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Thilo Bode
Die Essensfälscher

Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen




Frankfurt am Main 2010 (Fischer); 224 Seiten; ISBN: 978-3-10-004308-5






Noch nie waren Lebensmittel so gut und sicher wie heute? Von wegen! Thilo Bode, Gründer der Verbraucherorganisation foodwatch, seziert die ausgebufften Strategien der Lebensmittelkonzerne. »Fitness«-Frühstücksflocken? Machen nicht fit, sondern fett. – Der traditionell und regional hergestellte Schwarzwälder Schinken? Stammt tatsächlich aus Massentierhaltung und kommt aus ganz Europa. »Gesunde« Pausensnacks für Kinder? Sind versteckte Zuckerbomben. – Bio-Apfelgetränke? Haben noch nie einen Apfel gesehen... Diese haarsträubenden Täuschungsmanöver haben System. Die Nahrungsmittelkonzerne sind an die Grenzen ihrer Wachstumsmöglichkeiten gestoßen. Also drehen sie uns mit milliardenschweren Werbe-Etats nur vermeintlich neue und bessere Produkte an. Diese gaukeln jedoch Qualität lediglich vor und gefährden zudem oft genug unsere Gesundheit. Bode nennt Ross und Reiter dieses ganz »legalen Betrugs« und nimmt Lebensmittel ins Visier, die wir alle kennen.


Thilo Bode


geboren 1947, studierte Soziologie und Volkswirtschaft. 1989 wurde er Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, 1995 von Greenpeace International. 2002 gründete er in Berlin die Verbraucherrechtsorganisation foodwatch, die er heute leitet. Thilo Bode ist Autor mehrerer Bücher. 2003 erschien »Die Demokratie verrät ihre Kinder«, seine Streitschrift »Abgespeist« (2007) wurde zum Bestseller. 2009 wurde Thilo Bode von der Schwab Stiftung zum » Social Entrepreneur des Jahres « gewählt.


Inhaltsverzeichnis


Vorwort



1. Die große Irreführung als Wachstumsstrategie der Lebensmittelkonzerne



2. Traumfabrik Essen – Wellness, Gesundheit, Schönheit, Schlankheit



3. Auf der Suche nach der verlorenen Qualität – die Traditionslüge



4. Wachstum der Großen auf Kosten der Kleinen – die Zuckerlüge



5. Moderne Märchen: Unternehmerische „Verantwortung“ für die Rettung der Welt



6. Die Bio-Illusion als Wachstumsnische



7. Die Kapitulation der Kontrolleure



8. Wie eine verantwortungslose Industrie zur Verantwortung gezogen werden muss



Achtung Irreführung






Danksagung
Quellenverzeichnis





Leseprobe


Vorwort






Anfang 2010 war ich zum »World Economic Forum« eingeladen. Zu jenem Treffen der Mächtigen und Reichen aus Politik und Wirtschaft, die jedes Jahr im Schweizerischen, Davos für ein paar Tage die Lage der Welt erörtern, wird auch eine Handvoll Vertreter von Nichtregierungsorganisationen gebeten. Den Titel der Veranstaltung im Kopf »Improve the State of the World: Rethink, Redesign, Rebuild« –, war ich neugierig zu erfahren, worüber die politischen und wirtschaftlichen »Führer«, die Bill Gates, Bill Clintons und Josef Ackermanns dieser Welt, im Jahr eins nach der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten diskutieren, wie sie auftreten, welche Signale sie an die Welt senden würden.

Am Abend des zweiten Tages wollte ich zurück in mein Hotel, die »Schatzalp«, ein ehemaliges Lungensanatorium, bekannt aus Thomas Manns »Zauberberg«, nur erreichbar über eine Standseilbahn. Hinter mir lag ein Konferenz-Tag, der mich zunehmend ernüchtert hatte. An der Talstation der Seilbahn wollte ich einen Fahrschein lösen, als mich der Schaffner aufklärte, ich müsse warten, die nächste Fahrt sei für irgendwelche Banker reserviert. Dasselbe erlebte ich, als ich schließlich eine Stunde später als geplant im Hotel ankam und noch etwas essen wollte: Auch hier erklärte man mir und einigen anderen verärgerten Gästen, dass sowohl das Hotelrestaurant als auch das Restaurant direkt nebenan von der Barclays Bank komplett reserviert seien – »geschlossene Gesellschaft«. Der Abend endete im verstaubten Hinterzimmer der »Schatzalp«, das einer Besenkammer glich – wir, die an diesem Abend unerwünschten Hausgäste, fanden uns wieder am Katzentisch der »geschlossenen« Banker-Gesellschaft.

Im weiteren Verlauf des »World Economic Forum« stach mir die Symbolik im Auftreten der Barclay's-Banker für große Teile der Wirtschaft immer drastischer ins Auge: Nur ein Jahr nach der Krise, die noch Jahrzehnte in Form astronomischer Staatsschulden weiterwirken wird, geben sich viele Unternehmensvertreter so abgehoben, elitär und arrogant wie eh und je. In Davos waren Nachdenklichkeit und Selbstzweifel Mangelware, keine Spur von »Rethink« und »Redesign«. In einer der Veranstaltungen sagte der Vorstandsvorsitzende einer der weltweit größten Banken ungeniert, Unternehmer zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass sie bereit seien, Risiken einzugehen – doch darüber, dass Unternehmer auch für das Risiko haften müssen, verlor dieser Mann kein Wort. Stattdessen hörte ich in Davos die alten Rezepte und Floskeln: Nur die Unternehmen könnten es richten, und zwar umso besser, je ungehinderter vom Staat sie agieren könnten. Das Wort Regulierung fiel, wenn überhaupt, im Ton eines freundlichen Appells – man müsste doch und sollte vielleicht mal – aber nicht im Sinne einer klaren Ansage politischer Notwendigkeiten.

Gemessen an den Beobachtungen von Davos liegt die Lebensmittelbranche, mit der ich mich seit acht Jahren intensiv beschäftige, voll im Trend. Ungeachtet von Gammelfleisch-Skandalen und aufgedeckten Preiskartellen, scheinbar unberührt von der Wut vieler Verbraucher über Mogelpackungen oder Käse- und Schinken-Imitate, betreibt die Lebensmittelbranche »business as usual«. Für »Rethink« und »Redesign« gäbe es tausend gute Gründe, doch die Unternehmenschefs und ihre Führungskräfte haben die Signale offenbar noch nicht verstanden. Die Branche behauptet munter, Lebensmittel seien so sicher und gut wie noch nie, und pocht auf die eigene Gesetzestreue.

Die Wirklichkeit sieht anders aus: Täglich täuschen Nahrungsmittelproduzenten und -händler uns Verbraucher mit angeblicher Spitzenqualität, die nur ein raffinierter Werbegag ist, täglich jubeln sie uns mit sogenanntem »functional food« Pseudo-Medikamente unter, deren einzige positive Wirkung sich in hohen Umsätzen der Industrie bemerkbar macht. Seit Jahren verhindert die Branche mit all ihrer Lobbymacht eine transparente Kennzeichnung ihrer Produkte, damit sie uns Erwachsenen, aber vor allem den Kindern, weiterhin Lebensmittel verkaufen kann, die viel zu viel Zucker, Salz und Fett enthalten und so zum gesellschaftlichen Megaproblem des Übergewichts beitragen.

Meine Erfahrungen mit der Lebensmittelbranche während der vergangenen Jahre bündelten sich beim »World Economic Forum« in Davos wie unter einem Brennglas: Die Politik muss sich wieder selbst stark machen gegen die Partikularinteressen von Weltkonzernen und Branchen; es muss Schluss sein mit dem »Weiter so« – in der Lebensmittelindustrie genauso wie in der Finanzbranche. Die Lebensmittelkonzerne müssen das tun, was ihre eigentliche Aufgabe ist, den Verbrauchern ehrliche, sichere und gute Nahrungsmittel anbieten.

Doch von alleine wird sich nichts ändern. Man muss sich vor Augen führen: Die Nahrungsmittelindustrie ist überaus mächtig. Mit 150 Milliarden Euro Umsatz gehört sie neben dem Maschinenbau, der Elektrotechnik, der Autoindustrie und der Chemleindustrie zu den fünf größten Wirtschaftszweigen in Deutschland. Kaum jemand weiß, dass das Werbebudget mit 2,8 Milliarden Euro größer ausfällt als der Etat der in diesem Bereich einschlägig bekannten Autoindustrie. Essen ist Big Business. Mit allen Konsequenzen. Die Nahrungsmittelindustrie handelt nach den Kriterien aller Wirtschaftsunternehmen, der Erfolg wird gemessen an der Rendite und am Wachstum. Doch dem Wachstum des Lebensmittelmarktes sind in unseren Industrieländern Grenzen gesetzt. Um diesem Wachstumsdilemma zu entgehen, sind die Lebensmittelkonzerne erfinderisch geworden: Täuschungs- und Irreführungsstrategien gehören zum ganz normalen Handwerk der Branche.

Dieses Buch zeigt, wie die große Irreführung funktioniert.

Denn jeder von uns isst und muss wissen, was uns die Essensfälscher auf die Teller packen. Als Verbraucher kann man die Macht der großen Lebensmittelkonzerne nicht brechen, das kann nur eine Politik, die die Industrie in ihre Schranken verweist. Vor allem brauchen wir wirksame verbraucherfreundliche Gesetze und einen Staat, der ihre Durchsetzung auch garantiert. Aber weil der Konkurrenzkampf auf dem Lebensmittelmarkt so groß ist, können wir Verbraucher den längst überfälligen Wandel anschieben. Beschwerden lohnen sich. Beispiele von Verbraucherprotesten zeigen, dass Konzerne in die Knie gehen. Und noch ein einfaches Mittel der Gegenwehr gibt es: Nichtkaufen.






Aus dem Kapitel
Die große Irreführung als Wachstumsstrategie der Lebensmittelkonzerne
(Farbige Hervorhebungen von E.W.)






Preiskartelle sind eine üble und eindeutig illegale Methode von Unternehmern, sich auf dem Rücken ihrer Kunden dem Wettbewerb zu entziehen. So weit, so schlimm, aber immerhin kann sich der getäuschte Verbraucher wenigstens damit trösten, dass aufgeflogene Kartellmitglieder gelegentlich stark zur Kasse gebeten werden und wohl auch einen gewissen Imageschaden hinnehmen müssen.

Doch Verbraucher werden mit anderen Methoden täglich millionenfach getäuscht und in die Irre geführt –, und zwar mit offizieller Duldung staatlicher Organe. Diese ganz legale Täuschung hat System, sie gehört schon so selbstverständlich zur Struktur der Lebensmittelwirtschaft in Deutschland, dass sie vielen gar nicht mehr auffällt. Das Lebensmittelrecht dient als Fassade, auf der zwar plakativ formuliert ist, dass die »Täuschung und Irreführung« des Verbrauchers verboten ist. Doch zugleich wird diese Norm fortwährend von Lebensmittelproduzenten und -händlern unterlaufen, die von der Politik gedeckt und auch durch die Justiz sanktioniert werden. Ein prominentes Beispiel dafür lieferte das Kölner Verwaltungsgericht Anfang 2010. Nur elf Tage bevor beim »Lebensmittel-genießen-Vertrauen«-Event in Köln Cheflobbyist Jürgen Abraham hymnisch in den Saal rief, »wir wollen den ehrlichen Dialog mit dem Verbraucher, wir haben nichts zu verheimlichen«, stellte das Kölner Verwaltungsgericht die Heimlichtuerei der Branche über das Schutzbedürfnis des Verbrauchers. Zu befinden hatten die Richter über die Klage, die Sitzungsprotokolle der Lebensmittelbuchkommission zu veröffentlichen. Die Lebensmittelbuchkommission kennt kein normaler Verbraucher in Deutschland, geschweige denn weiß er, was diese Kommission treibt. Dabei erfüllt das obskure Gremium eine hochoffizielle Aufgabe. Die Kommission ist beim Bundesernährungs- und Verbraucherschutzministerium angesiedelt und verantwortlich für die »Bibel« der deutschen Nahrungsmittelindustrie – eben das Lebensmittelbuch. Das Buch legt in seinen »Leitsätzen« sogenannte »Verkehrsbezeichnungen« von Lebensmitteln fest. Die Leitsätze und Verkehrsbezeichnungen regeln zum Beispiel, dass »Brot« nicht gebacken werden muss, dass »Fruchtkremfüllungen« nicht aus Frucht bestehen müssen oder dass in den »Heringssalat« auch Rindfleisch gemischt werden darf. Der Leitsatz für Puddings besagt: »Schokoladenpudding und Schokoladendessert sowie gleichsinnig bezeichnete verwandte Erzeugnisse (...) enthalten mindestens 5 g Kakaopulver (...)«; »Die Mengenangaben beziehen sich auf 500 Gramm ( ... ).« Damit ist amtlich für in Ordnung befunden, dass Schokopudding nicht mehr als 1 Prozent Kakao enthalten muss, aber immer noch Schokopudding heißen darf. Im Lebensmittelbuch stehen viele solcher fragwürdigen, absurden Leitsätze, denen gemein ist, dass sie vor allem den Herstellern nützen, nicht den Verbrauchern. Ein Leitsatz legitimiert etwa, dass »Schinkenbrot« keinen Schinken enthalten muss (»Ein Zusatz von Schinken ist nicht üblich«). Ein anderer Leitsatz sanktioniert den Verkauf von »Kartoffelsalat«, der nur zu 20 Prozent aus Kartoffeln besteht. Daran gemessen muss man froh sein, dass für Wurstsalat, wenn er mit Speiseöl und/oder Essig zubereitet wird, immerhin ein Mindestanteil von 50 Prozent Wurst vorgeschrieben ist; allerdings sinkt der Prozentsatz auf magere 25 Prozent »bei der Zubereitung mit Mayonnaise«. Ein anderer Leitsatz erlaubt die groteske Praxis, dass »Muskeln und Muskelgruppen, die aus dem Zusammenhang gelöst worden sind (...), ohne besonderen Hinweis zu größeren Schinken zusammengefügt« werden dürfen; mit anderen Worten: es ist erlaubt, auch zusammengeklebte Fleischteile als »Schinken« anzubieten, ungeachtet der Tatsache, dass sich viele Verbraucher unter Schinken ein originäres Stück Fleisch vorstellen. Man müsste lachen und die Geschichte als » Geheimkommando Kartoffelsalat « verspotten, wenn es nicht so beschämend wäre: Mit dem Segen einer ausgerechnet vom Verbraucherschutzministerium berufenen Kommission wird hier offiziell Verbrauchertäuschung und -irreführung zum Nutzen der Lebensmittelindustrie praktiziert. Denn derlei Leitsätze sind wie geschaffen für die Praxis vieler Produzenten, ihren verarbeiteten Lebensmitteln bestimmte teurere Inhaltsstoffe in möglichst geringem Anteil beizugeben und durch billigere Füll- oder Ersatzstoffe und durch den massiven Einsatz von Zusatzstoffen geschmacklich zu kompensieren. Die unausweichliche Folge: Heute haben viele Lebensmittel eine Scheinqualität: Sie scheinen viel hochwertiger, als sie tatsächlich sind. Massiver Werbeaufwand sorgt dafür, dass dieser schleichende Qualitätsverlust vom Verbraucher nicht mehr wahrgenommen werden kann. Nicht nur, dass die im Prinzip öffentlichen Leitsätze den allermeisten Verbrauchern völlig unbekannt sind; es kommt hinzu, dass die Sitzungen der Lebensmittelbuchkommission unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden und die Sitzungsprotokolle – nach der Klageabweisung durch das Kölner Verwaltungsgericht – auch weiterhin unter Verschluss bleiben. Ein ungeheuerlicher Vorgang: Da sitzen 32 von einem Ministerium ernannte Kommissionsmitglieder zusammen, darunter Lobbyisten wie der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde, der Deutsche Fleischer Verband und der Bauernverband sowie die Einzelunternehmen Unilever und bofrost, aber auch die staatlich finanzierten Verbraucherzentralen, und bestimmen wie eine Art Parlament über Normen für die gesamte Lebensmittelwirtschaft mit weitreichenden Konsequenzen für Millionen von Verbrauchern. Und dennoch erlegt ihnen die Geschäftsordnung ausdrücklich eine Verschwiegenheitspflicht auf. Der Öffentlichkeit bleibt damit vollständig verborgen, wer zum Beispiel mit welchen Argumenten dafür stritt, dass auch zusammengeklebte Fleischteile als »Schinken« verkauft werden dürfen. Zur Freude von Ministerium und Lobbyisten begründete das Verwaltungsgericht seine Klageabweisung mit dem bizarren Argument, dass »ohne die gebotene Vertraulichkeit die offene Meinungsbildung und neutrale Entscheidungsfindung beeinträchtigt« würden. Doch » offene Meinungsbildung« ist hinter verschlossenen Türen unmöglich. Völlig an der Realität vorbei geht auch die Meinung des Gerichts, in der Kommission würde eine »neutrale Entscheidungsfindung« getroffen. Weder Fleischer- noch Bauernlobbyisten noch Manager von Unilever oder bofrost sind neutrale Berater, sondern vertreten ganz bestimmte Interessen. Niemand wirft ihnen das vor, es ist ihr Job. Aber gerade deshalb muss in einer Regierungskommission ein offener und öffentlicher Streit der Meinungen und Argumente geführt werden können. Stattdessen werden gesetzlich verankerte Informationsrechte der Verbraucher durch ein »Schweigegelübde« in der Satzung einer Kommission einfach ausgehebelt. Werbung um das Vertrauen der Verbraucher sieht eindeutig anders aus.

(Seite 19 ff)


Siehe auch:


www.abgespeist.deentlarvt Werbelügen auf Lebensmitteln