Manche
Gewinner schwärmen immer noch, dass es uns heute so gut geht wie
noch nie in der Geschichte. Das mag in gewisser Weise und für
einen Teil von uns im Augenblick noch stimmen, ändert aber
nichts an der Gesamtlage: Wir stehen vor einem Abgrund, vor
ökologischen und gesellschaftlichen Krisen von beispiellosen
Ausmaßen. Das Anthropozän beginnt mit einer globalen
Krise.
(5) Krise heißt nicht Untergang. Krise heißt:
Entscheidung
(6)
Die Lebensverhältnisse auf der Erde werden sich in den kommenden
Jahrhunderten wahrscheinlich deutlich über die Schwankungsbreite
der vergangenen 12 000 Jahre hinaus verändern. Die Folgen
für die irdische Lebensgemeinschaft, insbesondere auch für
die Menschengemeinschaft, sind ungewiss, aber wahrscheinlich eher
ungemütlich. Manches scheint jetzt auf der Kippe zu stehen. Das
Erdklima könnte in überraschend kurzer Zeit unumkehrbar in
einen sehr ungewohnten neuen Zustand kippen. Denn das Erdklima ist
ein komplexes dynamisches System, das sich innerhalb gewisser Grenzen
selbst organisiert und über lange Zeit stabilisiert, aber in
einen anderen Zustand kippen kann, wenn es durch irgend eine
Entwicklung über diese Grenzen hinausgedrängt wird. Und das
Erdklima ist selbst nur ein Untersystem des gesamten Erdsystems. Die
gesamte lebendige Natur ist ein überaus komplexes
Kreislaufsystem mit vielen Untersystemen, darunter die menschliche
Zivilisation. Und das Klimasystem ist nicht das einzige, das durch
die Menschheit zum Kippen gebracht werden könnte. Wir wissen von
anderen biogeochemischen Kreisläufen, die wir stark belasten,
aber welche Kreisläufe wir insgesamt schon aus ihrem 12 000
Jahre lang bewährten Schwankungsbereich hinausgedrängt
haben, wissen wir nicht. Wir können die neuen Ausschläge
nicht sicher vorhersagen. Wir können jedoch mit großer
Sicherheit annehmen, dass der Einfluss der Menschheit auf das
Erdsystem ausschlaggebend ist, also entscheidend.
(7)
Wir Menschen sind zu den Anführern der irdischen Evolution
geworden, dabei aber offenbar selbst in eine Art Falle geraten, in
eine Zwickmühle der Evolution. Nun heißt es, diese Falle
zu verstehen, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.
Entscheidend wird sein, wie wir den Verlauf der Evolution und die
Bedingungen für einen wünschenswerten Fortschritt in
unserem kollektiven Bewusstsein abbilden. Das Entscheidende geschieht
jetzt in unseren Köpfen und Seelen.
(8) Die
Einschätzungen der globalen Lage gehen weit auseinander. Manche
Zeitgenossinnen und Zeitgenossen halten die Rede von der globalen
Krise für unnötige Panikmache, sie sehen gar keine Falle;
die auftauchenden Probleme würden vielleicht größer,
sagen sie, aber größer würden auch unsere
Fähigkeiten, sie nacheinander zu lösen. Andere glauben,
dass es gar nichts mehr zu entscheiden gäbe: Das Verhängnis
nähme seinen Lauf und sei nicht mehr aufzuhalten. Die meisten
von uns hoffen, dass sich das Gute letztlich mit nüchternem
Realismus und gesundem Menschenverstand durchsetzen lässt.
Manche hoffen auf einen mächtigen Gott, der alles in der Hand
hält und allem einen Sinn gibt.
Ökologie,
Politik und System-Logik
Drei
Komponenten der globalen Krise
(9)
Es ist sinnvoll, drei Aspekte oder Komponenten der globalen Krise zu
unterscheiden: den ökologischen, den soziologischen und den
systemlogischen. Denn jeder dieser Aspekte erfordert einen
Paradigmenwechsel und ein Lernziel seiner eigenen Art.
(10)
Ökologisch
geht es um den Haushalt der
Natur, der ein vollkommenes Kreislaufsystem darstellt, in dem als
Abfall nur Wärme übrigbleibt, die in den dunklen Weltraum
abgestrahlt werden kann. – Das
Problem: Die
biologisch überaus erfolgreiche Spezies Mensch überweidet
ihr Biotop und richtet es dabei zugrunde. Die Spezies Mensch wird
durch malignes Wachstum zum Parasiten am Organismus „Gaia“.
– Ursache:
Wir sind gewöhnt an
eine „unendlich weite Welt“, an die Möglichkeit,
immer neue „Weiden“ zu erschließen und zu
kolonisieren. Jetzt stoßen wir an die Grenzen dieser Welt. –
Nötiger
Paradigmenwechsel: Wir
müssen „Gaia“
als einen Organismus und
uns selbst als Teil dieses komplexen, aber global begrenzten
Kreislaufsystems des Lebens verstehen lernen. – Lernziel:
Ein angemessener Umgang mit
unseren Lebensgrundlagen.
(11)
Soziologisch
geht es um die gelingende
menschliche Gemeinschaft, die nie ganz fertig, sondern immer in
Entwicklung ist, weil auch sie einer Evolution unterliegt. Sie muss
immerzu nachgebessert werden durch Bemühungen, die wir „Politik“
nennen; so gesehen könnten wir diesen Krisenaspekt auch den
politischen nennen. – Das
Problem: Die
sozialen Kompetenzen der Menschen genügen nicht den neuen
Anforderungen einer globalen Gemeinschaft. Gruppeninteressen
verhindern die Lösung gemeinsamer Probleme. – Ursache:
Wir sind gewöhnt an
kleine, überschaubare Gemeinschaften, die sich voneinander
abgrenzen und miteinander konkurrieren. – Nötiger
Paradigmenwechsel: Wir
müssen uns als Teil einer globalen Menschengesellschaft
verstehen lernen. – Lernziel:
Ein
angemessener Umgang mit unseresgleichen.
(12)
Systemlogisch
geht es um die Komplexität
der Problemlage, die uns offensichtlich zunehmend über den Kopf
wächst. – Problem:
Unsere Bemühungen, die
ökologischen und gesellschaftlichen Probleme zu lösen, sind
wenig erfolgreich. Es sieht so aus, als würden die Probleme, mit
denen wir konfrontiert sind, an Zahl und im Ausmaß unaufhaltsam
zunehmen, weil wir ihnen mit unseren Problemlösungsstrategien
nicht mehr hinterherkommen. – Verdacht:
Unsere
Problemlösungsstrategien sind nicht angemessen. –
Vermutete
Ursache: Unsere
gewohnte Art der Problembewältigung, ja unsere ganze Art,
Fortschritt zu betreiben, verstößt gegen wesentliche
logische Bedingungen für einen dauerhaft „aufwärts“
führenden Fortschritt innerhalb des komplexen Kreislaufsystem
des irdischen Lebens. Wir sind dieser Art des Fortschritts gefolgt,
weil uns das allerlei kurzfristige Vorteile einbrachte. Jetzt stellt
sich heraus, dass diese Art des Fortschritts langfristig in eine
Krise führt. Jetzt sieht es so aus, als hätte die Evolution
uns in eine Falle laufen lassen. – Der nötige
Paradigmenwechsel wird
somit darin bestehen, von den kurzfristigen Erfolgsbedingungen auf
die langfristigen umzuschalten. Dazu müssen wir diese
langfristigen Bedingungen erst einmal identifizieren. Dazu wiederum
müssen wir uns mit einigen Eigenschaften komplexer Systeme
vertraut machen. – Lernziel:
Ein angemessener Umgang mit
Komplexität.
Irgendwie
wird alles immer komplizierter
Komplexität,
Kompliziertheit und das Zeitproblem
(13)
Die globale Krise wird in der öffentlichen Wahrnehmung
hauptsächlich als ein Raum-
und Ressourcenproblem
gesehen: Wir Menschen sind
sehr viele geworden und überlasten unser irdisches Biotop –
der Platz reicht nicht mehr für alle, zumindest nicht für
alle Ansprüche, die wir an unseren Lebensraum stellen. Wir
betreiben Raubbau an unseren Lebensgrundlagen und wissen nicht mehr,
wohin mit unseren zahllosen Abfallprodukten, die nicht in die
natürlichen Kreisläufe passen. Wir haben ein ökologisches
Problem, weil wir die planetaren Belastungsgrenzen überschreiten,
und wir haben ein soziales Problem, weil die hohe Bevölkerungsdichte,
also der mangelnde Lebensraum, unsere eigene Gemeinschaftsfähigkeit
überlastet. Der systemlogische Aspekt der Krise enthält
aber auch ein Zeitproblem.
Dem wird jedoch bis dato
viel zu wenig Bedeutung zugemessen.
(14) Ein Zeitproblem ist
uns allen zwar irgendwie bekannt, aber gewöhnlich wird es als
ein psychologisches angesehen, als ein Problem der individuellen
Lebensführung, das durch „Anti-Stress-Strategien“
und durch ein besseres „Zeitmanagement“ zu lösen
ist, oder als ein Problem älterer Menschen, die im modernen
Leben nicht mehr mitkommen. Tatsächlich geht es hier aber um ein
viel umfassenderes, nämlich um ein systemisches Problem sowohl
der menschlichen Gesellschaft als auch der irdischen
Lebensgemeinschaft.
(15) Das Zeitproblem entsteht aus der
hohen globalen Innovationsgeschwindigkeit. Unser Fortschritt, vor
allem der technische, verändert unsere Welt im ganzen so
schnell, dass wir die Folgen immer weniger kontrollieren können,
weil uns immer weniger Zeit bleibt, aus unseren Fehlern zu lernen. So
verwickeln und verheddern wir Menschen uns durch den beschleunigten
globalen Fortschritt immer mehr in der Komplexität der
Wirklichkeit, wodurch diese für uns immer komplizierter
wird.
(16) Geklagt wird häufig über die zunehmende
Komplexität
der Zusammenhänge. Es
ist im wesentlichen aber gar nicht die Komplexität,
die zunimmt, sondern die Kompliziertheit.
Diesen Unterschied gilt es
zu verstehen.
(17) Das Komplexitätsniveau der Biosphäre
ist durch die menschliche Weltgesellschaft zwar erheblich
angewachsen, doch undurchschaubar komplex war das Kreislaufsystem des
Lebens schon lange bevor die Spezies Mensch so folgenreich
eingegriffen hat. Als wir Menschen erschienen und uns daran machten,
unsere Lebensbedingungen zu verbessern, war die Komplexität der
Biosphäre überhaupt kein Problem für uns. Das war
Gaia,
die unsere Lebensgrundlagen bereitstellte, die Mutter Erde, die für
uns sorgte. Das war das Netz, das uns trug. Da funktionierte alles
auch ohne uns. Die Regeln, nach denen alles funktionierte, waren
eingespielt und bewährt über Jahrmillionen. Jetzt, im
Anthropozän, stellen wir Menschen ganz neue Regeln auf und
setzen sie durch mit großer Energie. Aber gut eingespielt sind
immer weniger dieser Neuerungen, weil für den Bewährungsprozess
immer weniger Zeit bleibt. Und so verwickeln wir uns in dem Netz, das
uns bisher getragen hat.
(18)
Wir sind also auf eine doppelte Weise in eine evolutionären
Falle geraten: (a) Durch unsere große Zahl und unseren Raubbau
an den Ressourcen sind wir zu Parasiten an unserem Wirtsorganismus
Erde geworden; (b) durch die hohe Geschwindigkeit des globalen
Fortschritts drängen wir die bisher gut funktionierende
Komplexität unseres irdischen Daseins immer weiter aus den
eingespielten Kreisläufen und Fließgleichgewichten, so
dass der Fortschritt immer instabilere Verhältnisse erzeugt. Die
Grenzen des Wachstums sind also nicht nur quantitativ nach den
irdischen „Vorräten“ zu bemessen. Wir müssen
auch über die Komplexität der Welt reden und über die
Dynamik des Fortschritts.
Die
neue Ernüchterung
Drei
beachtenswerte Binsenweisheiten
(19)
Die
Wirklichkeit ist überaus komplex
– die
ihr innewohnenden Möglichkeiten sind nicht überschaubar.
Komplexität
bedeutet, dass in Wirklichkeit alles sehr verflochten ist. „Alles“,
das sind die unzähligen Gestalten und Wechselwirkungen, diese
unzähligen „Realitäten“, deren Gesamtheit wir
„Wirklichkeit“ nennen. Realitäten kennen wir aus
Erfahrungen, eigenen oder berichteten. Davon können wir
erzählen. Und aus unseren Erzählungen bilden wir unsere
Vorstellungen von der Wirklichkeit als ganzer, von ihrer Ordnung und
ihrem tieferen Sinn. Tatsächlich ist es aber unmöglich, die
ganze Wirklichkeit zu überschauen, weil die Realitäten, aus
denen sie besteht, zahllos sind. Deshalb ist es auch unmöglich
für uns, die gesamte Wirklichkeit in unserem Bewusstsein
abzubilden oder gar zu berechnen.
(20) Als „nüchterne
Realisten“ kennen wir sehr viele reale Gegebenheiten und
Zusammenhänge und wissen daraus gut begründete Schlüsse
zu ziehen. Wir nennen dieses Vorgehen intelligent
und rational.
Es hat sich erstaunlich gut
bewährt und uns die Vorstellung vermittelt, wir könnten mit
Hilfe unserer Intelligenz die Wirklichkeit unter Kontrolle bringen,
wenn wir die Analyse der Gegebenheiten und Zusammenhänge nur
weit genug trieben. Da haben wir uns aber offenbar verrannt: Dieser
Realismus bedarf einer neuen Ernüchterung, der Einsicht nämlich,
dass die Analyse niemals vollständig sein kann und das Gewusste
immer
nur ein kleiner Teil der
Wirklichkeit ist – und gewiss nicht der allein
ausschlaggebende.
(21)
Die
Wirklichkeit ist eine Werdende
– voller
Dynamik. Warum?
Weil sie voller Energie ist. Nach
unserem bisherigen Wissen
über das Universum ging dieses hervor aus einem singulären
Zustand, in dem alles Eins war und voller Energie. Daraus entstand
jener Prozess, den wir jetzt als kosmische Evolution von Energie und
Materie in Raum und Zeit erleben. Die Welt ist ein Energiefluss, sie
zappelt im Raum der Möglichkeiten und muss sich weiter
entwickeln, bis alle Energie zerstreut ist (oder sich vielleicht
alles aufs neue zusammenballt). In einem Energiefluss entstand und
entwickelt sich auch die belebte Natur auf unserer Erde.
(22)
Dadurch, dass das System Gaia
immerzu mit Energie
versorgt wird und seine Entropie an den Weltraum abgeben kann, ist es
in der Lage, sein eigenes Komplexitätsniveau zu steigern. Wir
nennen das Wertschöpfung. Das System lernt, indem es sehr vieles
ausprobiert und das behält, was sich bewährt. Das ist
logisch: Was sich nicht bewährt, kann sich nicht halten. Übrig
bleiben neben starren statischen Gebilden auch dauerhafte, sich
selbst erhaltende, fehlerfreundliche dynamische Gestalten, die bis zu
einem gewissen Grad in der Lage sind, Störungen zu kompensieren:
Lebewesen.
(23)
Die
Wirklichkeit ist voller Überraschungen
– wie
das Wetter. Die
Algorithmen, mit denen die Meteorologen das Wetter vorausberechnen,
liefern schon nach wenigen Durchläufen stark abweichende
Ergebnisse, wenn die eingegebenen Daten nur geringfügig
voneinander abweichen. Deshalb ist die Prognose nur für wenige
Tage im Voraus einigermaßen zuverlässig. Und dies gilt
ganz allgemein für das Verhalten eines komplexen
dynamischen Systems. Sehr kleine Einflüsse, nicht erfassbare
Unwägbarkeiten, können überraschend schnell große
Auswirkungen haben und ausschlaggebend werden – z.B. durch
Aufschaukelung (positive Rückkopplung) oder an Kipp-Punkten. Der
Zusammenhang zwischen der Stärke eines Impulses und der Größe
seiner Auswirkungen ist in einem komplexen dynamischen System nicht
linear. Das Verhalten eines Systems und seine Weiterentwicklung kann
daher jederzeit eine überraschende Wendung nehmen.
(24)
Ernüchterndes Fazit: Wenn wir versuchen wollen, die Zukunft auf
wünschenswerte Weise mitzugestalten, reicht es nicht, Daten zu
sammeln und Algorithmen damit zu füttern. Wir müssen die
Komplexität in unser Kalkül mit aufnehmen. Wir müssen
mit dem nicht-berechenbaren rechnen. Das heißt:
fehlerfreundlich bleiben.
Das
Wunder der Schöpfung
Vier
bewährte Prinzipien der natürlichen Wertschöpfung
(25)
Nichts bleibt auf Dauer wie‘s ist. Alles ist vergänglich.
Sogar Gebirge werden aufgeworfen und abgetragen. Nicht einmal die
Kontinente bleiben, wo sie sind, nicht einmal die Sonne wird bleiben.
Trotzdem empfinden wir die Welt meist als beständig, verlässlich
und heimatgebend. Zwei Gründe dafür liegen auf der Hand.
Erstens:
Die unterschiedlichen
Zeitskalen. Vieles verändert sich so langsam, dass wir es auf
unserer menschlichen Zeitskala gar nicht mitkriegen. Zweitens:
Viele Veränderungen,
die wir mitkriegen, verlaufen in Zyklen, wie etwa die Tageszeit, die
Jahreszeit oder das Werden und Vergehen von Lebewesen. Zyklisches
Geschehen ist weitgehend vorhersehbar, wir erleben eine stabile,
verstehbare Ordnung darin, auch wenn diese Ordnung kleinen
Schwankungen unterliegt und sich durchaus allmählich – auf
einer größerer Zeitskala – verändert.
Zyklisches Geschehen ist es, womit auch das Leben auf der Erde
beginnt.
(26)
Der
Kreislauf – Alle
lebenden Organismen sind Kreislaufsysteme, also zyklisch organisierte
Gestalten. Materie und Energie werden aufgenommen und in Kreisläufen
verarbeitet; umgewandelte Materie und Entropie werden wieder
ausgeschieden. Bereits in einer lebenden Zelle hat die zyklische
Organisation einen hohen Komplexitätsgrad erreicht. Die Logik,
nach der sich das zyklische Geschehen bewährt, ist aber einfach:
Ein Zyklus kann ja immer wieder von vorne beginnen. Wenn er sich
durch geeignete Regelkreise selbst aufrecht erhalten kann, wird er
zur Urgestalt des Dauerhaften.
(27) Um sich selbst aufrecht zu
erhalten, ist ein lebendiges Kreislaufsystem auf stetige Stoff- und
Energiezufuhr angewiesen und auch darauf, dass entwertete
Stoffwechselprodukte wieder ausgeschieden werden. Ein dynamisches
System, das sich selbst aus einem Stoff- und Energiedurchlauf
organisiert und im Fließgleichgewicht hält, nennen wir ein
dissipatives System. Einfachste Systeme solcher Art sind der
Wasserstrudel oder die Kerzenflamme. Ein lebender Organismus ist ein
sehr komplexes dissipatives System. Die Biosphäre als ganze ist
ein dissipatives System: Sie nimmt verwertbare Energie überwiegend
aus der Sonneneinstrahlung auf und gibt Entropie in Form von Wärme
an den Weltraum ab. Ihr Stoffwechsel garantierte bis vor kurzem, dass
alle Ausscheidungen eines Organismus durch andere Organismen
verwertet werden konnten. Wir moderne Menschen stören diese
Kreislaufwirtschaft nicht nur durch einen zu hohen
Ressourcenverbrauch, sondern auch durch ein Zuviel bestimmter
Produkte, die nicht schnell genug rezykliert werden können, wie
beispielsweise Treibhausgase, oder neuartige künstliche Stoffe,
die als schwer abbaubare Fremdkörper die eingespielten
Kreisläufe belasten.
(28) Kreislaufsysteme werden zu
„Gestalten“ und „Kreaturen“, wenn sie sich
selbst aufrechterhalten können. Dazu ist ein Geflecht von
Regelkreisen notwendig, die (a) eine Abgrenzung des Systems gegen
seine „Umwelt“ ermöglichen und (b) die
„Fehlerfreundlichkeit“ oder Resilienz des Systems
erhöhen, indem sie Störungen kompensieren können.
(29)
Konkurrenz
und Kooperation –
Immerzu angetrieben von der
Energie der Sonne „zappelt“ die Wirklichkeit im Raum der
irdischen Möglichkeiten. Sie kann nicht anders. Sie muss alle
naheliegenden „neuen“ Möglichkeiten ausprobieren. So
findet sie das stabilere, dauerhaftere und lebensfähigere.
Lebensfähigeres ist lebensfähiger, weil es sich selbst
dauerhafter lebendig erhalten kann. Weil seine Stoff- und Regelkreise
noch raffinierter ineinandergreifen und noch besser mit der Mit- und
Umwelt zusammenpassen.
(30) Der Auswahlprozess des Besseren
aus der Menge des Neuen wird oft als blutiger Konkurrenzkampf
dargestellt. Zweifellos findet auch der statt. Lebewesen konkurrieren
um Lebensgrundlagen, und Tiere sind sogar darauf angewiesen, sich
andere Lebewesen, Pflanzen oder Tiere, einzuverleiben. Ein Lebewesen
hat einen selektiven Vorteil, wenn es kräftig zupacken kann.
Aggressive Konkurrenz könnte ein vorwärtstreibendes Prinzip
der Evolution sein. Sie allein führt aber nicht aufwärts.
(31)
Komplexere Gestalten zeichnen sich ja durch noch raffiniertere
Wechselwirkungen und Kreisläufe aus. Um aufwärts zu führen
zu höherer Komplexität, braucht die Evolution also noch ein
anderes, konsolidierendes Prinzip: das der Kooperation, das Prinzip
des Zusammenwirkens der Zyklen und der Gestalten, um die
Lebensfähigkeit gemeinsam zu erhöhen. Natürlich
konkurrieren auch größere Verbände wieder
untereinander. Andrerseits fressen Tiere der selben Art sich in der
Regel nicht gegenseitig auf. Das ist vielleicht die Urform des Wir,
das sich später in Brutpflege und größeren
Gemeinschaften manifestiert. Das kooperative Wir muss einen
selektiven Vorteil haben, sonst hätte es sich nicht
entwickelt.
(32) Konkurrenz und Kooperation wirken also
ineinander. Sie ergänzen sich zu einem Wettbewerb um die besten
Ideen für noch besser funktionierendes Zusammenwirken.
(33)
Vielfalt
und Gemächlichkeit
– In einer komplexen
Welt ist das einzige zuverlässige Kriterium, nach dem das
„Bessere“ aus der Menge des Neuen ausgewählt wird:
die Bewährung. Bewährung braucht aber Zeit. Evolution
„aufwärts“ geht nicht beliebig schnell. Viel Zeit –
ist die eine Grundbedingung für eine aufwärts führende
Evolution.
(34) Die andere Grundbedingung ist die große
Vielfalt an Möglichkeiten, die ausprobiert werden können.
Das wenigste, was im Lauf der Zeit ausprobiert wird, bringt eine
dauerhafte Verbesserung. Um etwas Besseres zu finden, müssen
sehr viele Versuche gemacht werden. Die Evolution führt
wahrscheinlich dort am ehesten aufwärts zu höherer,
dauerhaft funktionierender Komplexität, wo sehr viele
verschiedene Versuche möglich sind.
(35)
Vielfalt und Gemächlichkeit
sind also Grundbedingungen
für eine Wertschöpfung in einer komplexen dynamischen, sich
selbst organisierenden Wirklichkeit. Die Evolution tendiert zwar von
sich aus zu höherer Komplexität, kann diese jedoch nur
verwirklichen, wo sie sehr viele verschiedene Möglichkeiten des
Ausprobierens hat und sich damit viel Zeit lassen kann.
(36)
Hierarchische
Organisation mit immer schwächeren Wechselwirkungen
– Systeme höherer
Komplexität entstehen durch den Verbund von Subsystemen. Die
Evolution führt also aufwärts zu höherer und
lebensfähigerer Komplexität, indem kleine, stabile
Einheiten sich auf stabile Weise zu einem Verband zusammentun, der
wiederum zum Subsystem eines noch größeren Verbands werden
kann.
(37) Die Stabilität von Verbundsystemen beruht auf
einer Hierarchie der Wechselwirkungen: Höhere Verbundebenen
werden durch schwächere Wechselwirkungen zusammengehalten als
die darunterliegenden. Der Zusammenhalt der Subsysteme, die das
Fundament bilden, darf nicht durch die Wechselwirkungen der höheren
Verbundebenen wieder zerrissen werden. Das beginnt schon bei den
Atomen: Die Kräfte, die Atome zu Molekülen verbinden,
dürfen nicht so stark sein, dass sie Atomkerne zerreißen
können. Wichtig für unsere zukünftige
Weltgesellschaft: Eine große Gesellschaft darf, wenn sie stabil
bleiben soll, nicht die kleineren Gemeinschaften zerstören, aus
denen sie sich zusammensetzt.
Wie
wir in die Falle geraten sind
Ein
Widerspruch im Schöpfungsprinzip und die zweifache
Grenzüberschreitung im Anthropozän
(38)
Vielfalt und Gemächlichkeit sind Voraussetzungen dafür,
dass die Evolution aufwärts führen kann zu höherer
Komplexität. Im Widerspruch dazu haben Vergrößerung
und Beschleunigung – zumindest kurzfristig – selektive
Vorteile: Größeres verdrängt kleineres, Schnelleres
überholt langsameres. Es besteht also ein selektiver Druck,
größer (mächtiger, einflussreicher) und schneller
(erfinderischer) zu werden. Die Folgen: (a) Der Drang zur
Vergrößerung führt allmählich zur Vorherrschaft
mächtiger Monokulturen und zum Abbau der Vielfalt; (b) die
Innovationsgeschwindigkeit steigt, der Fortschritt wird immer
schneller. Doch sowohl für die Größe eines Akteurs
wie für die Innovationsgeschwindigkeit gibt es
Obergrenzen.
(39)
Die
Obergrenze der Größe
ist durch die Globalität
definiert. Mehr als die bewohnbare Oberfläche des Planeten steht
uns nicht zur Verfügung. Wenn immer weniger, aber immer größere
Monokulturen sich über ihn ausbreiten, geht immer mehr Vielfalt
verloren.
(40)
Die
Obergrenze für die Innovationsgeschwindigkeit
ist durch unsere Eigenzeit
definiert. Wenn die Lebensverhältnisse des Planeten sich,
gemessen an unserer menschlichen Zeitskala (also innerhalb einer
menschlichen Lebensdauer), stark verändern, bekommen wir dies
als überwältigenden Anpassungsdruck und als
Destabilisierung unserer Daseinsgrundlagen zu spüren.
(41)
Lokale Raserei und allmähliche Globalisierung bedrohen, jeweils
für sich gesehen, nicht das Ganze. Lokale Zusammenbrüche
durch zu hektische und unbewährte Neuerungen können aus der
intakten Umgebung heraus regeneriert werden – da kann „Gras
drüber wachsen“. Auch eine Neuerung, die sich allmählich
immer weiter ausbreitet und globalisiert, ist ungefährlich, denn
sie unterliegt ja einem stetigen Bewährungsprozess. Gefährlich
wird’s, wenn beide Grenzen gleichzeitig überschritten
werden. Dann kann kein Gras mehr drüber wachsen. Dann kommt es
zur globalen Beschleunigungskrise.
(42)
Genau das geschieht in unserem Zeitalter.
(43)
Die dominierende Art Homo
sapiens ist
jetzt so zahlreich und ressourcenaufwändig geworden, dass die
Erde zu klein dafür wird. Gleichzeitig verändern wir die
irdischen Lebensverhältnisse so schnell, dass sich das Neue
nicht mehr bewähren kann. Neues baut auf Unbewährtem auf.
Fehler und Instabilitäten vermehren sich schneller als wir sie
beheben können, die Wahrscheinlichkeit für einen aufwärts
führenden Fortschritt geht gegen Null. Die Komplexität wird
kompliziert.
(44)
Der
Fortschritt wird turbulent
und taumelt abwärts.
Er lässt alles Hergebrachte, alles Gewohnte, alle Normen und
damit jede Ethik veralten. Für normal halten wir ja, womit wir
als Kinder aufgewachsen sind. Es gibt keine Normalität mehr,
wenn sich die Welt innerhalb einer einzigen Generation im Großen
verändert.
Wie
wir der Falle entkommen
Drei
Parolen für einen Paradigmenwechsel
(45)
Die nötigen Paradigmenwechsel sind in der Theorie leicht
einzusehen, in der Praxis aber schwer umzusetzen. Alles ist ja
kompliziert, und viele Teufel sitzen in vielen Details. Doch um die
tausend Sachzwänge zu bewältigen, müssen wir uns immer
wieder auf die großen Parolen besinnen.
(46)
Das
Wir erweitern! –
Kein Individuum kann ohne
eine funktionierende Lebensgemeinschaft überleben, wir sind auf
das Miteinander angewiesen, auf das gelingende Zusammenwirken, auf
Kooperation. Im Zeitalter der Globalisierung muss die
Lebensgemeinschaft global funktionieren. Wir dürfen nicht mehr
um unsere Lebensgrundlagen konkurrieren, sondern müssen sie
weltweit als Gemeingut sichern. Auch das individuelle Auskommen jedes
Menschen sollte bewusst gemeinschaftlich abgesichert sein. Wetteifern
müssen wir jetzt um die besten Ideen fürs Teilen und
Zusammenarbeiten, für Kooperation weltweit! Anders als gemeinsam
werden wir die globalen Probleme nicht auf eine humane Art überwinden
können.
(47) Wir müssen also unsere Vorstellung vom
Wir über unsere gewohnten Gemeinschaften hinaus erweitern, auch
wenn das schwierig, fast unmöglich erscheint, weil es
angeborenen Verhaltensprogrammen, Jahrtausende alten Sitten oder dem
lebenslang gewohnten „Normalen“ widerspricht. Andrerseits
darf dieses Wir natürlich nicht zu einer Gleichmacherei und
zentralistischen Gleichschaltung führen. Es muss sich in einem
bewussten Zusammenwirken vielfältigster kleiner und weitgehend
subsistenter Gemeinschaften verwirklichen, koordiniert durch
demokratisch legitimierte und kontrollierte Institutionen auf den
jeweils übergeordneten Ebenen. Die übergeordneten Instanzen
dürfen nicht die Subsistenz der kleineren Gemeinschaften in
Frage stellen und ihre Kompetenzen nur beschränken, wo es für
ein höheres Gemeinwohl erforderlich ist.
(48) Und wir
müssen dieses Wir auch noch über die Menschengemeinschaft
hinaus erweitern. Es muss alle Mitgeschöpfe miteinbeziehen. Wir
Menschen sind ein Untersystem im großen Kreislaufsystem des
irdischen Lebens, das wir ja gerne auch „Mutter Erde“
nennen. Trotzdem sind wir gerade dabei, dieses System durch ein
parasitäres Dasein aus dem Fließgleichgewicht zu bringen.
Wenn wir es gesund erhalten wollen, müssen wir es eben wie einen
lebenden Organismus behandeln: Wir dürfen ihm nicht zu viel
zumuten und müssen seine Kreisläufe achten. Manche Menschen
lehnen es ab, die Biosphäre als einen lebenden Gesamtorganismus
aufzufassen. Aber diese Vorstellung richtet sich an unser tief
verwurzeltes, „intuitives“ Wissen, wie man mit
Komplexität umgeht: Nicht wie mit einer Maschine, sondern wie
mit einem lebenden Organismus.
(49)
Teufelskreise
beenden: Das Große und das Schnelle behindern!
– Die Bedingungen
Vielfalt
und Gemächlichkeit,
die wir Menschen jetzt global beseitigen, zu retten, erscheint
aussichtslos. Trotzdem muss uns genau dies gelingen: Der
Teufelskreis, der uns in die globale Beschleunigungskrise treibt,
muss gebremst werden, auch wenn dabei einige Reibungshitze entsteht.
Denn andernfalls dürfte es auf dem Boden dieser Erde
ausgesprochen ungemütlich werden.
(50) Der
Wachstumszwang, der Zwang also, größer, mächtiger,
einflussreicher und schneller zu werden, ist nicht nur in viele
Seelen, sondern vor allem in unser Wirtschaftssystem eingeschrieben.
Die Konkurrenz um Lebensgrundlagen, der Wettbewerbsvorteil des
Kapitals gegenüber der Arbeit und die positive Rückkopplung
Kapital erzeugt
noch mehr Kapital bewirken
einen systemischen ökonomischen Wachstumszwang und eine
Akkumulation von Kapital und Macht in immer weniger Händen. Wir
brauchen jetzt bessere Verteilungsregeln, Regeln für eine
Rückverteilung, die zwar immer noch Leistung belohnen, aber
keine übermäßige Akkumulation mehr zulassen. Es darf
nicht mehr lukrativ sein, Kapital über einen begrenzten Reichtum
hinaus anzusammeln. Wir brauchen neue Regeln für Privateigentum
sowie Größenbegrenzungssteuern. Auch unser Konsumverhalten
sollte durch entsprechende Konsumsteuern gelenkt werden.
(51)
Das global Große und das global Schnelle müssen
organisatorisch begrenzt werden. Auch hier muss es heißen:
Kleinere Akteure und Gemeinschaften sind zu unterstützen;
größere Zusammenschlüsse dürfen, auch wenn sie
in vieler Hinsicht notwendig oder wünschenswert sind, nicht zu
viele Kompetenzen erhalten und nicht zu vieles vereinheitlichen. Wo
politische und ökonomische Strukturen zu zentralistisch geworden
sind, bedarf es einer demokratie-konformen föderalen
Dezentralisierung, am besten in kleinen, gut vermittelbaren Schritten
mit vielen positiven Anreizen. Übermäßige
Akkumulation von ökonomischer Macht muss unterbunden werden, die
politischen Gewalten müssen geteilt bleiben.
(52) Auch zu
große technische Projekte sollten vermieden werden, denn sie
bringen immer ungeahnte Risiken und Nebenwirkungen mit sich,
insbesondere, wenn sie sich schnell global auswirken. Ökologisches
und gemeinnütziges Verhalten und Wirtschaften im kleinen, im
alltäglichen Leben, muss sich lohnen und auszahlen.
(53)
Die Dringlichkeit mancher Probleme steht im Widerspruch zur Forderung
nach systemischer Entschleunigung. Beispiel: Der CO2-Ausstoß
unserer Gesellschaft muss schnellstmöglich stark reduziert
werden. Der dazu nötige beschleunigte wirtschaftliche Umbau
gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und verschärft
so die Krise. Für die Auflösung dieses Widerspruchs gibt es
keine einfache Lösung, aber viele konkrete Möglichkeiten,
die erfasst werden müssen. Entschlossener politischer
Gestaltungswille aller Mitgestalter – vom Individuum bis zu
global agierenden Instanzen – ist unerlässlich.
(54)
Kreisläufe
schließen – ökologisch und ökonomisch!
– Unsere Verwertung
von Ressourcen muss mehr und mehr in Kreisläufen geschehen.
Alles, was wir selbst nicht mehr in unseren industriellen Kreisläufen
verwerten können, muss problemlos in ökologische
Kreisläufe rückführbar
sein, also in den Haushalt der Natur. Sich darum zu bemühen,
sollte sich für Produzenten und Konsumenten lohnen. Unsere
Anreiz-, Subventions- und Steuersysteme benötigt einen
ökologischen Umbau, sehr bald, damit sie enkeltauglich werden.
Ökologisch schädliches muss jetzt sehr bald teuer
werden.
(55) Auch ökonomisch
müssen wir uns
konsequenter am Kreislaufmodell orientieren. Das betrifft
insbesondere unser Geldsystem, das vor allem den ökonomischen
Austauschprozessen zu dienen hat und nicht den privaten
Aneignungsprozessen. Geld muss bewusster als Gemeingut geschützt
und in seiner Funktion als Tauschmittel für Dienstleistungen und
Waren gestärkt werden. Dass Geld selbst in großen Mengen
zur Ware gemacht wird, dass es als Privateigentum angehäuft wird
und Riesen heranwachsen lässt, muss verhindert werden. Der
Liquiditätsvorteil, der Geld als privates Eigentum so lukrativ
macht, muss begrenzt werden.
(56) Die Selbstorganisation
freier Märkte mag einer lebendigen Vielfalt dienen, wenn sie
überwiegend regional beschränkt bleibt und nicht die
Politik des Gemeinwohls überwuchert. Die Reichweite der
„unsichtbaren Hand des Marktes“ ist aber nicht groß
genug, um die ökologischen und gesellschaftlichen Probleme
unserer Zeit regeln zu können, bevor diese uns überwältigen.
Die Eigendynamik der Märkte darf nicht dem Wohl der
Weltgemeinschaft hohnsprechen. Die Preise für Lebensmittel,
Luxus und Entropie dürfen sich nicht mehr nur nach Angebot und
Nachfrage richten. Sie müssen die ökologische Wahrheit
abbilden. Die Zukunft darf nicht „diskontiert“ werden,
mit Lebensgrundlagen darf nicht spekuliert werden.
Chancen
für einen wünschenswerten Wandel
Zwölf
Gründe für Zuversicht
(57)
Zuversicht
ist eine Frage des Wollens.
Kann
man noch zuversichtlich
sein, wenn man „realistisch“ bleiben möchte? Die
Aussichten sind düster, doch entschieden ist nichts. Die
Zuversicht bewahren wird immer schwieriger. Zuversicht ist jedoch
immer weniger eine Frage des Könnens, immer mehr eine Frage des
bewussten Wollens und der Entschlossenheit, an den besseren,
weiterführenden Ideen festzuhalten und danach zu handeln, auch
wenn sie bis dato noch utopisch anmuten.
(58)
Die
Komplexität verhindert „Zementierung“.
Viele „reale Verhältnisse“, insbesondere
Machtverhältnisse in der globalen Menschengesellschaft,
erscheinen uns „zementiert“, weil die Nutznießer
dieser Verhältnisse in der Regel die Macht haben, sie genau so
zu erhalten oder sogar noch auszubauen. Aus diesem Grund müssen
wir auch befürchten, dass in den zunehmend chaotischen
Verhältnissen zunehmend das Recht des Stärkeren zur Geltung
kommt und totalitäre Bestrebungen erstarken. Da viele Menschen
sich nach einer starken Ordnungsmacht sehnen, besteht die Gefahr,
dass solche Bestrebungen sich zumindest vorübergehend
durchsetzen und der Welt „neue Weltordnungen“ aufnötigen,
die sehr viel mehr Leid als Lebensqualität mit sich bringen.
Selbst wenn es keiner Verschwörerbande mächtiger Menschen
gelingt, die Geschicke der Menschheit zu lenken, reichen ja schon die
herrschenden Verhältnisse, um immer noch größeres
Unheil heraufzubeschwören. Doch die Härte des „Zements“
täuscht. Wir wissen, dass sich in den Ritzen kompakter und
scheinbar lebloser Massen fruchtbarer Staub fängt und allmählich
sich auch wieder Pflanzen ansiedeln. Wir wissen, dass die Witterung
im Lauf der Zeit Asphaltdecken erodiert und zarten Gewächsen zum
Durchbruch verhilft. Ebenso zerrüttet die zunehmend turbulente
Fortschrittsdynamik der globalen Beschleunigungskrise starre,
„zementierte“ Strukturen. Die beängstigende Macht
der Umstände beginnt zu bröckeln. Die Macht der
Gewohnheiten oder der totalitären Ordnung wird durch zunehmend
chaotische Ereignissen destabilisiert. Um diese Tendenz zur heilsamen
Selbstorganisation zu unterdrücken, die Strukturen „hart“
und alle Freiheitsgrade unter Kontrolle zu halten, muss eine
künstliche Ordnungsmacht immer mehr Energie aufwenden. Im
Zeitalter der globalen Krise wird dies immer schwieriger. Mit dem
Bröckeln der alten Strukturen nimmt auch die Hektik der
Ausbesserungsarbeiten zu. Vermutlich werden noch einige der alten
Gebäude – der alten Hierarchien und Weltbilder –
einstürzen müssen, bevor die notwendige Sanierung der
Fundamente in die Wege geleitet werden kann. Es ist jedoch gar nicht
so unwahrscheinlich, dass das zunehmende kreative Chaos der
Menschengesellschaft die schlimmsten Ausbeutungssysteme
zusammenbrechen lässt, bevor
alle Ressourcen
aufgebraucht und Gaias
Menschenfreundlichkeit restlos überlastet ist.
(59)
Gaias
Resilienz ist groß.
Die singuläre Gefahr des Anthropozäns liegt darin, dass wir
Menschen Gaias
Belastungsgrenzen überschreiten und dadurch ihre Lebens- und
Menschenfreundlichkeit vermindern. Wir sehen jetzt wesentliche
natürliche Fließgleichgewichte gestört, große
Entwicklungslinien drohen in eine gefährliche Richtung zu
kippen. Das muss uns erschrecken und uns dazu bringen, Aktivitäten,
die wir als falsch erkannt haben, zu unterlassen. Trotzdem haben wir
wahrscheinlich auch keine richtige Vorstellung von der Komplexität
und Fehlerfreundlichkeit des irdischen Regelkreissystems. Deshalb
dürfen wir uns auch die Hoffnung erlauben, dass Gaia
„geduldig“
genug ist, um uns die nötigen Lernprozesse noch zu
erlauben.
(60)
Die
Lernfähigkeit der Menschen ist groß
– andernfalls wären
sie nicht so erfolgreich gewesen. Es sind hauptsächlich die
Großhirnfähigkeiten der Menschen, die sie so erfolgreich
werden ließen, dass sie sogar die Resilienz des gesamten
Erdsystems bedrohen. Wenn das Lernpotenzial der Menschheit ihrer
Fähigkeit, Entropie zu erzeugen, entspricht, dann ist es nicht
unwahrscheinlich, dass am Rande der eigenen Vernichtung die rettenden
Ideen nicht nur gefunden, sondern auch verwirklicht werden
können.
(61)
Die
Zukunft hält mehr gangbare Wege bereit, als wir sehen können.
Sie enthält eine viel größere Zahl an Möglichkeiten,
als wir uns auch nur im Entferntesten vorstellen können. Die
Zukunft ist wahrscheinlich offener, als es uns vorkommt.
Beunruhigende
Eindrücke beeindrucken unsere Wahrnehmung viel stärker an
als beruhigende. Das beeinflusst auch die Themenwahl unserer
Nachrichtenmedien. Dadurch erscheint die Lage möglicherweise
aussichtsloser als sie ist.
(62)
Die Krise
eröffnet neue Freiheitsgrade.
Die Krise konfrontiert uns mit Möglichkeiten des Absturzes, die
erschreckend wahrscheinlich werden. Der Schrecken und die emotionale
Aufruhr korrodieren unsere Denkzwänge und Gewohnheiten. Die
globale Beschleunigungskrise zeigt sich in einer Vielfalt von
Krisenerscheinungen, die immer mehr von uns dazu nötigen, Denk-
und Handlungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, die wir bis
dahin gemieden, geschmäht, verboten oder gar nicht gesehen
haben. Somit eröffnet die Krise neue Freiheitsgrade –
zunächst in unseren Köpfen, dann im Handeln. Alte
„Sachzwänge“ erweisen sich als Papiertiger, können
überwunden werden und behindern nicht länger das Umsetzen
besserer Ideen.
(63)
Gute Ideen
sind ansteckend.
Sogar
Visionen („bessere Ideen“ in der Vorstellung) sind real
wirksam – weil sich das Denken sehr stark auf das Handeln
auswirkt. Es ist nicht nur das Sein der Menschen, das ihr Bewusstsein
prägt; das Bewusstsein kann neben den Umständen des Seins
auch Möglichkeiten erwägen und wirkt damit verändernd
auf das Sein zurück. Insbesondere wenn das Sein in eine
kritische Instabilität gerät, können die Bewegungen
des Bewusstseins im Denken ausschlaggebend werden. In dieser
Situation ist es also von Bedeutung, bessere Ideen wenigstens zu
denken, auch wenn sie noch utopisch erscheinen. Aus dem Denken
entsteht Handeln. Der Zusammenhang zwischen Kopf, Herz, Bauch, Händen
und äußeren Umständen ist ein komplexer!
(64)
Konstruktive
Prozesse sind vielerorts bereits am Werk.
In
der Krise werden utopische Ideen realistisch und von Pionieren in
„Keimzellen“ erprobt.
Es gibt schon sehr viele
solcher „Keimzellen“. Zahllose Initiativen, die an der
Verwirklichung von „besseren Ideen“ arbeiten, sind
weltweit entstanden und weiter am Entstehen. Diese Initiativen wirken
zunehmend vernetzt, also sich gegenseitig verstärkend, und ihre
Lernprozesse wirken sich mehr und mehr auf den kulturellen und
politischen Mainstream aus.
(65)
Große
Veränderungen bahnen sich im Kleinen an.
In einem komplexen dynamischen System entstehen große
Veränderungen oft aus unscheinbaren Keimen, aus kleinen Ansätzen
im „richtigen Moment“; das „richtig“ kann
dabei nicht vorausberechnet werden, es kann sich nur in einer großen
Vielfalt von Versuchen zeigen, es fällt uns gewissermaßen
zu. Es ist also sinnvoll, vieles im Kleinen zu versuchen – der
Wandel kommt dann möglicherweise schneller und gründlicher
als gedacht.
(66)
Große
Veränderungen können überraschend schnell eintreten.
Unsere Welt
ist kein titanisches, schweres Schiff, das seinen unheilvollen Kurs
nicht mehr schnell genug ändern kann, weil es der Gefahr schon
zu nahe ist und es keine Kraft mehr gibt, die groß genug wäre,
um die träge Masse in eine andere Richtung zu lenken. Wir
erschrecken vor Gefahren, die bedrohlich in Sichtweite kommen und
Unannehmlichkeiten so wahrscheinlich werden lassen, dass sie uns als
unvermeidlich erscheinen. Doch die Welt ist ein komplexes Geschehen,
und das ist nicht mit einer trägen Masse zu vergleichen.
Phasenübergänge
verlaufen nicht linear. Veränderungen
verlaufen häufig positiv-rückgekoppelt-exponentiell. Schon
das Erschrecken bewirkt etwas.
(67)
Die
öffentliche Meinung ist ein schwingendes System.
Was heute noch undenkbar erscheint, ist morgen plötzlich in
allen Köpfen. Die Einsicht, die ich mir selbst zutraue, darf ich
auch anderen zutrauen; das, was ich als „meine“ Einsicht
erfahre, besteht überwiegend aus Gedanken, die ich von anderen
übernommen habe. Einsicht ist etwas Diffundierendes und
Ansteckendes. Es ist daher möglich, dass eine entscheidende
Mehrheit der Menschen – auch in den noch wohlhabenden
bürgerlichen Demokratien! – über die Absurdität
der Systemzwänge des business
as usual so
weit aufgeklärt und so politisch aktiv wird, dass die Macht der
Besitzenden überwunden und die Rahmenbedingungen der Wirtschaft
auf dem friedlichen Wege politischer Mehrheitsentscheidung geändert
werden können – auch wenn dies gegenwärtig
unrealistisch erscheint. Die Wirklichkeit ist emergent – sie
geht über das faktisch und real Existierende hinaus, bringt
immerzu neue Möglichkeiten hervor und eröffnet neue
Chancen, erst recht, wenn die Lage kritisch und chaotisch wird. Wer
sich mit seinem „besseren Wissen“ alleine fühlt,
weil er den „breiten Massen“ mangelndes Interesse
unterstellt, übersieht in der Regel, dass er selbst Teil dieser
Masse ist und sein eigenes Interesse Teil des schwingenden Systems
„Zeitgeist“. Wenn mir ein „besseres Wissen“
aufleuchtet, darf ich getrost davon ausgehen, dass mich so etwas wie
eine feinere Schwingung dieses Zeitgeistes erreicht hat und dass ich
wahrscheinlich nicht allein bleibe, wenn ich mich mitteile.
Wahrscheinlich sind viele andere
Leute auch so gescheit wie ich.
(68) Der
Gemeinschaftssinn der Menschen ist groß.
Soziales Verhalten ist tief in uns verankert. Die
meisten von uns sind kooperativ und sehnen sich nach funktionierenden
Gemeinschaften. Wir
sind gemeinschaftshungrig, wir möchten uns zusammengehörig
fühlen. Das zeigt sich an den vielen gemeinschaftlichen
Aktivitäten und Traditionen, an unserem „Herdenverhalten“
und auch an chauvinistischen, faschistischen und rassistischen
Entgleisungen dieser Veranlagung, bei denen das Bedürfnis nach
Abgrenzung pervertiert. Doch der organische Zusammenhang zwischen der
Einheit (Gemeinschaft), die anzustreben ist, und der Vielfalt (von
Untereinheiten), die zu erhalten ist, wird von immer mehr Menschen
erkannt.
Was
ICH tun kann, um die Chancen zu erhöhen
Acht
Merksätze für den Alltag
(69)
Ich
autorisiere mich.
Ich bin ein politisches Wirkungsquantum. Es ist nicht gleichgültig,
was ich tue oder nicht tue. Wenn die Wirklichkeit auf den
Flügelschlag eines Schmetterlings reagieren kann, dann ist es
auch nicht unerheblich, wie ICH mich in der Wirklichkeit einrichte
oder mich ein- oder ausrichten lasse; wie ICH bei all dem
Fortschreiten mitwirke; was ICH in die Zukunft mit einflechte. Wenn
ICH sehe, dass WIR uns in einer anderen Weise in dieser Wirklichkeit
ein- und ausrichten sollten, dann beginne ICH damit bei mir. Und wenn
ICH sehe, dass es auf ein gelingendes WIR ankommt, beginne ICH mich
als ein eigenwilliges politisches Wirkungsquantum im Dienste einer
Gemeinschaft zu begreifen.
(70)
Ich
entdecke mich im Zuschauerraum – und verlasse ihn.
Ich fühle mich zuständig und ergreife selbst die
Initiative. Es kommt nicht darauf an, auf alles zu antworten und
Großes zu leisten – es kommt darauf an, meinen
Möglichkeiten entsprechend zu antworten und zu handeln. Es kommt
darauf an, wenigstens einen kleinen Teil dessen, was ich im Rahmen
meiner Möglichkeiten tun kann, auch wirklich zu tun, weil ICH es
will! Das heißt: mein eigenes Wollen – meinen Eigenwillen
– an dem üben, was ICH als richtig, relevant und
realisierbar erkannt habe, und damit nicht warten, bis jemand anderes
die Initiative ergreift oder bis mich die nackte, panische Angst ums
Überleben zu irgendeinem Wollen treibt.
(71)
Ich
widersage den Argumenten der Ergebenheit.
Beispiele: Es
kommt, wie es kommt. Da kann man nichts machen.
Wer jetzt sagt, dass nichts mehr zu machen sei, sagt das meistens aus
seiner Komfortzone heraus; falls Unannehmlichkeiten tatsächlich
spürbar werden, heißt es schnell: Da muss unbedingt etwas
gemacht werden! – Das
Spiel wird von den Mächtigen gespielt. Wir kleinen Leute sind
ohnmächtig! Auch
die Mächtigen halten dem zunehmenden Chaos der immer
komplizierter werdenden Verhältnisse immer weniger stand. –
Die Leute sind
dumm und wollen vor allem ihre Ruhe und ihr Vergnügen haben! Wer
sind denn „die Leute“? Es sind offenbar immer die
Nichtanwesenden. Also die erschlagende Mehrheit der „anderen“.
Seltsam, dass sich die so Argumentierenden nie selbst zu den „Leuten“
zählen und den „anderen“ nie die eigenen Einsichten
zutrauen. – Das
Bewusstsein der Leute ist von den Massenmedien beherrscht, und die
sind Sprachrohre der politisch Herrschenden, lenken vom Wesentlichen
ab und verhindern somit ein kritische Bewusstwerden.
Es gibt sehr viele
aufrechte Journalistinnen und Journalisten. Auch Massenmedien werden
von Menschen gemacht, die sich nicht ohne weiteres kaufen oder
zwingen lassen, gegen ihre eigene Wahrhaftigkeit zu verstoßen.
– Von
unseren Volksvertretern ist auch nichts zu erwarten!
Ich kann nicht alle
politische Verantwortung auf „die Politiker“ abladen.
Politik verlangt auch meine eigene Stellungnahme.
(72)
Ich
kultiviere meinen Zorn.
Meine Parole lautet: Depression in Zorn und Zorn in konstruktive
Aggression verwandeln! Ich verwende die Energie des Zorns für
zupackende konstruktive Aktivität. Aggression (lat. aggredi
„herangehen,
angreifen“) bedeutet zunächst nichts anderes als
„anpacken“ und kann destruktiv oder konstruktiv sein, je
nachdem, ob ich Personen (oder personifizierte Gegenstände)
„angreife“ und „erledige“ oder eine Arbeit,
eine Aufgabe, ein Problem „in Angriff nehme“ und zum
Nutzen der beteiligten Personen „erledige“. Ich greife
Probleme an statt Personen.
(73)
Ich
erlaube mir, einer Vision zu folgen.
Meine Vision ist
meine Antwort auf die Frage nach meinem politischen Eigenwillen: Ich
mache mir klar, was ich positiv will. Die Vision betrifft Sinn und
Ziel. Das Ziel mag in weiter Ferne liegen und vielleicht nicht
endgültig erreichbar sein. Aber die Vision weist mir die
Richtung, in der ich unterwegs sein möchte, sie motiviert mich
von innen heraus. Sie weist mir die Richtung, die ich aufrecht gehen
kann. Sie schickt mich auf meinen „Weg mit Herz“. Der Weg
ist weit und wartet mit desillusionierenden Hindernissen auf.
Streckenweise muss ich ihn selbst erst bahnen, weil ihn noch niemand
vor mir gegangen ist. Ohne pragmatischen Realismus würde ich
scheitern. Aber ohne eine Vision würde ich mich nicht immer
wieder aufraffen. Ich würde wahrscheinlich resignieren. Daher
erlaube ich mir, meiner gewachsenen und gepflegten Vision zu folgen.
Sie belebt mich. Es wird sich zeigen, wie viel Belastung sie aushält
und wie weit ich mit ihr komme.
(74) Ich
überprüfe meine Gewohnheiten.
Wie gut stimmen sie mit meinen eigenen Ansprüchen überein?
Viele meiner Gewohnheiten sind kollektive Verhaltensmuster, die ich
mir individuell angeeignet habe, überwiegend unfreiwillig und
unbedacht. Sie dienen einem bestimmten Lebensstandard, aber nicht
unbedingt einem tieferen Sinn. Einige meiner Gewohnheiten, zum
Beispiel solche, die meinen ökologischen Fußabdruck groß
werden lassen, habe ich als „ungut“ erkannt und bemühe
mich, sie durch bessere zu ersetzen. Manche meiner schlechten
Gewohnheiten lassen sich leicht verändern, andere nur schwer, je
nachdem, wie tief sie sitzen. Alles in allem lassen die Fortschritte,
die ich bei meiner eigenen Umerziehung erziele, noch zu wünschen
übrig. Vieles verläuft in eingefahrenen Gleisen, die zu
verlassen mir schwerfällt. Mein erlebter Alltag drängt mich
nicht zu Veränderungen, im Gegenteil, es geht mir, alles in
allem, sehr gut. Nachrichten vom Alltag in anderen Erdgegenden
rütteln gelegentlich an mir, allerdings nicht viel intensiver
als im Kino. Persönlich fühle ich mich meistens geborgen.
Die Motivation, ein besserer Erdenbürger zu werden, stammt bis
jetzt ja überwiegend aus dem Nachdenken über die
überörtlichen Folgen meiner Lebensart, nicht aus dem
unmittelbaren Erleben derselben. Auch wenn die Einsicht logisch
zwingend ist – sie zwingt mich doch nicht zum Handeln. Der
mahnend erhobene Zeigefinger in mir ist schnell in einem blinden
Fleck oder einem toten Winkel verschwunden, die Bedenken sind leicht
ausgeblendet und zerstreut. Allerdings nur noch vorübergehend.
Das Verdrängen und Vergessen klappt immer weniger. Motivierend
wirken eigene Fortschritts- und Erfolgserlebnisse, auch ganz kleine,
die mir sagen: Sieh an, es geht doch! – und auch die
zahlreichen Bemühungen und Erfolge anderer, die ich mitkriege
und die mir sagen: Sieh an, es sind schon ganz schön viele, die
sich vorwärtsbewegen! Die Bewegung ist bereits stark, verstärkt
sich weiter und nimmt mich mit, wenn ich nur dabei sein will!
(75)
Ich
verbünde mich mit Gleichgesinnten.
Das häufig vorgebrachte (bequeme) Argument, dass ich als
Einzelne/r machtlos sei, ist schnell widerlegt: Dann schließe
ich mich eben einer Vereinigung an, einer Partei oder einer der immer
zahlreicher und aktiver werdenden »Nichtregierungsorganisationen«,
die eine konstruktive Gegenbewegung, wie ich sie für
wünschenswert halte, organisieren. Damit gehe ich über die
Veränderung meiner privaten Gepflogenheiten hinaus und beteilige
mich an der Veränderung der kollektiv organisierten schlechten
Gewohnheiten, an der Überwindung von pervertierten Strukturen
und Pseudo-Sachzwängen in Politik und Wirtschaft, an der
Erneuerung der Leitlinien des Zusammenlebens in der Gemeinde, in der
Region, im Staat und auf dem ganzen Planeten. Selbst wenn ich nicht
Mitglied einer Organisation bin, kann ich mich doch als Mitglied
einer unorganisierten Bewegung oder Strömung verstehen, die sehr
locker sehr viele Menschen vereint, deren Ideen und Absichten den
meinen ähneln. Die Verbindung entsteht durch den Diskurs, durchs
Miteinander-Reden. Um in dieser chaotischen Bewegung mitzuwirken,
muss ich vor allem bereit sein, meine Ideen und Absichten mit anderen
zu besprechen und gemeinsam weiterzudenken. Nicht nur mit den
Gleichgesinnten, auch mit den Nicht-Gleichgesinnten.
(76)
Ich
würdige die Nicht-Gleichgesinnten.
Schon im Bündnis der Gleichgesinnten merke ich, dass die
Gesinnungen so gut wie nie ganz gleich sind und dass an allen Ecken
und Enden immer wieder neuer Streit, neue Diskussionen entstehen. Es
gilt, die Kommunikation aufrecht zu erhalten – innerhalb meines
Bündnisses und dann auch noch zwischen gegnerischen Bündnissen
– und der Härte entgegenzuwirken, die immer häufiger
unsere Diskurse erschwert. Ich übe mich also in jener
„Weichheit“ der Kommunikation, die einen aufrichtigen und
würdigen Austausch auf gleicher Augenhöhe ermöglicht –
wobei freilich mein eigenes Rückgrat nicht zu weich sein darf,
um „aufrecht“ bleiben zu können. Konkret heißt
das für mich: Ich suche das politische Gespräch in meiner
Umgebung, live und persönlich, auch mit Nicht-Gleichgesinnten;
ich höre zu und begebe mich in die geistige Welt des
Gesprächspartners; ich unterstütze ihn sogar darin, seine
Sicht der Lage plausibel darzustellen; ich stelle Fragen und lasse
den anderen antworten, bevor ich selber Antworten gebe; ich
formuliere Fragen, die uns verbinden, und benenne die Gemeinsamkeiten
und die Unterschiede in unseren jeweiligen Antworten oder bestimme
ihre jeweiligen Geltungsbereiche; ich achte die dabei sich zeigenden
Emotionen, Stimmungen und Gemütslagen und widersage jeder
entwürdigenden Rhetorik.
Dieses
Manifest ist eine Zusammenfassung des Buches „Weiter gegen den
Untergang. Eine Auffrischung“, das ich zur Erinnerung an meinen
wissenschaftlichen Mentor Peter Kafka (1933-2000, Astrophysiker)
verfasst habe und das 2015 bei oekom, München,
erschienen ist. Ernst Weeber,
im November 2020
www.langelieder.de —
Kommentare bitte an ernst.weeber@langelieder.de