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Hans-Peter Dürr
Geist, Kosmos und Physik

Gedanken über die Einheit des Lebens


Amerang 2010 (Crotona); 140 Seiten; ISBN-10: 3-86191-003-9; ISBN-13: 978-3-86191-003-9






»Es ist ganz wichtig, dass wir uns nicht als Teile, sondern als Teilhabende dieses Kosmos erfahren, der sinngemäß die Beziehung und nicht das Dingliche betont, und es deshalb auf uns alle ankommt. Wir sind Mitschöpfer. Die zukünftige Entwicklung hängt von uns ab. Wir können selbstverständlich die Welt nicht beliebig ändern, aber wir sollten wissen, dass wir mit unseren Entscheidungen auch immer zum Gesamten beitragen. Andererseits sind jedoch unsere Entscheidungen selbst schon immer eingebettet und eingebunden in etwas, das wir mit Allem gemeinsam haben, was das streng Private jeder persönlichen Entscheidung relativiert. Auf Grund dieser Vorstellungen stellen wir fest: Wenn wir die Welt verändern wollen, dann ist es nicht notwendig, dass wir mit sechseinhalb Milliarden Menschen einen Dialog beginnen müssen. Den Dialog brauchen wir kaum, um den anderen zu überzeugen, sondern nur, um ihn/sie daran zu erinnern, was er/sie eigentlich schon weiß.

Denn wir haben dreieinhalb Milliarden Jahre derselben Entwicklung hinter uns. Diese Entwicklung hat nicht mit unserer energetisch-materiellen Realisierung, unserem Körper, zu tun, denn was sozusagen unsere „Software“ ist, die ist nicht in unserem Körper eingeschlossen, sondern gewissermaßen überall, in anderen Räumen, und wir sind alle angeschlossen. Das ist eine Art Internet-Version, die ich abrufen kann. Ich kann herausbekommen, wo die anderen sind und auch meine eigenen Entscheidungen daran ausrichten. Wir sind nicht wie ein Materieklumpen allein in der Welt und nur über Wechselwirkungen mit der Umgebung in Verbindung, sondern wir sind eingebettet in das Ganz-Eine, so dass wir schon etwas wissen, das wir weitergeben, und darüber hinaus gewisse Prozesse verstärken können, die wirklich zukunftsfähig sind.«




Hans-Peter Dürr (aus dem Abschnitt „Das neue Weltbild und unsere Lebenssphäre“)


Hans-Peter Dürr


geb. 1929, Mitglied des Club of Rome und lange Jahre Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik in München. Dort war er von 1958 bis 1976 Mitarbeiter von Werner Heisenberg, dem Mitbegründer der Quantenmechanik und Nobelpreisträger für Physik. Dürr gilt als einer der bedeutendsten Querdenker unserer Zeit und Impulsgeber der internationalen Umwelt- und Friedensbewegung. 1987 erhielt er den Alternativen Nobelpreis und 1995 – als Mitglied von Pugwash International – den Friedensnobelpreis. (Bekannter Namenskollege: Hans Peter Duerr, Ethnologe)


Inhaltsverzeichnis


Einführung

Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Wirklichkeitserfahrung
Einleitende Bemerkungen
Über die Wahrheit
Über prinzipielle Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis
Vom klassisch-atomistischen zum modern-holistischen Weltbild
Konsequenzen für unsere Lebenswelt

Das Lebende lebendiger werden lassen
Es gibt keine Materie!
Neuorientierung und Zukunftsfähigkeit
Neue Technologie – altes Denken
Hängen an der Materie
Naturvergessenheit
Offenheit
Menschsein
Nachhaltigkeit
Drei Ebenen der Nachhaltigkeit
Naturgesetzlichkeit
Abschied vom endgültigen Verstehen
Elemente des neuen Denkens
Erkennen verändert die Welt
Welche Konsequenz hat das?
Das „lebendige“ Pendel
Das Paradigma des Lebendigen
Differenzierung und Zusammenspiel
Vielfalt und Bedeutung
Das neue Weltbild und unsere Lebenssphäre
Die Endlichkeit des irdischen Ökosystems – Energie und Ordnung
Neue Lebensstile
Fehlertoleranz, Kreativität und Veränderung

Geist, Kosmos und Physik – Gedanken über die Einheit des Lebens
Ein Gespräch mit Birgit Stratmann
1. Wir sind Teilhabende und Mitwirkende des Lebendigen
2. Welche Farbe hat der Kreis?
3. Der liebende Dialog
4. Ich bin nicht Teil, sondern Beteiligter
5. Quantenphysik und Buddhismus
6. Lebendigkeit verlangt statische Instabilität
7. Spiritualität und Bewusstsein: Quantenphysik und Hirnforschung
8. Paradigma des Lebendigen
9. Was kooperiert, hat größere Überlebenschancen
10. Wann stürzt das Kartenhaus zusammen?
11. Wissenschaft und Religion


Leseprobe


Einführung






Die Naturwissenschaften haben uns umfassende und tiefe Einblicke in die Struktur und die Dynamik unserer Welt erlaubt, aber durch den von ihnen ausgelösten triumphalen Siegeszug der Technik uns auch eine globale Existenzkrise beschert, der wir heute ziemlich hilflos gegenüberstehen. Diese Existenzkrise kam nicht aus heiterem Himmel.

Die eindrucksvolle, erfolgreiche Entwicklung der Physik, welche die vielfältige materielle Grundstruktur offenlegte und die für die zeitliche Entwicklung streng gültigen Naturgesetze entdeckte, ließ hoffen, dass letztlich durch weitere Forschung das, was bisher nur Glaube war, in solides Wissen verwandelt werden könne. Mit diesem Wissen bestünden dann vielfältige Möglichkeiten, durch geeignetes Handeln die Zukunft des Menschen nicht nur zu sichern, sondern sie optimal zu seinen Gunsten zu gestalten.

Anfang des letzten Jahrhunderts stieß die Physik jedoch auf ganz neue Phänomene, die mit der bisher so erfolgreichen und, aufgrund ihrer strukturellen Konsistenz, als streng gültig betrachteten klassischen Physik nicht mehr erklärt werden konnten. Es war dann die fortschreitende Forschung im Mikrokosmos, wo man in den Atomen endlich die letzten, nicht mehr weiter teilbaren Bausteine der Materie glaubte entdeckt zu haben, die zur großen Überraschung der Physiker zu dem paradoxen Ergebnis kam, dass es kleinste materielle Bausteine im gewohnten Sinne gar nicht gibt. Die Auflösung dieser Paradoxie führte zu einer radikal anderen Weltsicht. Aus „greifbaren Dingen“, Teilchen, wurden „nicht-greifbare Prozesse“, Passierchen. Die bisherige Vorstellung der Welt als „Realität“ (lat. res = Ding) musste anders und wesentlich erweitert als eine Art „Wirklichkeit“ gedeutet werden, als eine nicht-auftrennbare, immaterielle, lebendig wirkende Potenzialität im ständigen Wandel.

Die neue Weltsicht hat tiefgreifende Konsequenzen. Von besonderer Bedeutung ist, dass sie einen Brückenschlag ermöglicht zwischen den Naturwissenschaften und den Religionen auf eine Weise, in der die Naturwissenschaften die eindeutige gesetzliche Determiniertheit und damit ihre Fähigkeiten zu exakten Prognosen verlieren und damit der Situation der Religionen näherkommen. Von diesem neuen Standpunkt aus befinden wir uns heute in einer schizophrenen Situation, wenn wir glauben, mit der alten Denkweise des 19. Jahrhunderts und der aus dem neuen Denken entwickelten Technologie des 20. Jahrhunderts den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich begegnen zu können.

Das vorliegende Buch möchte auf die enge Verbindung zwischen den neuen Erkenntnissen der Physik und den tradierten religiösen Weisheiten aufmerksam machen. Es versucht zu verdeutlichen, dass die großen sichtbaren Gegensätze zwischen den Naturwissenschaften und Religionen einerseits sowie zwischen den verschiedenen Kulturen und Konfessionen andererseits deutlich entschärft werden können, wenn wir feststellen, dass alle im Kern viel ähnlicher sind, als dies nach außen erscheint. Die scheinbare Unverträglichkeit entsteht mehr durch eine unterschiedliche Deutung des Nichtgreifbaren, die sich an unterschiedlichen Gleichnissen und Metaphern orientiert.

Das Buch ist teilweise aus einem mehrstündigen Interview entstanden, das Birgit Stratmann vom Tibetischen Zentrum, als Redakteurin von Tibet und Buddhismus, mit mir im November 2008 im Hamburger Literaturhaus-Café geführt hat. Angeregt wurde dieser Gedankenaustausch durch Lelani Dias (Ethik im Alltag), der Veranstalterin des 2. Internationalen Kongresses Gebet 2007 an der Universität Hamburg. Es war Birgit Stratmann, welche die mühsame Arbeit übernahm, aus meinen langen Antworten auf ihre kurzen Fragen einen ersten Text zu formulieren, wofür ich mich ganz herzlich bei ihr bedanken möchte. Ich möchte mich auch bei Peter Michel bedanken, dass er seitens des Crotona Verlages die Idee eines Buches dieser Art so enthusiastisch aufgenommen und unterstützt hat.

Angesichts der Vielfalt und Instabilität der augenblicklichen globalen Krisen halte ich es für wichtig, ja für dringend notwendig, dass sich die vielen Kulturen und Religionen ihrer gemeinsamen Werte bewusst werden. Dies verlangt, dass sie sich wechselseitig nicht nur tolerieren, sondern aufgrund ihrer tief verankerten Gemeinsamkeiten auch ehrlich respektieren. Entsprechend dem Paradigma des Lebendigen sollte eine kooperative Integration auf einer höheren Ebene angestrebt werden, welche die Unterschiedlichkeit achtet und sie positiv zusammenführt, so dass das Ganze mehr wird als die Summe seiner Teile. Dieser Prozess hat schon vor einiger Zeit begonnen. Die ersten beiden Artikel in diesem Buch sind, als Beiträge zu Tagungen, Beispiele dafür. Weitere Kontakte von dieser Art, wie z.B. nach Japan, China oder Indien, sind im Gange und versuchen einen fruchtbaren gemeinsamen Boden vorzubereiten, der schon für alle da ist und nur noch wahrgenommen werden muss.

Hans-Peter Dürr
München, 25. Januar 2010









Differenzierung und Zusammenspiel






Wie können wir miteinander leben und zu einem neuen Ganzen finden? Dies erfordert ein Plus-Summen-Spiel, wo man die spezielle Eigenart nicht aufgibt, sondern jeder seine Unterschiedlichkeit behalten kann, wie bei einem Orchester ein Konzert gelingt, bei dem verschiedene Instrumente konstruktiv zusammenspielen und so das Ganze mehr wird als die Summe der Teile. Das ist das Paradigma des Lebendigen. Der erste Prozess ist die Individualisierung des Menschen, seine Emanzipation, und die müssen wir unterstützen. Wir wollen, dass die Menschen verschiedenartig sind. Denn wenn ich nur ein Bein habe, das an das andere geschnürt ist, falle ich genauso schnell wie mit einem Bein. Wir müssen zunehmend verschieden werden, damit wir immer mehr Stützfunktionen übernehmen können, die immer mehr dynamische Stabilisierungen ermöglichen. Erst dann können wir auf verrückte Weise durch die Welt gehen, ohne zu fallen.

Denken Sie an ein Kind, das Radfahren lernt. Das Fahrrad ist noch instabiler, als auf einem Bein zu stehen. Doch ich muss das Kind nur drei- oder viermal kurz halten, es fällt vielleicht einige Male hin, aber schon beim fünften Mal ist es so geschickt, dass es auf einmal losfährt. Es lernt, sich mit dieser Instabilität eine neue Dimension in der Welt zu erschließen. Das ist der Prozess der Evolution des Lebendigen. Aber diese Beherrschung einer neuen Instabilität verlangt Übung und braucht Zeit. Das Kreative, dass wir verschieden werden, die Emanzipation ist wichtig. Aber irgendwie müssen wir auch das kooperative Zusammenspiel lernen. Aber das ist gar nicht so unmöglich, wie wir glauben, weil wir ja alle trotz Differenzierung miteinander verbunden sind und es immer bleiben. Wir sind nicht wirklich getrennt. Wir haben bereits eine lange gemeinsame Entwicklung hinter uns, auf der wir aufbauen können.

Sie können sich deshalb unser Biosystem wie ein großes Kartenhaus vorstellen, auf dessen Spitze wir sozusagen herumtanzen, als ob wir nicht wüssten, dass wir auf einen Kartenhaus balancieren. Das Kartenhaus soll hier symbolisieren, dass alles Lebendige auf Instabilität aufgebaut ist. Das Kartenhaus ist allerdings nur ein mangelhaftes Gleichnis, weil seine Stabilität von der Reibung der Karten aneinander abhängt und nicht wie im Biosystem die Stabilisierung dynamisch erreicht wird. Die Sonne beschäftigt gewissermaßen 450 Milliarden „Energiesklaven“, wie ich das nenne, um die Karten immer wieder neu zu justieren und einen Kollaps des Kartenhauses, den Kollaps des Biosystems, zu verhindern. Ein Energiesklave ist das Äquivalent einer viertel Pferdestärke, der zwölf Stunden am Tag ununterbrochen arbeitet. Diese Umrechung habe ich aus einer Erfahrung nach dem Kriegsende abgeleitet, als die Bauern keine Pferde mehr hatten und vier kräftige erwachsene Männer nötig waren, um gemeinsam einen Pflug zu ziehen. Dies allerdings nur für jeweils kurze Zeit, um sich zu verschnaufen, keinesfalls für ganze 12 Stunden, wie dies mein Energiesklave können muss.

Die Sonne hat also 450 Milliarden Energiesklaven, um das ganze Biosystem zu stabilisieren. Es ist wichtig, dass wir uns die Frage stellen, wie sehr und auf welche Weise wir auf diesem Kartenhaus herumtoben dürfen, ohne dass es kollabiert. Wir haben nicht nur sechseinhalb Milliarden Menschen auf dieser Erde, sondern diese Menschen ersetzen ihre schwachen Körperkräfte durch eine Vielzahl kraftvoller Maschinen. Und dazu brauchen wir Energie, nicht nur die Energie, die wir selbst aufnehmen für unsere lebendige Existenz, sondern auch die, mit der wir unsere Maschinen betreiben. Wenn wir die Primärenergie, die wir dafür brauchen, umrechnen, dann beschäftigen die jetzt sechseinhalb Milliarden Menschen etwa 140 Milliarden Energiesklaven. Das ist weit mehr als ein Viertel der Energiesklaven, die die Sonne zur Stabilisierung des ganzen Biosystems benötigt. Wie viel ist uns erlaubt?

Das ist für uns und andere Kreaturen eine Überlebensfrage. Beobachtungen über die Robustheit unseres Biosystems, die sich in Veränderungen seiner Artenvielfalt widerspiegeln, legen nahe, dass die maximale Belastung des Biosystems durch unsere Eingriffe bei weniger als ein Viertel der Stabilisierungsleistung der Sonne, also etwa bei 100 Milliarden Energiesklaven liegt. Wir liegen also bei unserer jetzigen Belastung eigentlich schon darüber, was sich auch schon in einer beängstigenden Schrumpfung der Artenvielfalt anzudeuten scheint.

Ich möchte noch einen andern Punkt hervorheben. Die Höherentwicklung des Lebendigen durch Kombination aus Differenzierung und das kooperative Zusammenspiel von Verschiedenartigem ergibt eine neue Ganzheit, ein neues Holon. Auch der Mensch ist so ein Ganzes, das eine gewisse Abgeschlossenheit hat. Aber wenn Sie sehen, wie viel Gegensätzliches in uns wirkt, auf wie vielen Ebenen wir immer wieder dieses Gleichgewicht herstellen müssen, dann offenbart sich hier eine hoch-integrierte, eine globale Struktur des Systems. Globalisierung ist also an sich nichts Schlechtes, im Gegenteil, es ist eine Notwendigkeit, um eine höhere Entwicklungsstufe zu erklimmen, aber es bedeutet zwingend, dass die Verschiedenartigkeiten ein Plus-Summen-Spiel inszenieren müssen, das sich nicht nur als miteinander verträglich erweist, sondern wo auch der Vorteil des einen im Durchschnitt zum Vorteil der anderen gereicht. Es kann nicht eine Gruppe von Menschen sagen, diese oder jene Eigenschaft ist wichtiger oder wertvoller und soll deshalb globalisiert werden und alles Übrige wird unterdrückt und als Störenfried behandelt. Wir müssen dafür sorgen, dass alle Kulturen dieser Welt in ihrer Substanz bestehen bleiben und in die angestrebte überwölbende Kultur hineingenommen werden. Denn nur die Summe aller dieser Kulturen kann in diesem Zusammenspiel eine Weltkultur schaffen, die ein neues „Holon“ bildet, das eine höhere Entwicklungsstufe ausweist. Wenn eine Kultur meint, sie sei die eine wesentliche Kultur, der sich alle anderen unterordnen müssten, dann würde dies bedeuten, dass wir alle diese Beine gewaltsam zusammenbinden und dann, in Folge einer Verletzung des Paradigmas des Lebendigen, alle gemeinsam stolpern und fallen werden.