Sich im Kreis versammeln
Gedanken zu unseren Treffs, passend zu runden und eckigen Tischen
Von Ernst Weeber, im September 2024 —
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Der Mensch hat neben dem Trieb der Fortpflanzung und dem, zu essen und zu trinken, zwei Leidenschaften: Krach zu machen und nicht zuzuhören.

Wer sagt denn sowas? Kurt Tucholsky (er legt es Kaspar Hauser in den Mund). Ich meine: Da ist was dran. Wahrscheinlich, weil ich selbst ziemlich lärmempfindlich bin. Und weil ich weiß, dass nicht nur das Reden eine Kunst ist, sondern auch das Zuhören. Meine eigene Redekunst ist nicht gut entwickelt, deshalb hab ich mich mehr aufs Scheiben verlegt und aufs Zuhören. Aber sogar beim Zuhören geht mir immer wieder die Geduld aus. Ich würde es gerne auf ganz bestimmte Weise trainieren, nämlich gruppen­weise. Ich suche also nach Gesprächs­kreisen, in denen die Kunst des Zuhörens gepflegt wird.

Ich habe mir vorgenommen, diese Kunst, diesen Kommunikationsstil zu üben, wo immer ich mit mehreren Menschen an einem Tisch sitze. Ich möchte, so mit anderen reden und anderen zuhören, dass diese anderen sich gehört und verstanden fühlen, und dass unsere Versamm­lung im besten Fall zu einem Kreis wird, zu einer „echten“ Tischrunde.

Mit „echt“ meine ich: Hier wird ein gemeinsames zentriertes Nachdenken möglich. Hier können wir unsere unterschiedlichen Meinungen, Erfahrungen und Stimmungen wirklich und ausdrücken und austauschen, und, wenn nötig, auch zusammenführen zu einer gemeinsamen Entscheidung. Hier können wir uns einem
Konsens nähern.

Sich im Kreis versammeln und einander zuhören, wie es hier gemeint ist, setzt ein bewusstes Wollen und auch ein Können aller Beteiligten voraus. Das eigene Wollen ist ausschlag­gebend. Der Kreis kann nur dann gut gelingen, wenn alle Beteiligten bewusst daran mitgestalten.

Im täglichen Leben kommt dies in Gruppen, die mehr als drei Personen umfassen, kaum vor. Schon eine Gruppe von vier Personen zerfällt leicht in zwei Zweier­grüppchen. Wer die gesammelte Tischrunde nicht schon als Kind oder Jugendlicher schätzen gelernt hat, kommt offenbar kaum noch von selbst darauf, was es bedeutet, im Kreis zu kommunizieren. Die
Kreis­kommunikation ist für viele von uns etwas „aufgesetztes“, etwas zwanghaftes und enges. Als entspannt gilt die Party­kommunikation. Die sind wir gewohnt. Viele scheinen gar nichts anderes zu kennen.

Partykommunikation

Sie spielt sich sehr schnell ein, wenn sich mehr als drei Leute „ganz zwanglos“ treffen: Die Runde zerfällt „ganz von selbst“ in lauter kleine Grüppchen. Die Grüppchen­bildung ist typisch für alle Party­gesellschaften, auch wenn die grüppchen­bildenden Interessen noch ganz unter­schiedlich und unklar sind. Jede und jeder möchte möglichst viel reden – das Miteinander-reden ist ja das Medium der Party. Es geht darum, sich verbal einzu­bringen. Und zum Reden kommt man umso mehr, je kleiner die Grüppchen sind. Bei einer guten Party entstehen immer wieder neue Grüppchen, so dass im Idealfall jede/r einmal mit jeder/m in einem Grüppchen zum Austausch kommen kann.

Eine Party­gesellschaft besteht also aus fluktuierenden kleinen Wir-Einheiten, die viel Gelegenheit zum spontanen verbalen Austausch bieten. Sie hat aber auch Nachteile:

(1) Bei der Party­kommunikation verteilt sich das „Sprechen“ und das „Zuhören“ ungleich: Das Sprechen wird tendenziell mehr von gewitzten extra­vertierten Personen übernommen, das Zuhören mehr von den weniger gewitzten intro­vertierten. Für die Letzteren entsteht nicht selten ein (selbst­verschuldeter) Leistung­sdruck, sich irgendwie einzubringen, um nicht als Langweiler dazustehen.

(2) Die Party­kommunikation ist ungeeignet wenn es darum geht, irgend etwas gemeinsam zu entscheiden.


Kreiskommunikation

Was ich einen Kreis nenne, kommt manchmal auch am Ende einer Party zustande, wenn zu fort­geschrittener Stunde viele der Gäste schon gegangen sind und ein verbleibendes Grüppchen, überschaubar und nicht zu stark alkoholisiert, an einem Tisch zusammen­bleibt. Man hat den eigenen Rede- und Darstellungs­drang im Laufe des Abends schon weitgehend befriedigt und ist in einer gelasseneren Stimmung angekommen, aber doch noch am Beieinander­sein interessiert. Man ist immer noch beseelt von dem Wunsch nach Austausch, vielleicht nach einem Austausch über besondere, „eigentliche“ Themen. Aber man spricht nicht mehr durch­einander. Fast über­raschend ist die Hektik aus dem Gespräch verschwunden, etwas wie Besonnenheit und Achtsamkeit hat sich eingestellt, und die Tischrunde bleibt tatsächlich über längere Strecken eine Runde, in der man damit zufrieden ist, dass immer nur eine Person spricht. Man hat begonnen, auch das Zuhören wertzuschätzen, ja zu genießen.

Moderation

Der Kreis ist nicht die Kommunikations­form, die wir gewohnt sind. Daher müssen wir ihn bewusst einüben. Das erfordert anfangs etwas ungewohnte Disziplin und eine Gesprächs­moderation, die auf die Disziplin achtet.

Um eine größere Gruppe zu einem Kreis werden zu lassen, benötigen wir in der Regel eine autorisierte Person, die mit der Aufgabe betraut wird, den Kreis zusammen­zuhalten und die Kreis­kommunikation immer wieder gegen die spontanen Rückfälle in die Party­kommunikation zu schützen.

In der Praxis besteht eine lästige Hauptaufgabe der Moderation darin, diejenigen in den Kreis zurückzurufen, die sich in Parallel­gespräche verlieren. Zu meinen Erfahrungen als Gesprächs­leiter gehört auch, dass bei mir mehr und mehr ein Widerwille dagegen entstand, jemanden zur Ordnung zu rufen wie ein Schullehrer es mit Halbwüchsigen tut, um „die Zügel in der Hand“ zu behalten. Ermahnungen wirken entmündigend, und die Ermahnten gewöhnen sich daran, dass der Lehrer für die Bündelung der Aufmerksamkeit sorgt und nicht sie selbst.

Ermahnungen können auch Widerwillen erregen, erinnern sie doch an die Situation in der Schule, die uns allen geläufig ist: Der Lehrer sorgt dank seiner Autorität für Ruhe, andernfalls wird’s unruhig im Klassen­zimmer. Die meisten von uns haben das verinnerlicht, und jetzt glauben wir, dass Konzentration immer mit Frontal­unterricht einhergehen muss, woran die wenigsten sich gerne erinnern. Und schon die Sitzordnung im Kreis kann beunruhigend wirken: Huch, da werde ich ja von allen gesehen! Aber genau das schätze ich am Kreis: Ich kann alle sehen.

Eine gemeinsame Mitte

Die äußere Sitzanordnung im Kreis bewirkt, dass wir uns alle gut sehen können und dass wir eine gemeinsame Mitte spüren. Auf mich wirkt das wie ein unter­stützendes Ritual: Es ruft was archaisches, was steinzeit­liches in mir auf, vielleicht die Erinnerung ans Lagerfeuer, und dass wir aufeinander angewiesen sind. Es ruft aber auch etwas sehr gegen­wärtiges in mir auf: meinen politischen Eigenwillen. Das klingt geschwollen, nicht wahr? Aber sich ums Gelingen der Gemeinschaft zu bemühen ist Politik, und wenn ich nicht darauf warte, dass erst mal andere was tun, betätige ich meinen eigenen Willen. Uns miteinander im Kreis versammelt zu sehen, die gemein­same Mitte zu spüren, motiviert mich ganz innen drin.

Zuhören

Außer der Sitzordnung ist es die Ordnung der Wechsel­rede, die eine Versammlung zu einem Kreis werden lässt. Die Haupt­regel lautet: Es spricht immer nur eine Person. Alle anderen hören zu – nicht weil sie müssen, sondern weil sie den Wert und den Sinn des Zuhörens kennen und sich jederzeit in dieser Kunst üben wollen.

Die Philosophin Natalie Knapp nennt diese Art des Zuhörens eine aktive Form der geistigen Geburtshilfe. Sie ist alles andere als eine passive Haltung. Sie ist ein Willensakt in dem Bewusstsein, dadurch einen gemein­schaft­lichen Prozess mitzugestalten. Sie stiftet und stärkt Gemeinschaft.

»Zuhören ist eine der einfachsten Methoden, mit denen wir uns gegenseitig dabei unter­stützen können, Ideen zu entwickeln oder Entscheidungen zu treffen. Durch Zuhören stellen wir einem anderen Menschen den geistigen Raum zur Verfügung, der für die Selbst­organisations­prozesse des Denkens benötigt wird, und liefern ihm gleich­zeitig auch die Energie, die bewusste und unbewusste Einzel­informationen so in Bewegung setzt, dass sie sich zu einer neuen Idee verbinden können. […] Sobald wir der Meinung sind, dass wir es selbst längst besser wissen, unterbrechen wir unser Gegenüber mitten im Satz. Wenn wir aber begreifen, dass das größere Potenzial des Zuhörens darin besteht, etwas zu erfahren, was der andere auch noch nicht weiß, kommt uns eine ganz andere Rolle zu. Das scheinbar passive Zuhören wird zu einem aktiven Element für den Denk­prozess des Gegen­übers, und unsere vorschnellen Unter­brechungen können den geistigen Selbst­organisations­prozess zunichtemachen.« (KNAPP 2013, S. 241/243f)

Ich mache mir fürs erste also diese zwei Grundregeln zu eigen:

(1) Ich unterbreche niemanden beim Reden, zumindest nicht mitten im Satz, mitten im Gedanken; ich halte meinen Einwand oder Beitrag lange genug zurück, dass mein Gegen­über seinen eigenen Gedanken in Ruhe entwickeln kann.

(2) Ich beschränke meine eigene Redezeit auf ein passendes Maß, sodass jede und jeder Beteiligte im etwa gleichen Umfang zu Wort kommen kann.


Konsens

Mit „Konsens“ ist keine „Harmoniesoße“ gemeint, die über alle Meinungs­verschieden­heiten gegossen wird. Der Konsens, die Einigung, muss „angestrebt“ werden, wenn beispiels­weise etwas gemeinsam beschlossen werden soll. Vor allem dann muss zugehört werden: wenn ein „Dissens“ besteht. Dann wird das Zuhören richtig energie​aufwändig.

Ein Dissens lässt sich nicht durch eine Mehrheits­entscheidung beseitigen. Mehrheits­entscheidungen werden oft von der Mehrheit der Wahl­beteiligten abgelehnt und „gezwungener­maßen“ und ohne innere Motivation mitgetragen. Deshalb wird in Kreisen, in denen man sich „wirklich“ einigen möchte, die demokratische Mehrheits­entscheidung bestenfalls als Notlösung akzeptiert. Der eigentliche Klärungs­prozess besteht ja darin, die Unter­schiede in den Erlebens- und Sichtweisen, in den Informations­ständen und Gefühls­lagen wahrzu­nehmen und ernstzu­nehmen – sprich: zu würdigen. Das Zuhören im Kreis der Versammlung leistet genau dies. Wie kommt man dann aber zu einem Konsens?

Wenn ich mich „gewürdigt“ fühle, bin ich geneigter, meine eigene Haltung „aufzu­weichen“. Ich schaue meine Wider­stände genauer an, höre auf, eine bestimmte Position zu „verfechten“, erkenne möglicher­weise einen emotionalen Hinter­grund meiner eigenen, scheinbar sachlichen Argumen­tation. Ich kann die Haltungen und die Wider­stände anderer leichter nach­voll­ziehen, nach­fühlen. Ich will die anderen dann nicht mehr von meiner Meinung überzeugen, sondern die verschieden­artige Begeisterung, die verschieden­artigen Wider­stände vergleichen. Und möglicher­weise kommt der versammelte Kreis dem Konsens dann näher, wenn bei der Abstimmung nicht die Pro- und Contra-Stimmen gezählt werden, sondern der Schweregrad der persönlichen Unzufrieden­heit und der Wider­stände auf geeignete Weise sichtbar gemacht wird (wie beispielsweise beim „Systemischen Konsensieren“, siehe PAULUS u. a. 2009).


Zwischenrufe

Vergessen wir bei all der Konzentration und Disziplin nicht das Atmen – und den Humor! Natürlich sind Plauder­pausen erlaubt, in denen mal für kurze Zeit alles durch­einander geht! Lassen wir ruhig zwischendurch mal das lebendige Chaos zu! Und immer gerne: Zwischenrufe – vor allem, wenn sie die Runde zum Lachen bringen!


QUELLEN
KNAPP Natalie, Kompass neues Denken. Wie wir uns in einer unübersichtlichen Welt orientieren können, Reinbek bei Hamburg 2013
MANITONQUAT, Der Weg des Kreises, Extertal 2000
PAULUS G. / SCHROTTA S. / VISOTSCHNIG E., Systemisches Konsensieren. Der Schlüssel zum gemeinsamen Erfolg, Holzkirchen 2009; siehe auch:
www.sk-prinzip.eu
TUCHOLSKY Kurt, Der Mensch. Ein Schulaufsatz von Kaspar Hauser. In: Die Weltbühne. 27. Jahrgang 1931, Nummer 24, Seite 889–890; auch in: Lerne lachen ohne zu weinen, Berlin 1932,
https://de.wikisource.org/wiki/Der_Mensch_(Tucholsky)