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Anfang
2010 war ich zum »World Economic Forum« eingeladen.
Zu jenem Treffen der Mächtigen und Reichen aus Politik und
Wirtschaft, die jedes Jahr im Schweizerischen, Davos für ein
paar Tage die Lage der Welt erörtern, wird auch eine
Handvoll Vertreter von Nichtregierungsorganisationen gebeten. Den
Titel der Veranstaltung im Kopf »Improve the State of the
World: Rethink, Redesign, Rebuild« –, war ich
neugierig zu erfahren, worüber die politischen und
wirtschaftlichen »Führer«, die Bill Gates, Bill
Clintons und Josef Ackermanns dieser Welt, im Jahr eins nach der
schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten
diskutieren, wie sie auftreten, welche Signale sie an die Welt
senden würden.
Am Abend des zweiten Tages wollte ich
zurück in mein Hotel, die »Schatzalp«, ein
ehemaliges Lungensanatorium, bekannt aus Thomas Manns
»Zauberberg«, nur erreichbar über eine
Standseilbahn. Hinter mir lag ein Konferenz-Tag, der mich
zunehmend ernüchtert hatte. An der Talstation der Seilbahn
wollte ich einen Fahrschein lösen, als mich der Schaffner
aufklärte, ich müsse warten, die nächste Fahrt sei
für irgendwelche Banker reserviert. Dasselbe erlebte ich,
als ich schließlich eine Stunde später als geplant im
Hotel ankam und noch etwas essen wollte: Auch hier erklärte
man mir und einigen anderen verärgerten Gästen, dass
sowohl das Hotelrestaurant als auch das Restaurant direkt nebenan
von der Barclays Bank komplett reserviert seien –
»geschlossene Gesellschaft«. Der Abend endete im
verstaubten Hinterzimmer der »Schatzalp«, das einer
Besenkammer glich – wir, die an diesem Abend unerwünschten
Hausgäste, fanden uns wieder am Katzentisch der
»geschlossenen« Banker-Gesellschaft.
Im
weiteren Verlauf des »World Economic Forum« stach mir
die Symbolik im Auftreten der Barclay's-Banker für große
Teile der Wirtschaft immer drastischer ins Auge: Nur ein Jahr
nach der Krise, die noch Jahrzehnte in Form astronomischer
Staatsschulden weiterwirken wird, geben sich viele
Unternehmensvertreter so abgehoben, elitär und arrogant wie
eh und je. In Davos waren Nachdenklichkeit und Selbstzweifel
Mangelware, keine Spur von »Rethink« und »Redesign«.
In einer der Veranstaltungen sagte der Vorstandsvorsitzende einer
der weltweit größten Banken ungeniert, Unternehmer
zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass sie bereit seien,
Risiken einzugehen – doch darüber, dass Unternehmer
auch für das Risiko haften müssen, verlor dieser Mann
kein Wort. Stattdessen hörte ich in Davos die alten Rezepte
und Floskeln: Nur die Unternehmen könnten es richten, und
zwar umso besser, je ungehinderter vom Staat sie agieren könnten.
Das Wort Regulierung fiel, wenn überhaupt, im Ton eines
freundlichen Appells – man müsste doch und sollte
vielleicht mal – aber nicht im Sinne einer klaren Ansage
politischer Notwendigkeiten.
Gemessen an den Beobachtungen
von Davos liegt die Lebensmittelbranche, mit der ich mich seit
acht Jahren intensiv beschäftige, voll im Trend. Ungeachtet
von Gammelfleisch-Skandalen und aufgedeckten Preiskartellen,
scheinbar unberührt von der Wut vieler Verbraucher über
Mogelpackungen oder Käse- und Schinken-Imitate, betreibt die
Lebensmittelbranche »business as usual«. Für
»Rethink« und »Redesign« gäbe es
tausend gute Gründe, doch die Unternehmenschefs und ihre
Führungskräfte haben die Signale offenbar noch nicht
verstanden. Die Branche behauptet munter, Lebensmittel seien so
sicher und gut wie noch nie, und pocht auf die eigene
Gesetzestreue.
Die Wirklichkeit sieht anders aus: Täglich
täuschen Nahrungsmittelproduzenten und -händler uns
Verbraucher mit angeblicher Spitzenqualität, die nur ein
raffinierter Werbegag ist, täglich jubeln sie uns mit
sogenanntem »functional food« Pseudo-Medikamente
unter, deren einzige positive Wirkung sich in hohen Umsätzen
der Industrie bemerkbar macht. Seit Jahren verhindert die Branche
mit all ihrer Lobbymacht eine transparente Kennzeichnung ihrer
Produkte, damit sie uns Erwachsenen, aber vor allem den Kindern,
weiterhin Lebensmittel verkaufen kann, die viel zu viel Zucker,
Salz und Fett enthalten und so zum gesellschaftlichen Megaproblem
des Übergewichts beitragen.
Meine Erfahrungen mit der
Lebensmittelbranche während der vergangenen Jahre bündelten
sich beim »World Economic Forum« in Davos wie unter
einem Brennglas: Die Politik muss sich wieder selbst stark machen
gegen die Partikularinteressen von Weltkonzernen und Branchen; es
muss Schluss sein mit dem »Weiter so« – in der
Lebensmittelindustrie genauso wie in der Finanzbranche. Die
Lebensmittelkonzerne müssen das tun, was ihre eigentliche
Aufgabe ist, den Verbrauchern ehrliche, sichere und gute
Nahrungsmittel anbieten.
Doch von alleine wird sich nichts
ändern. Man muss sich vor Augen führen: Die
Nahrungsmittelindustrie ist überaus mächtig. Mit 150
Milliarden Euro Umsatz gehört sie neben dem Maschinenbau,
der Elektrotechnik, der Autoindustrie und der Chemleindustrie zu
den fünf größten Wirtschaftszweigen in
Deutschland. Kaum jemand weiß, dass das Werbebudget mit 2,8
Milliarden Euro größer ausfällt als der Etat der
in diesem Bereich einschlägig bekannten Autoindustrie. Essen
ist Big Business. Mit allen Konsequenzen. Die
Nahrungsmittelindustrie handelt nach den Kriterien aller
Wirtschaftsunternehmen, der Erfolg wird gemessen an der Rendite
und am Wachstum. Doch dem Wachstum des Lebensmittelmarktes sind
in unseren Industrieländern Grenzen gesetzt. Um diesem
Wachstumsdilemma zu entgehen, sind die Lebensmittelkonzerne
erfinderisch geworden: Täuschungs- und
Irreführungsstrategien gehören zum ganz normalen
Handwerk der Branche.
Dieses Buch zeigt, wie die große
Irreführung funktioniert.
Denn jeder von uns isst und
muss wissen, was uns die Essensfälscher auf die Teller
packen. Als Verbraucher kann man die Macht der großen
Lebensmittelkonzerne nicht brechen, das kann nur eine Politik,
die die Industrie in ihre Schranken verweist. Vor allem brauchen
wir wirksame verbraucherfreundliche Gesetze und einen Staat, der
ihre Durchsetzung auch garantiert. Aber weil der Konkurrenzkampf
auf dem Lebensmittelmarkt so groß ist, können wir
Verbraucher den längst überfälligen Wandel
anschieben. Beschwerden lohnen sich. Beispiele von
Verbraucherprotesten zeigen, dass Konzerne in die Knie gehen. Und
noch ein einfaches Mittel der Gegenwehr gibt es: Nichtkaufen.
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Preiskartelle
sind eine üble und eindeutig illegale Methode von
Unternehmern, sich auf dem Rücken ihrer Kunden dem
Wettbewerb zu entziehen. So weit, so schlimm, aber immerhin kann
sich der getäuschte Verbraucher wenigstens damit trösten,
dass aufgeflogene Kartellmitglieder gelegentlich stark zur Kasse
gebeten werden und wohl auch einen gewissen Imageschaden
hinnehmen müssen.
Doch Verbraucher werden mit anderen
Methoden täglich millionenfach getäuscht und in die
Irre geführt –, und zwar mit offizieller Duldung
staatlicher Organe. Diese ganz legale Täuschung hat System,
sie gehört schon so selbstverständlich zur Struktur der
Lebensmittelwirtschaft in Deutschland, dass sie vielen gar nicht
mehr auffällt. Das Lebensmittelrecht dient als Fassade, auf
der zwar plakativ formuliert ist, dass die »Täuschung
und Irreführung« des Verbrauchers verboten ist. Doch
zugleich wird diese Norm fortwährend von
Lebensmittelproduzenten und -händlern unterlaufen, die von
der Politik gedeckt und auch durch die Justiz sanktioniert
werden. Ein prominentes Beispiel dafür lieferte das Kölner
Verwaltungsgericht Anfang 2010. Nur elf Tage bevor beim
»Lebensmittel-genießen-Vertrauen«-Event in Köln
Cheflobbyist Jürgen Abraham hymnisch in den Saal rief, »wir
wollen den ehrlichen Dialog mit dem Verbraucher, wir haben nichts
zu verheimlichen«, stellte das Kölner
Verwaltungsgericht die Heimlichtuerei der Branche über das
Schutzbedürfnis des Verbrauchers. Zu befinden hatten die
Richter über die Klage, die Sitzungsprotokolle der
Lebensmittelbuchkommission zu
veröffentlichen. Die Lebensmittelbuchkommission kennt kein
normaler Verbraucher in Deutschland, geschweige denn weiß
er, was diese Kommission treibt. Dabei erfüllt das obskure
Gremium eine hochoffizielle Aufgabe. Die Kommission ist beim
Bundesernährungs- und Verbraucherschutzministerium
angesiedelt und verantwortlich für die »Bibel«
der deutschen Nahrungsmittelindustrie – eben das
Lebensmittelbuch. Das Buch
legt in seinen »Leitsätzen«
sogenannte »Verkehrsbezeichnungen«
von Lebensmitteln fest. Die Leitsätze und
Verkehrsbezeichnungen regeln zum Beispiel, dass »Brot«
nicht gebacken werden muss, dass »Fruchtkremfüllungen«
nicht aus Frucht bestehen müssen oder dass in den
»Heringssalat« auch Rindfleisch gemischt werden darf.
Der Leitsatz für Puddings besagt: »Schokoladenpudding
und Schokoladendessert sowie gleichsinnig bezeichnete verwandte
Erzeugnisse (...) enthalten mindestens 5 g Kakaopulver (...)«;
»Die Mengenangaben beziehen sich auf 500 Gramm ( ... ).«
Damit ist amtlich für in Ordnung befunden, dass
Schokopudding nicht mehr als 1 Prozent Kakao enthalten muss, aber
immer noch Schokopudding heißen darf. Im Lebensmittelbuch
stehen viele solcher fragwürdigen, absurden Leitsätze,
denen gemein ist, dass sie vor allem den Herstellern nützen,
nicht den Verbrauchern. Ein Leitsatz legitimiert etwa, dass
»Schinkenbrot« keinen Schinken enthalten muss (»Ein
Zusatz von Schinken ist nicht üblich«). Ein anderer
Leitsatz sanktioniert den Verkauf von »Kartoffelsalat«,
der nur zu 20 Prozent aus Kartoffeln besteht. Daran gemessen muss
man froh sein, dass für Wurstsalat, wenn er mit Speiseöl
und/oder Essig zubereitet wird, immerhin ein Mindestanteil von 50
Prozent Wurst vorgeschrieben ist; allerdings sinkt der
Prozentsatz auf magere 25 Prozent »bei der Zubereitung mit
Mayonnaise«. Ein anderer Leitsatz erlaubt die groteske
Praxis, dass »Muskeln und Muskelgruppen, die aus dem
Zusammenhang gelöst worden sind (...), ohne besonderen
Hinweis zu größeren Schinken zusammengefügt«
werden dürfen; mit anderen Worten: es ist erlaubt, auch
zusammengeklebte Fleischteile als »Schinken«
anzubieten, ungeachtet der Tatsache, dass sich viele Verbraucher
unter Schinken ein originäres Stück Fleisch vorstellen.
Man müsste lachen und die Geschichte als »
Geheimkommando Kartoffelsalat « verspotten, wenn es nicht
so beschämend wäre: Mit dem Segen
einer ausgerechnet vom Verbraucherschutzministerium berufenen
Kommission wird hier offiziell Verbrauchertäuschung und
-irreführung zum Nutzen der Lebensmittelindustrie
praktiziert. Denn derlei Leitsätze sind wie
geschaffen für die Praxis vieler Produzenten, ihren
verarbeiteten Lebensmitteln bestimmte teurere Inhaltsstoffe in
möglichst geringem Anteil beizugeben und durch billigere
Füll- oder Ersatzstoffe und durch den massiven Einsatz von
Zusatzstoffen geschmacklich zu kompensieren. Die unausweichliche
Folge: Heute haben viele Lebensmittel eine Scheinqualität:
Sie scheinen viel hochwertiger, als sie tatsächlich sind.
Massiver Werbeaufwand sorgt dafür, dass dieser schleichende
Qualitätsverlust vom Verbraucher nicht mehr wahrgenommen
werden kann. Nicht nur, dass die im Prinzip
öffentlichen Leitsätze den allermeisten Verbrauchern
völlig unbekannt sind; es kommt hinzu, dass die Sitzungen
der Lebensmittelbuchkommission unter Ausschluss der
Öffentlichkeit stattfinden und die Sitzungsprotokolle –
nach der Klageabweisung durch das Kölner Verwaltungsgericht
– auch weiterhin unter Verschluss bleiben. Ein
ungeheuerlicher Vorgang: Da sitzen 32 von einem Ministerium
ernannte Kommissionsmitglieder zusammen, darunter Lobbyisten wie
der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde, der
Deutsche Fleischer Verband und der Bauernverband sowie die
Einzelunternehmen Unilever und bofrost, aber auch die staatlich
finanzierten Verbraucherzentralen, und bestimmen wie eine Art
Parlament über Normen für die gesamte
Lebensmittelwirtschaft mit weitreichenden Konsequenzen für
Millionen von Verbrauchern. Und dennoch erlegt ihnen die
Geschäftsordnung ausdrücklich eine
Verschwiegenheitspflicht auf. Der Öffentlichkeit
bleibt damit vollständig verborgen, wer zum Beispiel mit
welchen Argumenten dafür stritt, dass auch zusammengeklebte
Fleischteile als »Schinken« verkauft werden dürfen.
Zur Freude von Ministerium und Lobbyisten begründete das
Verwaltungsgericht seine Klageabweisung mit dem bizarren
Argument, dass »ohne die gebotene Vertraulichkeit die
offene Meinungsbildung und neutrale Entscheidungsfindung
beeinträchtigt« würden. Doch » offene
Meinungsbildung« ist hinter verschlossenen Türen
unmöglich. Völlig an der Realität vorbei geht auch
die Meinung des Gerichts, in der Kommission würde eine
»neutrale Entscheidungsfindung« getroffen. Weder
Fleischer- noch Bauernlobbyisten noch Manager von Unilever oder
bofrost sind neutrale Berater, sondern vertreten ganz bestimmte
Interessen. Niemand wirft ihnen das vor, es ist ihr Job. Aber
gerade deshalb muss in einer Regierungskommission ein offener und
öffentlicher Streit der Meinungen und Argumente geführt
werden können. Stattdessen werden gesetzlich verankerte
Informationsrechte der Verbraucher durch ein »Schweigegelübde«
in der Satzung einer Kommission einfach ausgehebelt. Werbung um
das Vertrauen der Verbraucher sieht eindeutig anders aus.
(Seite
19 ff)
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