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Renate Börger
35 Jahre Auroville

Eine Vision in Arbeit


Niedertaufkirchen 2004 (connection); 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, 251 Seiten; ISBN: 3-928248-01-4


Erstausgabe 1993 unter dem Titel „Auroville – Eine Vision blüht






Das internationale Stadtprojekt Auroville im Süden Indiens, das 2003 sein 35-jähriges Bestehen feierte, wird hier in seiner turbulenten Geschichte und in vielen Einzelportraits dokumentiert. Beginnend mit der Vision der Französin Mira Alfassa, genannt »Die Mutter«, und inspiriert von der Philosophie des indischen Weisen Sri Aurobindo führte der Weg zu der heutigen Gemeinschaft von 1.600 Menschen, die zunehmend weltweite Beachtung findet.

Rerlate Börgers Reportagen und Interviews portraitieren die Einwohner von Auroville in ihrem Bemühen, die Gegensätze zwischen erster und dritter Weit, Ökonomie und Ökologie, Spiritualität und Alltag zu vereinen.

Die lebendige Schilderung ihrer Liebe und Einsamkeit, ihrer Erfolge und Misserfolge, ihrer Höhen und Tiefen lässt uns teilnehmen an diesem mutigen Experiment einer friedlichen multikulturellen Gesellschaft.


Renate Börger


geb. 1954, Journalistin, seit 1984 „Feste Freie Mitarbeiterin“ beim Bayerischen Rundfunk in der Abteilung Wissenschaft und Bildung und beim Familienfunk. Darüber hinaus ist sie aktiv bei der globalisierungskritischen Organisation Attac und der E.F.Schumacher-Gesellschaft für politische Ökologie.


Inhaltsverzeichnis


Persönliches Vorwort






Eine Vision in Arbeit




Die erste und die dritte Welt Tür an Tür...




Ein fotografischer Streifzug



Aurovilles Geschichte




Am Anfang war ein Traum




Auroville wird geboren




Die Gründerjahre 1968 bis 1973




Vom Baum zum Wald




Die Mutter entlässt ihre Kinder




Die Krisenjahre nach 1973




Endlich eine neue, stabile Struktur



Auroville heute




Das Matrimandir – die Seele Aurovilles



Ankommen in Auroville




Karin



Gastgeberland Indien




Die Einheimischen




Auroville und die Wiederbelebung tamilischer Kultur




Auroville und seine Hausangestellten



Ökomodell Auroville? Ja, aber!



Projekte, Projekte



Meetings, Macht und Meinungen



Die Ökonomie oder der Yoga der Arbeit




Das liebe böse Geld



Auroville und seine ManagerInnen




Soft sein genügt nicht“




Auroville im Computerzeitalter




Die Frage nach dem Gemeinschaftstopf




Auroville und die Landwirtschaft – Herbert (und Rolf)



Lieben in Auroville




Der Geschlechtstrieb – ein Relikt?




Einsamkeitstrainiert in der Beziehungskiste Auroville




Ein Gespräch unter Frauen: Gibt es eine Frauenfrage?



Spiritualität in Auroville: religiös, aber ohne Religion




Paolo



Wohnen in Auroville




Stadtentwicklung im Diskurs




Bauherrln sein in Auroville – Chinmayi und Dirk



Lernen in Auroville




Vom Träumen, Lernen und Lachen




Kindergarten und Schule




Das pädagogische Konzept




Jugendkrisen aurovillianisch – Chali, Samrat, Selvaraj, Dawn, Fabian,




Auroville für VoluntaristInnen – Christiane




KünstlerIn sein in Auroville – Chantal und Coriolan




In Auroville erwachsen werden – Miriam




Lukas und Merlin



Auroville und die Welt




Das große Ziel der Human Unity




Auroville ist der Welt verpflichtet – Kireet Joshi




Kommunikation ist das Wesentliche – Aster Patell




Die Frage nach der Seele



Alt werden in Auroville



Aurovilles geistige Eltern




Sri Aurobindo, Lebensstationen und Lehre




Mira Alfassa, Lebensstationen der Mutter







Ratgeber für Auroville-Besucher



Stadtplan von Auroville


Leseprobe


Ein persönliches Vorwort






Es gäbe verständliche Gründe, sich von Auroville abzuwenden:






Viele Ideale blieben unverwirklicht.



Der neue integrale Mensch ist noch ziemlich der alte.



Von einer vorbildlichen Ökostadt kann noch nicht die Rede sein.



Man trifft auf koloniales Gebaren und auf kaum lösbare Probleme mit den einheimischen Tamilen. Die erste und die dritte Welt treffen schmerzhaft aufeinander.



Auroville hängt noch immer zu sehr am Tropf von wohlwollenden Sponsoren und Projekt-Geldern, von Entwicklungshilfe und großzügigen Verwandten, von Renten und Erbschaften aus der verlassenen Heimat.






Es gibt gute Gründe, sich Auroville trotzdem interessiert und gespannt zuzuwenden:






Manche Ideale werden beharrlich umgesetzt, die meisten Aurovillianerlnnen sind selbstehrlich Suchende und haben das innige Streben nach einem tief sinnvollen Leben trotz reichlicher Widrigkeiten nicht aufgegeben.



Es wäre vielleicht sowieso besser, keinen neuen Menschen zu erwarten. Vielleicht und hoffentlich ist es auch gar nicht nötig.



Auroville ist dank gelungener Wiederaufforstung ein grünes Paradies, ganze Vogelorchester zwitschern im Laub kräftiger Bäume, die Schatten und Früchte schenken und den kostbaren Monsunregen im gut verwurzelten Erdreich halten. Vor 35 Jahren war das erodierte Land nackt und blank der gleißenden Sonne ausgesetzt und konnte auch die Einheimischen nicht mehr nähren.



Man trifft auf viele engagierte Menschen, denen ein freundschaftliches und wechselseitiges Miteinander von Tamilen und Aurovillianern ein Herzensanliegen ist.



Einige beachtenswerte Projekte und Anliegen auf dem Weg zu einem internationalen Campus rechtfertigen den unterstützenden Fluss von Geldern.



Viele Experimente rund um die wesentlichen Fragen von Stadtentwicklung, Lebensstil, Geld, Verdienst, Eigentum und Arbeit machen Auroville zu einem aufregenden Ort. Aufregend, weil er voller offener Prozesse, voller Überraschungen ist, weil eine große Gestaltungsfreiheit gegeben ist. Und die wird auch genutzt.



In Auroville liegen Scheitern und Gelingen verdichtet beieinander, das macht es menschlich. Es ist immerhin eines der wenigen bestehenden Groß-Experimente auf der Welt, wo ohne Rigorosität an einem alternativen Gemeinwesen gebaut wird, in dem die wesentlichen Fragen von Individualität und Gemeinschaft zukunftsträchtig gestellt und in Lebenspraxis umgesetzt werden.






Als Außenbeobachterin ist es mein Wunsch, Auroville's Scheitern und Gelingen eher nüchtern zu beschreiben. Ich tue dies ohne eigenen spirituellen Hintergrund, eher aus einem politischen Fragen heraus, dem Fragen nach würdigen Formen des Lebens und Liebens, dem Fragen nach dem menschlichen Emanzipationsauftrag im Weltengang, im Zusammenleben und in der Ökonomie, trotz oder gerade wegen der globalisierten Welt- und Wirtschaftszusammenhänge, die die Welt in einen kriegerischen Warenumschlagplatz zu verwandeln drohen.






Insgesamt sieben Monate war ich im Laufe von 15 Jahren in Auroville, am längsten vor zehn Jahren, als die erste Auflage entstand. Und 2003 – für diese Neuauflage – ein viertes Mal für einige Wochen.






Herzlich und dankbar verbunden fühle ich mich den Menschen, die mir ihre Lebensgeschichten anvertraut haben und deren Abenteuermut und seelische Entschlossenheit mich tief beeindrucken.






Diesen Lebensgeschichten werde ich in ihrer biografischen Komplexität keineswegs gerecht, sondern habe exemplarische Aspekte momenthaft herausgegriffen. In meiner subjektiven Auswahl dieser Aspekte ging es mir darum, die Mannigfaltigkeit des aurovillianischen Lebens in einer Art Streifzug einzufangen.






Mein herzlicher Dank gilt den Aurovillianerlnnen, die mir auch auf „nervige“ Fragen geduldig Rede und Antwort gestanden haben! Zum Beispiel Mauna, Liane, Njal, Gundolf, Rolf, Manfred, Peter, Chinmayi, Ruth, Ratna, Ajit, Heinrich, Chantal und Coreolan, sowie Marianne, Friedrike, Wolfgang und Godfrey vom deutschen Auroville-Verein.






Ich bin sehr gespannt, wie es mit Auroville weiter geht und hoffe, mit diesem Buch zum Kennenlernen dieses eigensinnigen Projekts beizutragen!






München, im September 2003
Renate Börger









Eine Vision in Arbeit






Man könnte sie die anderen 68er nennen, die Menschen, die es vor 35 Jahren nach Auroville zog, um eine Zukunftstadt für WeltbürgerInnen zu bauen.






Die anderen 68er flüchteten sowohl von der anti-kapitalistischen »Nieder mit ... !«- Front, als auch vom Kampffeld der Karrieren. Und zum Öko-Bauern fehlte die ländliche Ambition. War da nicht noch etwas anderes? Sie brachen auf, um in Indien nach den Wurzeln des Geistes zu schürfen, der in den westlichen Welten verloren gegangen war. Zwar entstanden zeitgleich gerade auch im Westen esoterische Spielwiesen, aber die konnten sie nicht so recht ernst nehmen, sie waren ihnen zu regressiv, und Osho‘s Poona, das ein wenig später entstand, war ihnen zu vordergründig expressiv. Mit der Idee Auroville jedoch lockte ein Abenteuer für urbane Geist- und Tathungrige. Westliches Ich und östliche Transzendenz sollten hier in größtmöglicher Gestaltungsfreiheit verschmelzen lassen. Da ging es um eine richtige Pionierstadt mit allem drum und dran, mit Ökonomie, Landwirtschaft, Kultur und Spiritualität, und nicht nur um ein Meditations- oder Therapiezentrum! Diese Stadt sollte für die Welt ein Modell, ein leuchtendes Vorbild für kosmopolitische Zukunft werden, und was gibt es aufregenderes, als Teil einer solchen Utopie zu sein?






Die Lehre des integralen Yoga von Sri Aurobindo bot erstmalig eine Synthese aus moderner Evolutionsforschung und östlichen Weisheitslehren. Er hatte auf hinduistischem Hintergrund ein ähnliches Denkgebäude herausgearbeitet wie in der Schweiz der Bewusstseinsforscher Jean Gebser und in Frankreich – auf katholischem Grund – der Franzose Teilhard de Chardin. Die Menschheit durchschreitet demnach Stufen der geistigen Entwicklung, an deren Ende die jetzige mentale Epoche des vitalen Ichs abgelöst wird von der supramentalen Epoche, was bei Teilhard de Chardin etwa der Weg zum Punkt Omega ist und bei Jean Gebser – wie aktuell bei Ken Wilber – das integrale Zeitalter. Integral, das soll mehr sein als eine Synthese, mehr als einfach nur eine Zusammenfügung. Es ist die Fähigkeit, vorherige Seinsstufen in ständigen Hin- und Herbewegungen des Wahrnehmens und Würdigens mit in den neuen Seinsszustand hinein zu nehmen, also einerseits aufzusteigen, andererseits beim langfristigen und unaufhörlichen Aufstieg immer wieder auch herabzusteigen und das Vorherige mit hinauf zu tragen, um es weiter oben zu integrieren und zu wandeln. Diese Fähigkeit des ständigen inneren Integrierens – mit Hilfe von Intuition, Empfindung und meditativer Konzentration ebenso wie mit Hilfe der Ratio – ist eine neuartig komplexe Geistesverfassung, die sich laut ihrer Vorboten momentan herausbildet, auch wenn sich davon vordergründig wenig bemerken lässt. Die spezielle Sicht von Sri Aurobiondo – ausgedrückt im Sri Aurobindo-Symbol (siehe unten) – war darüber hinaus, dass sich das neue, supramentale Bewusstsein mit Hilfe der Herabkunft göttlicher Hilfe vollzieht, Hilfe bei der anstrengenden Arbeit der Wandlung und Transformation der vorherigen Entwicklungsstufen. Das aufsteigende geistige Bewusstsein und das herabkommende göttliche Bewusstssein bilden sozusagen mit vereinten Kräften die offenbarte, verkörperte Göttlichkeit, gleichsam die Lotusblüte auf dem Wasser der Schöpfung.






Das integrale Bewusstsein, das zum Supramentalen führt, ist eine fortschreitende Annäherung an das Göttliche, man wird zu einem immer besseren Mitarbeiter Gottes. Aber manche stellen sich darunter auch »das geistige Prinzip« oder eine Art geklärtes Sein im All-Einen vor. Es ist ein Zustand, in dem sich angeblich die Wahrnehmung für Ursprung, Gegenwart und Zukunft aus der engen Zeit-Raum-Begrenzung zu lösen vermag, aber andererseits sehr konkret, im alltäglichen Geschehen verwurzelt und verwirklicht bleibt und insofern nicht esoterisch oder in ein Nirwana abhebt.






1920 bekam Sri Aurobindo weibliche Verstärkung, die Französin Mira Alfassa rückte mit großer innerer Schicksalsentschiedenheit an seine Seite, sie war eine illustre Abenteuerin des Bewusstseins ebenso wie eine lebenspraktische Visionärin. Nach 30 Jahren gemeinsamer geistiger Entwicklung führte sie nach seinem Tod 1950 die Schülergemeinschaft im Ashram von Pondicherry alleine weiter, aber das war ihr nicht genug. Sie wollte etwas Weltbedeutsames schaffen ... »the city the earth needs«.






1954 hatte sie einen Traum und der wurde später zur Charta von Auroville:







»Es sollte irgendwo auf der Erde einen Ort geben, den keine Nation als ihr Eigentum beanspruchen könnte, wo alle gutwilligen Menschen mit einer aufrichtigen „Aspiration“ als Weltbürger leben und einer einzigen Autorität, der der höchsten Wahrheit, gehorchen würden;








ein Ort des Friedens, der Eintracht und der Harmonie, wo alle kämpferischen Instinkte des Menschen ausschließlich dazu benutzt würden, die Ursachen seines Leidens und Elends zu bewältigen, seine Schwächen und seine Unwissenheit zu überwinden, über seine Begrenzungen und Unfähigkeiten zu triumphieren;








ein Ort, an dem die Bedürfnisse des Geistes und die Sorge um Fortschritt der Befriedigung der Begierden und Leidenschaften und der Suche nach materiellen Vergnügungen und Genuss vorgezogen würden.








An diesem Ort würden die Kinder wachsen und sich integral entwickeln können, ohne die Verbindung mit ihrer Seele zu verlieren.








Unterricht würde erteilt werden, nicht um Examen zu bestehen oder Zeugnisse und Stellungen zu erhalten, sondern um schon vorhandene Fähigkeiten zu bereichern und neue hervorzubringen. An diesem Ort würden Titel und Stellungen ersetzt werden durch Gelegenheiten zu dienen und zu organisieren.








Den Bedürfnissen des Körpers würde für alle in gleicher Weise entsprochen werden, und in der allgemeinen Organisation würde sich intellektuelle, moralische und spiritueIle Überlegenheit nicht durch Vermehrung der Vergnügen und Mächte des Lebens ausdrücken, sondern durch Anwachsen der Pflichten und Verantwortungen.








Schönheit in allen künstlerischen Formen – Malerei, Bildhauerei, Musik und Literatur – wäre allen gleichermaßen zugänglich. Die Gelegenheit, an der Freude, die sie gibt, teilzuhaben, würde nur durch die Fähigkeit jedes Einzelnen begrenzt sein und nicht durch seine soziale oder finanzielle Stellung.








Denn an diesem Ort wäre Geld nicht mehr der unumschränkte Herrscher. Der individuelle Wert des Menschen wäre von größerer Bedeutung als materieller Reichtum und soziale Position.








Arbeit wäre hier nicht ein Mittel, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern ein Mittel, sich auszudrücken und seine Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entwickeln. Zugleich würde sie der Gemeinschaft dienen, die dann ihrerseits für den Unterhalt des Einzelnen aufkommen und für sein Arbeitsgebiet sorgen würde.








Kurz, es würde ein Ort sein, wo die Beziehungen zwischen den Menschen, die sich gewöhnlich fast ausschließlich auf ehrgeizigen Wettbewerb und Kampf gründen, ersetzt wären durch Beziehungen des Wetteiferns, bei dem jeder sich bemüht, sein Bestes zu tun, Beziehungen also der Zusammenarbeit und wahren Brüderlichkeit.«






Hier klingen sozialistische Ideen der Geschwisterlichkeit, das gute alte Marx‘sche Ideal: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, jedoch hat die Mutter keine zentralistische Planwirtschaft mit spiritueller Ausrichtung im Sinn, sondern ein weise schwingendes Gemeinwesen, dass auf einem anspruchsvollen, spirituell motivierten Subjektivismus mit einem radikalen Verständnis von Selbstverantwortung gebaut ist. (Möglicherweise hätte Marx an ihrer Version des Satzes sogar mehr Freude gehabt als an dem, was in drögen Staatsmonopolen daraus wurde.)






»Der Einzelne ist das Tor der Entwicklung«, beharrte Sri Aurobindo stets, und nur aus hoch entwickelten Einzelnen bildet sich die neue, die freie Art von Gemeinwesen, geleitet nicht durch religiöse oder politische Führer, sondern allein durch wachsende innere Weisheit, gewidmet dem göttlichen Bewusstsein und der geistigen Evolution, eine sozusagen qualifizierte Mitwirkung am göttlichen, am »größeren Plan«, wie Sri Aurobindo das folgende Gedicht nannte:







In des Menschen Seele wohnt ein Bedürfnis tief




das der Oberfläche Glanz nie sättigen kann,




denn Leben und Geist und ihre Glorie und Zwist




sind des größeren Themas langes Präludium,




eines überirdischen Planes wirrer Entwurf




zu des höchstem ureigenen Epos nur ein Prolog.






Die Idee Auroville als Laboratorium des neuen, spirituellen Menschen nimmt in den 60er Jahren konkrete Formen an, die Mutter wählt den französischen Architekten Roger Anger – den Ehemann ihrer Enkelin – zum bevorzugten Mitplaner. Roger Anger fängt Feuer (es lodert bis heute!), aus seiner Feder stammt der große Wurf, eine futuristische Galaxie, eine spiralförmig angelegte Stadt mit vier nach außen schwingenden Zonen. Im Zentrum – da, wo andernorts Kaufhäuser und Konsum den Wesenskern bilden – soll ein imposantes spirituelles Kugel-Gebäude, das Matrimandir (wörtlich: Muttertempel, der universellen Mutter gewidmet) zur inneren Sammlung einladen, umgeben von kunstvoll angelegten Gärten, die das darin Schreiten nicht nur ästhetisch, sondern auch geistig inspirieren und dabei helfen, das Bewusstsein auf dem Weg ins sakrale Zentrum zu klären.






Die Galaxie macht weltweit die Runde, in Radio-Sendungen und Zeitschriften – am meisten in Frankreich und Indien – wird die Idee verbreitet.






»Auroville ist das Zuhause all jener, die der Zukunft entgegeneilen wollen, einer Zukunft in Weisheit, Erkenntnis, Frieden und Einheit«, verkündet die Mutter im März 1967. »Um in Auroville zu leben, muss ein großer Fortschritt im Bewusstsein gemacht werden. Aber die Zeit ist reif: dieser Fortschritt ist heute möglich«, sagt sie im Juni 1968.






»Die Erde braucht einen Platz, wo Menschen jenseits nationaler Rivalitäten, sozialer Konventionen, in sich widersprüchlicher Moralitäten und einengender Religionen leben können ... Auroville ist der ideale Platz für solche, die die Freude und Befreiung erfahren möchten, keinen persönlichen Besitz mehr zu haben«, sagt sie im September 1969.






Auroville soll eine Stadt für 50.000 Menschen werden, mit einer möglichst autonomen Ökonomie und einem landwirtschaftlichen Grüngürtel für die Eigenversorgung. Eine Stadt für Menschen, die Hierarchien nicht mehr brauchen: Meister ihrer selbst, Meister ihres Selbst! Der Name Auroville bedeutet: Stadt der Morgenröte (Aurora – die Morgenröte). Aufgehen soll hier in der Morgendämmerung das integrale Bewusstsein.






Die Idee trifft auch bei vielen Indem den Nerv der Zeit, für sie ist die Betonung der Weltverantwortung bei gleichzeitiger Individuation eine reizvolle Vision, Sri Aurobindo wird als derjenige verehrt, der die Idee des Subjektivismus mit der hinduistischen Geisteshaltung versöhnte.






Die charismatische Persönlichkeit der Mutter sorgt zudem für Aufbruchstimmung und Zuversicht, die Begegnung mit ihr pflanzt sich tief in die Seelen. »Es ist, als ob jemand Licht macht und alles wird plötzlich hell und klar!« – so oder ähnlich beschreiben es die, denen persönliche Gespräche mit ihr vergönnt waren. Es scheint eine Kraft zu sein, dir gleichzeitig aufwühlt und beruhigt, eine Kraft, die die Energien ruft und ins Fliessen bringt, die Berge und Träume zu versetzen mag.






Friedensforscher, Städteplaner, Anthropologen, Dritte-Welt-Gruppen horchen auf, Indira Gandhi zeigt Sympathie, die UNESCO ruft 1968 sogar offiziell zur Unterstützung auf:






»Die UNESCO lädt ihre Mitgliedstaaten und internationale regierungsunabhängige Organisationen ein, an der Entwicklung von Auroville als einer internationalen kulturellen Gemeinschaft teilzuhaben und sie zu fördern. Eine Gemeinschaft, die darauf angelegt ist, die Werte verschiedener Kulturen und Zivilisationen zusammenzubringen, in einer harmonischen Umgebung mit integriertem Lebensstandard, die mit den physischen und spirituellen Bedürfnissen des Menschen übereinstimmen.«






Die innere Weisheit soll sich ohne spezielle Methoden, ohne spezielle Meditationen üben, im ganz praktischen Leben, im tätigen Tun, es ist in zweifacher Hinsicht eine Vision in Arbeit. Die Arbeit ist das Zentrum des Tuns, ist Werk und ist sinnvolle Produktion. Sie schafft Verbindung im Miteinander, lässt über sich hinauswachsen und ist zugleich Arbeit an sich selbst. Eine Vision in Arbeit ist Auroville aber auch insofern, als es sich der Prozesshaftigkeit von Anfang an konsequent stellen will. Im beherzten Anfangen liegt der erste Schritt, der nächste Schritt ergibt sich aus den vorherigen und jeder Schritt soll wiederum die vorherigen integrieren. Die Durchführungspläne sind vage, und das sind sie bis heute geblieben. Das wirkt wie ein Scheitern, ist aber andererseits ein Trost angesichts allzu hoch gehängter Ansprüche.






Auroville will ein Ort sein, an dem sich die erhoffte kritische Masse von Menschen bildet, die den Durchbruch zum integralen Zeitalter schaffen und damit dem Weltengang einen Dienst erweisen, einen evolutionären Schub.






Diese Vision von einem weltbewegenden Geburtsgeschehen weckt auch negative Assoziationen. Trugen nicht anno dazumal auch die amerikanischen Gründungsväter verhängnisvolle Vorstellungen von gottgelobtem Land für gottgelobte Zukunftsbauer in sich? War nicht auch die Reißbrettstadt Brasilia – in fünf Jahren auf blankem Land hochgezogen – gebaut auf der Vision einer zukünftigen »modernen« Zivilisation (wenn auch mit der technischen Variante von Erlösungsverheißung, den Menschen aus der Mangelhaftigkeit des Seins durch Funktionsperfektion zu befreien)?






Und kamen nicht auch die israelischen Siedler mit gefährlich messianischem Bewusstsein?






Ist Auroville also wieder mal so eine Siedlungsutopie mit allzu messianischen Verheißungen? Führt gerade die Erlösungssehnsucht wieder mal zu umso schlimmerer Enttäuschung?






Ja und Nein! Es ist (Gott sei Dank?) aus dem galaktischen Auroville für 50.000 Menschen nichts geworden. Schon nach den Einführungsfeierlichkeiten 1968 ging es mit den ehrgeizigen Plänen und der Aufbruchstimmung abwärts. Aufwärts ging es dann mit einem ganz anderen, ungeplanten Auroville, und in gewisser Weise hat es in seinen 35 Jahren eine heilsame Wirklichkeitstherapie durchgestanden. Insbesondere seit dem Tod der Mutter – 1973 – hat es sich beim Arbeiten, Leben und Lieben auf realistische Nahziele zurückgestutzt. Statt der künstlichen Stadt vom Reißbrett ist ein locker gefügtes Siedlungsgewebe entstanden, und es differenziert sich – halb geplant, halb ungeplant – in Allmählichkeit aus. (Genauer beschrieben im Kapitel »Auroville wird geboren«.)






Allerdings lebt dabei das große Ziel, die große Durchbruchsvision mitsamt den Vorstellungen einer richtigen, urbanen Stadt als Langzeitvision fort und sorgt für kaum abgekühlte, heiße Herzen. Die Mutter und Sri Aurobindo sind als hoch vereehrte Eltern überall präsent, geben Auroville in Wort und Bild, in Traum und Wirklichkeit ihre Prägung. Ihnen ist das Mühen gewidmet, als personifiziertes göttliches Bewusstsein. Einzelne mögen aus anderen Gründen hier sein und Auroville mag eine in Rituale gefasste Religiosität ablehnen, aber es ist doch eine Glaubensgemeinschaft und die Gemeinsamkeit des starken Glaubens ist das unsichtbare Band, das durch Irrungen und Wirrungen hindurchleitet.






(...)







Das Sri-Aurobindo-Symbol
Das nach unten weisende Dreieck symbolisiert die herabkommende Dreiheit Gottes: Sein, Bewusstsein und Seligkeit. Das nach oben weisende Dreieck symbolisiert den Weg der Materie (und des Menschen als Teil in ihr) zu höherem Bewusstsein, in der Dreieinigkeit von Leben, Licht und Liebe, als aufwärts strebende, sehnende Kräfte, die einem inneren Ruf folgen. Dieses Dreieck bezeichnet den bewusst werdenden Aufstieg. Die gegenseitige Durchdringung wird im Schnittpunkt vollendet. Das Viereck im Zentrum mit der Lotusblüte, die auf dem Wasser als dem Symbol der Schöpfung schwimmt, symbolisiert die offenbarte und verkörperte Göttlichkeit.





Siehe auch


www.auroville.org



www.auroville.de



Wikipedia: AurovilleMira AlfassaSri Aurobindo