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»Es
ist ganz wichtig, dass wir uns nicht als Teile, sondern als
Teilhabende dieses Kosmos erfahren, der sinngemäß die
Beziehung und nicht das Dingliche betont, und es deshalb auf uns
alle ankommt. Wir sind Mitschöpfer. Die zukünftige
Entwicklung hängt von uns ab. Wir können
selbstverständlich die Welt nicht beliebig ändern, aber
wir sollten wissen, dass wir mit unseren Entscheidungen auch
immer zum Gesamten beitragen. Andererseits sind jedoch unsere
Entscheidungen selbst schon immer eingebettet und eingebunden in
etwas, das wir mit Allem gemeinsam haben, was das streng Private
jeder persönlichen Entscheidung relativiert. Auf Grund
dieser Vorstellungen stellen wir fest: Wenn wir die Welt
verändern wollen, dann ist es nicht notwendig, dass wir mit
sechseinhalb Milliarden Menschen einen Dialog beginnen müssen.
Den Dialog brauchen wir kaum, um den anderen zu überzeugen,
sondern nur, um ihn/sie daran zu erinnern, was er/sie eigentlich
schon weiß.
Denn wir haben dreieinhalb Milliarden
Jahre derselben Entwicklung hinter uns. Diese Entwicklung hat
nicht mit unserer energetisch-materiellen Realisierung, unserem
Körper, zu tun, denn was sozusagen unsere „Software“
ist, die ist nicht in unserem Körper eingeschlossen, sondern
gewissermaßen überall, in anderen Räumen, und wir
sind alle angeschlossen. Das ist eine Art Internet-Version, die
ich abrufen kann. Ich kann herausbekommen, wo die anderen sind
und auch meine eigenen Entscheidungen daran ausrichten. Wir sind
nicht wie ein Materieklumpen allein in der Welt und nur über
Wechselwirkungen mit der Umgebung in Verbindung, sondern wir sind
eingebettet in das Ganz-Eine, so dass wir schon etwas wissen, das
wir weitergeben, und darüber hinaus gewisse Prozesse
verstärken können, die wirklich zukunftsfähig
sind.«
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Die
Naturwissenschaften haben uns umfassende und tiefe Einblicke in
die Struktur und die Dynamik unserer Welt erlaubt, aber durch den
von ihnen ausgelösten triumphalen Siegeszug der Technik uns
auch eine globale Existenzkrise beschert, der wir heute ziemlich
hilflos gegenüberstehen. Diese Existenzkrise kam nicht aus
heiterem Himmel.
Die eindrucksvolle, erfolgreiche
Entwicklung der Physik, welche die vielfältige materielle
Grundstruktur offenlegte und die für die zeitliche
Entwicklung streng gültigen Naturgesetze entdeckte, ließ
hoffen, dass letztlich durch weitere Forschung das, was bisher
nur Glaube war, in solides Wissen verwandelt werden könne.
Mit diesem Wissen bestünden dann vielfältige
Möglichkeiten, durch geeignetes Handeln die Zukunft des
Menschen nicht nur zu sichern, sondern sie optimal zu seinen
Gunsten zu gestalten.
Anfang des letzten Jahrhunderts
stieß die Physik jedoch auf ganz neue Phänomene, die
mit der bisher so erfolgreichen und, aufgrund ihrer strukturellen
Konsistenz, als streng gültig betrachteten klassischen
Physik nicht mehr erklärt werden konnten. Es war dann die
fortschreitende Forschung im Mikrokosmos, wo man in den Atomen
endlich die letzten, nicht mehr weiter teilbaren Bausteine der
Materie glaubte entdeckt zu haben, die zur großen
Überraschung der Physiker zu dem paradoxen Ergebnis kam,
dass es kleinste materielle Bausteine im gewohnten Sinne gar
nicht gibt. Die Auflösung dieser Paradoxie führte zu
einer radikal anderen Weltsicht. Aus „greifbaren Dingen“,
Teilchen, wurden „nicht-greifbare Prozesse“,
Passierchen. Die bisherige Vorstellung der Welt als „Realität“
(lat. res = Ding) musste anders und wesentlich erweitert als eine
Art „Wirklichkeit“ gedeutet werden, als eine
nicht-auftrennbare, immaterielle, lebendig wirkende Potenzialität
im ständigen Wandel.
Die neue Weltsicht hat
tiefgreifende Konsequenzen. Von besonderer Bedeutung ist, dass
sie einen Brückenschlag ermöglicht zwischen den
Naturwissenschaften und den Religionen auf eine Weise, in der die
Naturwissenschaften die eindeutige gesetzliche Determiniertheit
und damit ihre Fähigkeiten zu exakten Prognosen verlieren
und damit der Situation der Religionen näherkommen. Von
diesem neuen Standpunkt aus befinden wir uns heute in einer
schizophrenen Situation, wenn wir glauben, mit der alten
Denkweise des 19. Jahrhunderts und der aus dem neuen Denken
entwickelten Technologie des 20. Jahrhunderts den
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich begegnen zu
können.
Das vorliegende Buch möchte auf die enge
Verbindung zwischen den neuen Erkenntnissen der Physik und den
tradierten religiösen Weisheiten aufmerksam machen. Es
versucht zu verdeutlichen, dass die großen sichtbaren
Gegensätze zwischen den Naturwissenschaften und Religionen
einerseits sowie zwischen den verschiedenen Kulturen und
Konfessionen andererseits deutlich entschärft werden können,
wenn wir feststellen, dass alle im Kern viel ähnlicher sind,
als dies nach außen erscheint. Die scheinbare
Unverträglichkeit entsteht mehr durch eine unterschiedliche
Deutung des Nichtgreifbaren, die sich an unterschiedlichen
Gleichnissen und Metaphern orientiert.
Das Buch ist
teilweise aus einem mehrstündigen Interview entstanden, das
Birgit Stratmann vom Tibetischen Zentrum, als Redakteurin von
Tibet und Buddhismus, mit mir im November 2008 im
Hamburger Literaturhaus-Café geführt hat. Angeregt
wurde dieser Gedankenaustausch durch Lelani Dias (Ethik im
Alltag), der Veranstalterin des 2. Internationalen Kongresses
Gebet 2007 an der Universität Hamburg. Es war Birgit
Stratmann, welche die mühsame Arbeit übernahm, aus
meinen langen Antworten auf ihre kurzen Fragen einen ersten Text
zu formulieren, wofür ich mich ganz herzlich bei ihr
bedanken möchte. Ich möchte mich auch bei Peter Michel
bedanken, dass er seitens des Crotona Verlages die Idee eines
Buches dieser Art so enthusiastisch aufgenommen und unterstützt
hat.
Angesichts der Vielfalt und Instabilität der
augenblicklichen globalen Krisen halte ich es für wichtig,
ja für dringend notwendig, dass sich die vielen Kulturen und
Religionen ihrer gemeinsamen Werte bewusst werden. Dies verlangt,
dass sie sich wechselseitig nicht nur tolerieren, sondern
aufgrund ihrer tief verankerten Gemeinsamkeiten auch ehrlich
respektieren. Entsprechend dem Paradigma des Lebendigen sollte
eine kooperative Integration auf einer höheren Ebene
angestrebt werden, welche die Unterschiedlichkeit achtet und sie
positiv zusammenführt, so dass das Ganze mehr wird als die
Summe seiner Teile. Dieser Prozess hat schon vor einiger Zeit
begonnen. Die ersten beiden Artikel in diesem Buch sind, als
Beiträge zu Tagungen, Beispiele dafür. Weitere Kontakte
von dieser Art, wie z.B. nach Japan, China oder Indien, sind im
Gange und versuchen einen fruchtbaren gemeinsamen Boden
vorzubereiten, der schon für alle da ist und nur noch
wahrgenommen werden muss.
Hans-Peter Dürr München,
25. Januar 2010
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Wie
können wir miteinander leben und zu einem neuen Ganzen
finden? Dies erfordert ein Plus-Summen-Spiel, wo man die
spezielle Eigenart nicht aufgibt, sondern jeder seine
Unterschiedlichkeit behalten kann, wie bei einem Orchester ein
Konzert gelingt, bei dem verschiedene Instrumente konstruktiv
zusammenspielen und so das Ganze mehr wird als die Summe der
Teile. Das ist das Paradigma des Lebendigen. Der erste Prozess
ist die Individualisierung des Menschen, seine Emanzipation, und
die müssen wir unterstützen. Wir wollen, dass die
Menschen verschiedenartig sind. Denn wenn ich nur ein Bein habe,
das an das andere geschnürt ist, falle ich genauso schnell
wie mit einem Bein. Wir müssen zunehmend verschieden werden,
damit wir immer mehr Stützfunktionen übernehmen können,
die immer mehr dynamische Stabilisierungen ermöglichen. Erst
dann können wir auf verrückte Weise durch die Welt
gehen, ohne zu fallen.
Denken Sie an ein Kind, das
Radfahren lernt. Das Fahrrad ist noch instabiler, als auf einem
Bein zu stehen. Doch ich muss das Kind nur drei- oder viermal
kurz halten, es fällt vielleicht einige Male hin, aber schon
beim fünften Mal ist es so geschickt, dass es auf einmal
losfährt. Es lernt, sich mit dieser Instabilität eine
neue Dimension in der Welt zu erschließen. Das ist der
Prozess der Evolution des Lebendigen. Aber diese Beherrschung
einer neuen Instabilität verlangt Übung und braucht
Zeit. Das Kreative, dass wir verschieden werden, die Emanzipation
ist wichtig. Aber irgendwie müssen wir auch das kooperative
Zusammenspiel lernen. Aber das ist gar nicht so unmöglich,
wie wir glauben, weil wir ja alle trotz Differenzierung
miteinander verbunden sind und es immer bleiben. Wir sind nicht
wirklich getrennt. Wir haben bereits eine lange gemeinsame
Entwicklung hinter uns, auf der wir aufbauen können.
Sie
können sich deshalb unser Biosystem wie ein großes
Kartenhaus vorstellen, auf dessen Spitze wir sozusagen
herumtanzen, als ob wir nicht wüssten, dass wir auf einen
Kartenhaus balancieren. Das Kartenhaus soll hier symbolisieren,
dass alles Lebendige auf Instabilität aufgebaut ist. Das
Kartenhaus ist allerdings nur ein mangelhaftes Gleichnis, weil
seine Stabilität von der Reibung der Karten aneinander
abhängt und nicht wie im Biosystem die Stabilisierung
dynamisch erreicht wird. Die Sonne beschäftigt gewissermaßen
450 Milliarden „Energiesklaven“, wie ich das nenne,
um die Karten immer wieder neu zu justieren und einen Kollaps des
Kartenhauses, den Kollaps des Biosystems, zu verhindern. Ein
Energiesklave ist das Äquivalent einer viertel Pferdestärke,
der zwölf Stunden am Tag ununterbrochen arbeitet. Diese
Umrechung habe ich aus einer Erfahrung nach dem Kriegsende
abgeleitet, als die Bauern keine Pferde mehr hatten und vier
kräftige erwachsene Männer nötig waren, um
gemeinsam einen Pflug zu ziehen. Dies allerdings nur für
jeweils kurze Zeit, um sich zu verschnaufen, keinesfalls für
ganze 12 Stunden, wie dies mein Energiesklave können
muss.
Die Sonne hat also 450 Milliarden Energiesklaven, um
das ganze Biosystem zu stabilisieren. Es ist wichtig, dass wir
uns die Frage stellen, wie sehr und auf welche Weise wir auf
diesem Kartenhaus herumtoben dürfen, ohne dass es
kollabiert. Wir haben nicht nur sechseinhalb Milliarden Menschen
auf dieser Erde, sondern diese Menschen ersetzen ihre schwachen
Körperkräfte durch eine Vielzahl kraftvoller Maschinen.
Und dazu brauchen wir Energie, nicht nur die Energie, die wir
selbst aufnehmen für unsere lebendige Existenz, sondern auch
die, mit der wir unsere Maschinen betreiben. Wenn wir die
Primärenergie, die wir dafür brauchen, umrechnen, dann
beschäftigen die jetzt sechseinhalb Milliarden Menschen etwa
140 Milliarden Energiesklaven. Das ist weit mehr als ein Viertel
der Energiesklaven, die die Sonne zur Stabilisierung des ganzen
Biosystems benötigt. Wie viel ist uns erlaubt?
Das
ist für uns und andere Kreaturen eine Überlebensfrage.
Beobachtungen über die Robustheit unseres Biosystems, die
sich in Veränderungen seiner Artenvielfalt widerspiegeln,
legen nahe, dass die maximale Belastung des Biosystems durch
unsere Eingriffe bei weniger als ein Viertel der
Stabilisierungsleistung der Sonne, also etwa bei 100 Milliarden
Energiesklaven liegt. Wir liegen also bei unserer jetzigen
Belastung eigentlich schon darüber, was sich auch schon in
einer beängstigenden Schrumpfung der Artenvielfalt
anzudeuten scheint.
Ich möchte noch einen andern
Punkt hervorheben. Die Höherentwicklung des Lebendigen durch
Kombination aus Differenzierung und das kooperative Zusammenspiel
von Verschiedenartigem ergibt eine neue Ganzheit, ein neues
Holon. Auch der Mensch ist so ein Ganzes, das eine gewisse
Abgeschlossenheit hat. Aber wenn Sie sehen, wie viel
Gegensätzliches in uns wirkt, auf wie vielen Ebenen wir
immer wieder dieses Gleichgewicht herstellen müssen, dann
offenbart sich hier eine hoch-integrierte, eine globale Struktur
des Systems. Globalisierung ist also an sich nichts Schlechtes,
im Gegenteil, es ist eine Notwendigkeit, um eine höhere
Entwicklungsstufe zu erklimmen, aber es bedeutet zwingend, dass
die Verschiedenartigkeiten ein Plus-Summen-Spiel inszenieren
müssen, das sich nicht nur als miteinander verträglich
erweist, sondern wo auch der Vorteil des einen im Durchschnitt
zum Vorteil der anderen gereicht. Es kann nicht eine Gruppe von
Menschen sagen, diese oder jene Eigenschaft ist wichtiger oder
wertvoller und soll deshalb globalisiert werden und alles Übrige
wird unterdrückt und als Störenfried behandelt. Wir
müssen dafür sorgen, dass alle Kulturen dieser Welt in
ihrer Substanz bestehen bleiben und in die angestrebte
überwölbende Kultur hineingenommen werden. Denn nur die
Summe aller dieser Kulturen kann in diesem Zusammenspiel eine
Weltkultur schaffen, die ein neues „Holon“ bildet,
das eine höhere Entwicklungsstufe ausweist. Wenn eine Kultur
meint, sie sei die eine wesentliche Kultur, der sich alle anderen
unterordnen müssten, dann würde dies bedeuten, dass wir
alle diese Beine gewaltsam zusammenbinden und dann, in Folge
einer Verletzung des Paradigmas des Lebendigen, alle gemeinsam
stolpern und fallen werden.
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