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John Briggs & F. David Peat
Die Entdeckung des Chaos

Eine Reise durch die Chaos-Theorie


Aus dem Amerikanischen von Carl Carius
Unter wissenschaftlicher Beratung von Peter Kafka

München / Wien 1990 (Hanser); 330 Seiten; ISBN 3-446-15966-5






Chaosforschung – das interessanteste Forschungsgebiet, das es gegenwärtig gibt. Ich bin davon überzeugt, daß die Chaosforschung eine ähnliche Revolution in den Naturwissenschaften bewirken wird, wie es die Quantenmechanik getan hat.“ (Prof. Dr. Gerd Binnig, Nobelpreisträger für Physik)




Ohne das Bewußtsein der Komplexität unserer Welt und unseres Lebens ist der globalen Krise nicht beizukommen. Eine anschauliche Einführung in die Chaos-Theorie – damit einen auch für interessierte Laien gangbaren Weg zur Bewußtseinserweiterung – bietet dieses Buch.


John Briggs


lehrt Psychologie an der Western Connecticut University

F. David Peat


ist Physiker und Wissenschaftspublizist


Inhaltsverzeichnis


Vorwort






VON DER ORDNUNG ZUM CHAOS






Prolog: Eine alte Spannung



Der Anfang von allem / Wie das Chaos vergessen wurde – oder: Das Treffen bei Huntun / Die nichtlinearen Dämonen / Rückkoppelung / Das Poincarésche Problem: Wie Newton fiel und keiner es merkte






Kapitel 1: Von Attraktoren und vom Kartenlesen



Landkarten des Wandels / Systeme, die in ihre Käfige zurückkehren / Poincarés Pointe






Kapitel 2: Turbulenz – Jener seltsame Attraktor



Leonardos Sintflut / Turbulente Dimensionen






Kapitel 3: Verdoppelungsweg zum Chaos



Wie die Würmer umdrehen / Nichtlineare Metamorphose / Intermittenz: das Sandwich des Chaos / Universalität






Kapitel 4: Die Magie der Iteration



Was ist das nun wieder? / Wie der Unterschied wächst / Dehnen






DER SPIEGEL – Von Ordnung zum Chaos und wieder zur Ordnung






Kapitel 0: Auf beiden Seiten



Maße des Wandels / Gummimathematik / Eine Frage des Ausmaßes / Die seltsame Geschichte einer Messung / Das legendäre Fraktal / Ein fraktaler Trip in den Weltraum / Fraktale, überall Fraktale






VOM CHAOS ZUR ORDNUNG






Kapitel 4: Die große Woge



John Russells Besessenheit / Noch mehr Wellen und ein roter Fleck / Feste Solitonen / Biologische Solitonen / Solitonentunnel / Die Verdampfung des Universums






Kapitel 3: Der Pfeil der Zeit



Chaoskenner / Die Zeit des Optimisten und des Pessimisten / Radikal neue Eigenschaften / Bifurkation: Fenster der Weggabelungen / Welche Richtung nimmt die Zeit? / Kreatives Chaos






Kapitel 2: Triumphe der Rückkoppelung



Autonomie und Kollektiv / Der nichtlineare Planet / Das nichtlineare Gehirn / Nichtlineare Zukünfte






Kapitel 1: Quantenwurzeln ins Chaos



Nichtlineare Paradoxa im Kleinen / Phasenstarre Koppelung






Prolog: Spannung immer wieder neu



Wieder dieser Monsieur Poincaré / Nuancen: Eine extreme Empfindlichkeit / Die fraktale Natur des Geschaffenen / Die Kunst des Forschens und andere Künste






Vorwort



Dank


Leseprobe


Vorwort






Eine alte chinesische Legende bietet sich als Gleichnis für die Rätsel von Ordnung und Chaos an.






Einst vor langer Zeit, so sagt die Legende, waren die Spiegelwelt und die Menschenwelt noch nicht getrennt. Damals waren Spiegelwesen und Menschenwesen nach Form und Farbe ganz verschieden voneinander, vermengten sich und lebten doch harmonisch zusammen. Zu jener Zeit konnte man auch durch die Spiegel hindurch kommen und gehen. Eines Nachts jedoch drangen die Spiegelwesen ohne Warnung in unsere Welt ein, und es brach Chaos herein. Die Menschenwesen stellten schnell fest, daß die Spiegelwesen das Chaos selbst darstellten. Die Macht der Eindringlinge war groß. Dank der magischen Fähigkeiten des Gelben Kaisers gelang es, sie zu besiegen und in ihre Spiegel zurückzutreiben. Um sie dort festzuhalten, zwang derKaiser die chaotischen Wesen durch einen Zauber, Handlungen und Aussehen der Menschen mechanisch nachzuahmen. Des Kaisers Zauber war stark, aber, so sagt die Legende, er konnte nicht ewig währen. Eines Tages wird der Zauber so schwach werden, daß sich in unserem Spiegel turbulente Gestalten zu regen beginnen. Zunächst wird der Unterschied zwischen den Spiegelbildern und unseren gewöhnlichen Gestalten unmerklich sein. Aber nach und nach werden die Gesten ganz allmählich abzuweichen beginnen, Farben und Formen sich wandeln. Und plötzlich wird die lange eingekerkerte Welt des Chaos in unsere eigene Welt hinein überkochen.






Ist sie etwa schon da?






Eine DC 9, die im Schneesturm auf dem Flughafen Denver startet, gerät nur wenige Meter über dem Boden in Schwierigkeiten. Sie überzieht und kippt ab. 28 Menschen sterben. Von vielen denkbaren Ursachen scheinen den Untersuchungskommissionen schließlich zwei übrigzubleiben. An beiden sind neue Entdeckungen über die Wirkung chaotischer Luftströme oder Turbulenzen beteiligt. In dem einen Szenarium ist es ein störrischer Luftwirbel, der sich in der Spur eines Jets bildete, der auf einer benachbarten Rollbahn landete. Er wollte sich einfach nicht auflösen. Er trödelte ein paar Minuten herum, bis andere Luftströmungen ihn in den Weg der DC 9 stupsten, wo er einen verhängnisvollen Klumpen in den Düsen bildete. In dem anderen denkbaren Szenario, auf das sich die Ursachenforscher schließlich einigten, war der Schuldige das bißchen Eis, das einige Passagiere nach der abschließenden Enteisung noch auf den Tragflächen wahrgenommen haben wollten. Aus diesen paar Körnchen erwuchs eine Turbulenz, die mächtig genug war, den riesigen Jet abstürzen zu lassen.






Weit draußen auf hoher See macht sich eine andere Art von Turbulenz bemerkbar. Normalerweise zermahlen sich die Wasserbewegungen, zerspritzen und verflüchtigen sich im vertrauten Chaos der Meeresdünung. Aber die Forscher mußten lernen, daß gelegentlich etwas geschieht, was den gesunden Menschenverstand und die Gesetze der Wissenschaft zu verletzen scheint. In diesem wirren Wellenrauschen kann das wäßrige Chaos ein Orchester bilden, seine Unordnung synchronisieren, sich in eine einzige glatte Welle verwandeln, die Tausende von Meilen weit wandert, unter Schiffen durch und durch Stürme, ohne auch nur den kleinsten Gestaltverlust zu erleiden.






Wieder eine andere Form von synchronisiertem Chaos könnte, so spekulieren manche Wissenschaftler, am Werk gewesen sein, als an jenem berüchtigten Schwarzen Montag im Oktober 1987 weltweit die Börsenkurse absackten. Man nimmt an, daß der Börsenhandel per Computer, die sich selbst steuernden Programme zur Wahrung des Wertes größerer Aktiendepots und die blitzartige Kommunikation zwischen allen Finanzmärkten der Welt eine Situation herbeiführten, in der relativ unbedeutende schlechte Nachrichten ungeheuer schnell verstärkt wurden. Einen nicht enden wollenden Tag lang vernetzte sich all das zufällige und scheinbar unabhängige Verhalten der Investoren zur Erzeugung einer Finanzkatastrophe.






Wie unsere Version der Legende vom Gelben Kaiser scheinen diese Beispiele darauf hinzuweisen, daß Ordnung und Chaos lebendig und geheimnisvoll miteinander verwoben sind. Während der letzten paar Jahre haben die Wissenschaftler, die sich darum bemühten, diese Vernetzung zu entwirren, eine ganz neue Sicht auf die Wirklichkeit gewonnen. Diese Sicht bringt erregende Einblicke in die Ganzheit der Natur mit sich und hat die Wissenschaft dazu gezwungen, einige ihrer grundlegenden Annahmen neu zu untersuchen.






Die Welt, wie sie die traditionelle Wissenschaft definiert hatte, war eine Welt von fast platonischer Reinheit. Die Gleichungen und Theorien, die den Umlauf der Planeten, das Aufsteigen von Wasser in einer Röhre, die Flugbahn eines Balls oder die Struktur des genetischen Codes beschreiben, enthalten eine Regelmäßigkeit und Ordnung wie die Zuverlässigkeit eines Uhrwerks, die mit den Naturgesetzen fest zu verbinden wir uns angewöhnt haben. Wissenschaftler haben zwar schon immer zugegeben, daß die Welt außerhalb des Laboratoriums selten so euklidisch ist, wie sie uns im Spiegel dieser Gesetze erscheint, den wir der Natur gegenüberstellen. Turbulenz, Unregelmäßigkeit und Unvorhersagbarkeit sind überall. Aber es schien immer erlaubt anzunehmen, daß dies „Rauschen“ war, eine Unsauberkeit, die sich daraus ergab, daß in der Wirklichkeit so viele Dinge zusammenkommen. Mit anderen Worten: Man glaubte, das Chaos rühre aus einer Komplexität her, die man im Prinzip doch immer auf ihr wohlgeordnetes Fundament reduzieren könne.






Heute entdecken die Wissenschaftler, daß diese Annahme falsch war.






Ein Specht pickt ziellos nach Insekten, die zufällig in der Rinde eines Baumes verteilt sind; Berge wölben sich auf und werden abgenagt zu gezackten Gipfeln, der Gewalt eines langfristig im wesentlichen unvorhersagbaren Wetters unterworfen; die unregelmäßigen Oberflächen von Herzen, Gedärmen, Lungen und Hirnen gehen ein in das ungeheure Geflechtt aller anderen organischen Strukturen, die die Oberfläche unseres Planeten in einer Weise bedecken, die nicht mit euklidischen Begriffen faßbar ist.






"Die meisten biologischen Systeme – und auch sehr viele physikalische – sind unstetig, inhomogen und unregelmäßig", sagten Bruce West, ein Physiker der Universität von Kalifornien, und Ary Goldberger, Professor an der Harvard Medical School, in einem Artikel im American Scientist. Sie gehören zu einer wachsenden Anzahl von Wissenschaftlern, die eine gewagte neue Perspektive entwerfen: "Der Aufbau und das Verhalten lebender Systeme sind in ihrer Variabilität und Kompliziertheit gleichermaßen dem Chaos wie einem regelmäßigen Muster nahe."






Chaos, Unregelmäßigkeit, Unvorhersagbarkeit – könnte es sein, daß diese Dinge nicht nur Rauschen bedeuten, sondern ihren eigenen Gesetzen folgen? Das ist es, was einige Wissenschaftler jetzt zu lernen beginnen. Mehr als das – solche Wissenschaftler zeigen uns, welche seltsamen Gesetze des Chaos hinter vielen, wenn nicht den meisten Dingen stehen, die wir in unserer Welt bemerkenswert finden: der menschliche Herzschlag und menschliches Denken, Wolken, Gewitter, die Struktur der Galaxien, das Entstehen eines Gedichts, das Auf und Ab der Population von Raupen des Großen Schwammspinners, die Ausbreitung eines Waldbrandes, eine gewundene Küstenlinie, sogar Ursprung und Evolution des Lebens selbst.






So hat ein neuer Schlag von Wissenschaftlern begonnen, an einem neuen Spiegel zu arbeiten, der der Natur gegenübergestellt wird: Ein turbulenter Spiegel.






Im folgenden werden wir sehen, daß diese neuen Forscher in der Landschaft auf der einen Seite des Spiegels studieren, auf welche Weise Ordnung zerfällt und ins Chaos übergeht; daß sie auf der anderen Seite herausfinden, wie Chaos Ordnung erschafft; und daß sie an der kaum faßbaren Oberfläche des Spiegels an dieser Verbindungsstelle zwischen beiden Welten mithelfen, die Aufmerksamkeit von den quantitativen Zügen dynamischer Systeme auf ihre qualltativen Eigenschaften zu lenken. Und auf beiden Seiten, wie auch in der Mitte, überschneiden sich die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen: Mathematiker studieren biologische Systeme, Physiker packen die Probleme der Neurophysiologie an; Neurophysiologen büffeln Mathematik. Oft ist ihr gemeinsames Werkzeug der Computer. Mit seiner Hilfe iterieren Chaosforscher die Gleichungen, wie Chemiker Reagenzien mischen; Farben und Formen, die Zahlen darstellen, flimmern auf den Bildschirmen und erstarren zu Ergebnissen. Solche abstrakten und doch unendlich lebendigen Formen haben mitgeholfen, unerwartetes Einfühlungsvermögen zu schärfen dafür, wie Komplexität sich ändert. Obwohl wir dazu neigen, dem Computer scharfe Entscheidungen und hohe Genauigkeit zuzuschreiben, ist doch ironischerweise gerade das Computermodell mit seinen aufregenden Bildern von Rückkoppelung und Chaos ein Symbol für den Sprung geworden, zu dem die neue turbulente Wissenschaft ansetzt – für jenen Sprung von den traditionellen Interessen der Wissenschaft an Vorhersage, Kontrolle und Analyse der Teile zu neuer Beschäftigung mit der Frage, wie sich das unvorhersagbare Ganze bewegt.






Ja, eben dadurch, daß sie dem üblicherweise recht verschwommenen Ausdruck "Ganzheit" Bedeutung verleiht, bereitet die Wissenschaft von Chaos und Veränderung eine Revolution unserer Sichtweise vor. Der Reporter und Wissenschaftsautor James Gleick sagt in seinem faszinierenden Buch über die Entdeckungen und die Persönlichkeiten einiger der Wissenschaftler, die in den Siebzigern und Achtzigern die Chaostheorie "erfanden": "Mehr und mehr von ihnen fühlten die Vergeblichkeit, wenn sie die Teile isoliert vom Ganzen studierten. Für sie war das Chaos das Ende des reduktionistischen Programms der Wissenschaft." Ein neues Verstehen der Begriffe von Ganzheit, Chaos und Veränderung stellt das Herz der Revolution dar. Der Chaosphysiker Joseph Ford nennt dies "eine wesentliche Verschiebung in der ganzen Wissenschaftsphilosophie und darin, wie der Mensch seine Welt anschaut".






So scheint also in diesen paar kurzen Jahren der alte Zauber verblaßt, ja aufgelöst zu sein, der die Welt des Chaos von der Welt der Ordnung trennte, und die Wissenschaft findet sich mitten in einer Invasion räuberischer Eindringlinge. Oder ist das gar kein Raubzug? Vielleicht ist es etwas Nützliches und Schöpferisches, eine moderne Auferstehung des alten Sinnes für Harmonie zwischen Ordnung und Chaos.


Fehler-Berichtigung


Kapitel 4: Die Magie der Iteration, Abschnitt Wie der Unterschied wächst, Seite 98, 4. und 5. Absatz von oben („Besitzt X1 eine einfache Struktur derart, daß...“): Die vorgeführte Zahlenreihe kehrt nicht nach 17 Iterationen zur Ausgangszahl zurück, sondern erst nach 30.


Siehe auch


Wikipedia – Chaostheorie



Hans Dieter Mutschler: Chaostheorie und Theologie