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Hans-Peter Dürr
Das Lebende lebendiger werden lassen

Wie uns neues Denken aus der Krise führt


München 2011 (oekom verlag); 168 Seiten; ISBN: 978-3-86581-269-8
Herausgegeben von Manuel Schneider






Klimawandel, Kriege, Kapitalismuskrise – der Ausnahmezustand droht zum Normalfall zu werden. Spätestens seit Fukushima ist die Einsicht, »dass sich etwas ändern muss«, so weit verbreitet wie nie zuvor. Die Zeit für einen gesellschaftlichen Wandel ist reif »Nachhaltigkeit« ist zu einer Chiffre für jene »andere Welt« geworden, die sich viele ersehnen.

Doch warum fällt uns der individuelle wie gesellschaftliche Wandel zu mehr Nachhaltigkeit so schwer? Warum befreien wir uns nicht von dem Ballast einer verschwenderischen Konsumgesellschaft, von der Abhängigkeit begrenzter fossiler Ressourcen? Wie ließe sich Frieden schließen – mit sich, mit den Mitmenschen, aber auch mit der Natur?

Hans-Peter Dürr liefert Antworten auf diese und andere Fragen. In seinem hier vorgestellten »Wörterbuch des Wandels« reflektiert der Träger des Alternativen Nobelpreises die zentralen Themen, mit denen wir uns auf dem Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft auseinandersetzen müssen: von A wie Arbeit bis Z wie Zukunft. Hans-Peter Dürr zeigt Wege auf, wie wir mit neuem Denken und beherztem Tun die Krisen unserer Zeit bewältigen können, um unser eigenes Leben wie das aller anderen wieder lebendiger werden zu lassen.

»Es ist erfrischend, auch mal einen hoffnungsfrohen Wissenschaftler zu hören, der an das Gute im Allgemeinen und die Eigenverantwortung im Speziellen glaubt.« Deutschlandfunk


Hans-Peter Dürr


geboren am 7. Oktober 1929 in Stuttgart, gilt als einer der bedeutendsten Querdenker unserer Zeit und Impulsgeber der internationalen Umwelt- und Friedensbewegung. Nach dem Studium der Physik in Stuttgart wurde er 1956 an der University of California in Berkeley bei Edward Teller promoviert. Nach seiner Rückkehr aus den USA folgte 1962 die Habilitation an der Universität München. Von 1958 bis 1976 war Hans-Peter Dürr wissenschaftlicher Mitarbeiter von Werner Heisenberg, dem Mitbegründer der Quantenmechanik und Nobelpreisträger für Physik. Danach leitete er in der Nachfolge Heisenbergs fast zwanzig Jahre lang bis zu seiner Emeritierung 1997 das Max-PlanckInstitut für Physik in München sowie das Werner-Heisenberg-Institut. Gastprofessuren führten ihn unter anderem nach Berkeley (Kalifornien), Madras (Indien) und Nagoya (Japan). Seit den 1980er Jahren engagiert sich Hans-Peter Dürr in der Umwelt- und Friedensbewegung. Er gründete 1987 das Global Challenges Network (GCN). Im gleichen Jahr wurde er »in Anerkennung seiner fundierten Kritik der Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI) und seiner Arbeit, hochentwickelte Technologien für friedliche Zwecke nutzbar zu machen«, mit dem Alternativen Nobelpreis der Right-Livelihood-Foundation ausgezeichnet. Außerdem erhielt die wissenschafts- und forschungskritische internationale Gruppe Pugwash, der Hans-Peter Dürr angehört, im Jahr 1995 den Friedensnobelpreis. Dürr ist Mitglied des Club of Rome und trat 2007 als Ratsmitglied dem World Future Council bei.


Inhaltsverzeichnis


Vorwort des Herausgebers

Einleitung

Kapitel I: Neues Denken für eine Welt von morgen
Verkehrte Welt
Es gibt nur das Eine
Welt als Beziehung – eine neue Sichtweise


Kapitel II: Nachhaltigkeit und das Paradigma des Lebendigen
Ordnung des Lebendigen
Chaos und Ordnung
Balance des Biosystems
Die ordnende Hand
Das Lebende lebendiger werden lassen


Kapitel III: Wörterbuch des Wandels

Arbeit
Handeln als Dialog
Der sich selbst entfremdete Mensch
Wozu noch Menschen?
Teilhabe am ganzen Leben

Atomkraft
Unverzichtbar – für wen?
Spezifische Risiken
Restrisiko – oder wenn die Phantasie versagt

Energie
Eine Frage der Ordnung
Quellen der Syntropie
Geburtenkontrolle für Energiesklaven

Frieden
Frieden als Ernstfall – Krieg als Normalfall
Frieden und das Paradigma des Lebendigen
Die Kunst des Friedens
Ohne Gewalt gegen Gewalt

Nachhaltigkeit
Langweiliger Begriff – aufregende Sache
Natur als Basis
Tautologisch – und doch sinnvoll

Poesie
Begreifen und Verstehen
Einfach komplex: Die »verfilzte« Wirklichkeit
Mut zur Unschärfe

Transzendenz
Gott als Lückenbüßer
Der Schein des Realen
Transzendenz erfahren
Die Welt verstehen – mit offenen Armen

Verantwortung
Neue Grenzen der Freiheit
Was tun – was lassen?
Genauigkeit oder Gefühl?

Wirtschaft
Wertschöpfung und Produktivität
Inseln hoher Syntropie
Wertschöpfung als Bankraub
Wider die Eskalation der Ausbeutung
Weniger und weniger schnell
Wissenschaft
Das Netz des Wissenschaftlers
Annäherung an die Wirklichkeit
Wissenschaft auf Abwegen

Zivilgesellschaft
Vielfalt als Chance
Soziale Innovationen gefragt
Rettungsboote für den Ernstfall

Zukunft
Die Zukunft ist prinzipiell offen
Freiheit und Hoffnung
Wir Akteure der Schöpfung


Zur Person Hans-Peter Dürr


Leseprobe


Vorwort des Herausgebers






» Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist im Entstehen. An einem ruhigen Tag kann ich, wenn ich sehr genau lausche, ihren Atem hören.« Die indische Schriftstellerin und politische Aktivistin Arundhati Roy formuliert eine Haltung und Erfahrung, die zuversichtlich stimmt und Mut macht – trotz der vielfältigen Krisen unserer Zeit.

Beides tut not. Denn viele Menschen erleben die offenkundige Krise des Kapitalismus, den spürbaren Klimawandel, die Verknappung fossiler Energien (»Peak Oil«) als Sinnkrise des Wirtschafts- und Wohlstandsmodells westlicher Prägung. Wer geglaubt hat, es könnte nicht schlimmer kommen, wurde in jüngster Zeit eines Besseren belehrt. Im April 2010 havarierte die Ölplattform Deepwater Horizon und hinterließ ein ökologisches Desaster im Golf von Mexiko – und berechtigte Zweifel an der Handlungsfähigkeit von Regierungen und der Verantwortungsbereitschaft mancher Wirtschaftskonzerne. Ein Jahr später brachte ein Erdbeben den Super-GAU für das japanische Atomkraftwerk Fukushima; zurück bleibt – für Jahrhunderte – eine radioaktive Todeszone in unmittelbarer Nachbarschaft der Millionenmetropole Tokio.

Was aber ist die Botschaft hinter diesen apokalyptischen Bildern? – Zunächst wird offenkundig: Erdöl und Atomkraft – die Pfeiler, auf denen die westliche Welt steht – wanken beträchtlich. Die Kosten, die wir (und die Natur) zur Aufrechterhaltung unseres energetisch exzessiven Lebensstils zu tragen haben, sind enorm und erscheinen in keiner Betriebsbilanz. Wir sehen aber auch auf einer tieferen Ebene, was passiert, wenn die Rationalität von Naturwissenschaft und Hochtechnologie auf eine merkwürdige Paarung aus »Gottvertrauen und Gott-sein-Wollen« (Claus Biegert) trifft. Es entsteht eine explosive Mischung aus technokratischer Hybris, Profitkalkül einzelner Firmen, Versagen staatlicher Aufsicht und die offenkundige Bereitschaft zu Menschenopfern. Ein salopper Umgang mit dem ominösen »Restrisiko«, das einzugehen die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft offenbar achselzuckend bereit sind. Ein »wachstumsfrommes« Handeln, das im Rausch des technologischen Fortschritts Fehler nicht mehr erlaubt – und deshalb im präzisen Wortsinne als »unmenschlich« zu bezeichnen ist. Denn Fehler zu machen ist menschlich, gehört zur conditio humana. Die Katastrophe von Fukushima zeigt: Wir haben uns eine Welt geschaffen, für die wir Menschen nicht (mehr) geschaffen sind. Sie überfordert und entgleitet uns. Und hinterlässt eine verstrahlte und kontaminierte Zukunft, die für niemanden mehr eine lebenswerte Gegenwart sein wird.

Angesichts dieser – letztlich vorhersehbaren – Katastrophen und des politischen Lärms, den sie ausgelöst haben, fällt es schwer, mit der indischen Dichterin Arundhati Roy den »Atem einer entstehenden neuen Welt« zu spüren. Und dennoch: Die grundsätzliche Wandlungsbereitschaft, die Einsicht, »dass sich etwas ändern muss«, ist in unserer Gesellschaft seit den jüngsten Ereignissen so weit verbreitet wie nie zuvor. Die Zeit für einen gesellschaftlichen Wandel ist reif, »Business as usual«, ein schlichtes »Weiter so!« klingt in den Ohren aufmerksamer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen eher als Bedrohung denn als Beruhigung. »Nachhaltigkeit« ist zu einer Chiffre für jene »andere Welt« geworden, die sich viele ersehnen.

Gleichwohl erleben sich die meisten Menschen in ihrem Handeln als »blockiert«. Wenigen gelingen erste Schritte hin zu einer nachhaltigen, naturverträglichen und sozial sensiblen, achtsamen Lebensführung. Noch weniger verfügen über den Mut und »langen Atem«, sich von all dem zu befreien, was uns festhält in einer Gegenwart, die nachweislich keine Zukunft hat. Selbst denjenigen, die eigene Kinder oder Enkel haben, fällt es schwer, generationenübergreifend zu denken und zu handeln und auf diese Weise der Zukunft ihrer Kinder eine Heimat in ihrem Leben zu geben.

Wovor haben wir Angst? Warum fällt uns der individuelle wie gesellschaftliche Wandel zu mehr Nachhaltigkeit so schwer? Warum befreien wir uns nicht von dem Ballast einer verschwenderischen Konsumgesellschaft, von der Abhängigkeit begrenzter fossiler Ressourcen und damit von den sich abzeichnenden globalen Verteilungskämpfen? Wie ließe sich Frieden schließen mit uns und mit unseren Mitmenschen, Frieden aber auch mit der äußeren Natur, unserer natürlichen Mitwelt?

Diese Fragen stehen im Zentrum des neuen Buches von HansPeter Dürr. Seine Antwort mag zunächst überraschen: Ausgerechnet die Erkenntnisse aus der modernen Quantenphysik, die in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts das naturwissenschaftliche Weltbild revolutioniert haben (jedoch bislang spurlos in unserem Alltagsverständnis von Natur geblieben sind), sollen den Weg in eine gute Zukunft weisen.

Im Mittelpunkt steht dabei die Überwindung des materialistischen Weltbilds durch die neue Physik, allem voran die Einsicht, dass Materie nicht aus Materie aufgebaut ist. Wenn wir Materie immer weiter auseinandernehmen und zu ihrem »Innersten« vordringen – bleibt am Ende nichts mehr übrig, was uns an Materie erinnert: kein Stoff, nur noch Form, Gestalt, Symmetrie, Beziehung. So die ebenso irritierende wie faszinierende Erkenntnislage der neuen Quantenphysik. Sie bedeutet die Umkehrung unseres bisherigen Verständnisses von Materie und Form: Das Primäre ist Beziehung, der Stoff das Sekundäre. Im Grunde bleibt nur etwas, was in der Deutung von Hans-Peter Dürr mehr dem Geistigen ähnelt: eine Welt voller Möglichkeiten – ganzheitlich, offen, lebendig. Und das zweite, was uns die neue Physik lehrt: Alles ist mit allem verbunden, nichts in der Natur ist isoliert, bloßer »Teil«. Wie umgekehrt das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Auch wir Menschen sind, so Dürr, »nicht Teile einer Wirklichkeit, sondern beteiligt an einer Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit wird in jedem Augenblick neu geschaffen, und so bereichert jeder kreative Beitrag von uns die Wirklichkeit unserer Zukunft.« Das bedeutet: Wenn alles mit allem zusammenhängt, ist nichts umsonst, nichts vergeblich!

Das Besondere an Hans-Peter Dürr ist, dass er bei dieser abstrakten, naturphilosophischen Weltsicht nicht stehen bleibt, sondern in einer lebendigen, bilderreichen Sprache deren Konsequenzen für unsere Lebenswelt aufzeigt. Entsprechend ist auch dieses Buch aufgebaut: Nach den ersten beiden Kapiteln, die in das neue Denken der Physik einführen, die Grenzen des materialistischen Weltbilds aufzeigen und das Paradigma des Lebendigen als Basis für unser individuelles wie gesellschaftliches Zukunftsengagement einführen, besteht der Hauptteil des Buches aus einem »Wörterbuch des Wandels«. Zwölf zentrale Themen und Konfliktfelder der Gegenwart, mit denen wir uns auf dem vor uns liegenden Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft intensiv auseinandersetzen müssen, werden gedanklich vertieft und alltagsnah behandelt: von A wie Arbeit und Atomkraft bis Z wie Zivilgesellschaft und Zukunft.

Auch wenn er dabei die Grenzen der Physik als akademischer Disziplin immer wieder überschreitet, spricht Hans-Peter Dürr in seinem Buch als Naturwissenschaftler. Sein Antrieb, Physiker zu werden und insbesondere zu den Atomen, den Atomkernen und Elementarteilchen hinabzusteigen, entsprang nach Krieg und Zusammenbruch dem Wunsch, »zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält«. Er suchte nach den Irrungen und Wirrungen des Krieges den Weg zu verlässlicher, nicht von fehlbaren Menschen diktierter Wahrheit. Dass Hans-Peter Dürr auf dem Wege hinunter »ins Innerste der Welt« nicht nur »Philosophen« wie dem Nobelpreisträger Werner Heisenberg begegnete, sondern mit Edward Teller auch Kernphysikern, die Atombomben bauten, war nicht seine Absicht. Es war aber Grund und Anlass für ihn, ein »passionierter Grenzgänger« zu werden. Ihm wurde die Ambivalenz der Forschung deutlich: dass tiefe Einsichten auch unmittelbar zu Kenntnissen führen, die unsere Lebenswelt einschneidend verändern, ja sie zerstören können.

Hans-Peter Dürrs Buch macht Mut. Mut zu einem anderen Denken. Mut zu einem anderen Leben. »Die Zukunft ist offen«, lautet das Credo des renommierten Physikers und Naturphilosophen. Wir können die Enge unseres materialistischen Weltbilds überwinden und zu einem Leben in besserem Einklang mit der Natur zurückfinden. Der Träger des Alternativen Nobelpreises zeigt Wege auf, wie wir mit neuem Denken und beherztem Tun die Krisen unserer Zeit bewältigen. Und damit unser eigenes Leben und das aller anderen lebendiger machen. Das hier vorgelegte Buch ist die Quintessenz seines Denkens: theoretisch fundiert und dennoch nah am Leben und seinen Fragen. Wer sich Zeit und Ruhe nimmt, den Gedanken Hans-Peter Dürrs zu folgen, der kann den Atem jener anderen Welt hören, die nicht nur möglich, sondern im Entstehen ist.

München, im Sommer 2011
Manuel Schneider









Einleitung






Leben ist ein erstaunliches Phänomen. Eine außerordentliche Seltenheit in unserer Welt, wenn nicht sogar einzigartig in unserem großen Kosmos, der sich vor etwa fünfzehn Milliarden Jahren aus einem Urknall entwickelt haben soll. Von unserer Kenntnis der unbelebten Materie her, die uns auf der Erde umgibt und das Universum in Form von unzähligen Sonnen, Sternhaufen und Galaxien füllt, erscheinen die belebten Formen der Materie wie reine Wunder: als äußerst unwahrscheinliche, komplexe, empfindliche und verletzbare Organisationen von Materie, die nur unter ganz begrenzten äußeren Bedingungen existieren können. Kleinste Abweichungen dieser Bedingungen bringen sie zum Kippen, führen zu ihrem Tode, verwandeln sie in stabilere unbelebte Formen.

Leben ist, so besehen, immer in Gefahr, weil es nicht auf einem stabilen Gleichgewicht beruht. Es verdankt seine relativ hohe Beständigkeit einer ausgleichenden Bewegung, einem Fließgleichgewicht, ganz ähnlich wie wir dies beim Gehen bewerkstelligen, indem wir geschickt von einem labilen Bein zum anderen wechseln und uns dadurch fortbewegen. Mit seinem Bewusstsein und seiner Fähigkeit zum absichtsvollen Handeln hat der Mensch eine neue Stufe des Lebendigen erklommen. Sie ermöglicht ihm, die Welt auf doppelte und recht unterschiedliche Weise wahrzunehmen. Er erlebt sie zunächst ganz unmittelbar innerlich, weil er, wie alles andere, »Teil« dieser Weit ist; und erfährt sie dann nochmals anders über seine Sinne in seinem hellen Bewusstsein als etwas Äußeres, von sich selbst Abgetrenntes.

Es ist diese Betonung der äußeren Welt, die von der Trennung ausgeht, durch die der Mensch sich selbst als Lebewesen in Frage stellt und mit sich selbst auch ein Großteil des höher entwickelten Lebens auf der Erde in Gefahr bringt. Es ist die Negierung der inneren Wahrnehmung der Wirklichkeit als einer Ganzheit, welche den Menschen zu seiner Naturvergessenheit führt und ihn dazu verleitet, sich im Wettstreit mit anderen den Ast abzusägen, auf dem er sitzt.

Es ist eine Tragödie, dass dieser homo sapiens sapiens, diese wohl flexibelste, differenzierteste und lebendigste Kreatur sich heute anschickt, seine eigene Lebendigkeit und die der anderen Mitlebewesen nur als die Bewegung einer raffinierten, aber determinierten Maschine zu deuten. Dieses Missverständnis kann verheerende Folgen zeitigen, vielleicht nicht der katastrophalsten Art, was ein vorzeitiges Ende alles Lebens auf unserem einmaligen Planeten bedeuten könnte. Wahrscheinlicher erscheint, dass es den Menschen als letztes Glied der Evolution am empfindlichsten treffen wird. Denn dieses hochkomplexe, vielfältig austarierte und eben deshalb recht robuste Biosystem kann in seiner Gesamtheit in der einen oder anderen Form auch ohne uns Menschen leben. Die Natur braucht uns nicht. Wir aber brauchen sie. Ohne das Biosystem der Natur und seine ganz speziell auf der Erdoberfläche ausgebildete Form, in die wir evolutionär hineingewachsen und symbiotisch eingepasst sind, können wir Menschen nicht sein.

Die Geschichte der Menschheit ist reich an Beispielen, wo neue tiefe Erkenntnisse über die Wirklichkeit dazu verleiteten, diese neuen Einsichten als die letzte und eigentliche Wahrheit zu betrachten, nach der sich nun das Leben der Menschen und der Zivilisation auszurichten hätte, um künftig nicht mehr zu scheitern. So musste sich der Papst unlängst für den Übereifer und die Überheblichkeit seiner Diener entschuldigen, die etwa einen Galilei 1633 bei Androhung des Verbrennungstodes seine Thesen abschwören ließ, dass die Erde sich täglich um ihre Achse und jährlich um die Sonne drehe. Die Geschichte hat in diesem Fall gegen die Behauptungen der Kirchenmänner entschieden und dies eindeutig. Galilei hatte zweifellos recht, die Kirche nicht. Doch laufen heute die Naturwissenschaftler mit ähnlicher Arroganz Gefahr, den Wahrheitsanspruch ihrer Aussagen über die Struktur der Wirklichkeit und deren Gesetzlichkeit nun ihrerseits fahrlässig zu überhöhen und zu verabsolutieren.

Die vielfältigen, teilweise euphorischen Vorstellungen mit Blick auf das begonnene neue Jahrtausend lassen uns vergessen, dass sich durch die neuen Erkenntnisse der Physik im Mikrokosmos zu Beginn des 20. Jahrhunderts unser bisheriges wissenschaftliches Weltbild grundlegend verändert hat. Das Erstaunliche dabei ist, dass sich diese revolutionären Einsichten in den vergangenen bald hundert Jahren seit ihrer theoretischen Klärung kaum auf die anderen Wissenschaften ausgewirkt und nur ganz oberflächlich Eingang in das allgemeine Denken unserer Gesellschaft gefunden haben.

Und dies nicht etwa, weil die darin entwickelten Ideen sich nicht wissenschaftlich bewährt haben oder durchsetzen konnten. Im Gegenteil, sie bilden heute praktisch unangefochten das Fundament, auf dem die exakten Naturwissenschaften aufbauen. Sie haben darüber hinaus durch die damit verknüpfte neue Technik auch unsere Gesellschaft im Guten wie im Bösen umfassend und tiefgreifend verändert. So hat sich durch die Mikroelektronik und Halbleitertechnik unsere industrielle Gesellschaft zu einer Informationsgesellschaft gewandelt, in der praktisch unbegrenzte Datenmengen verarbeitet, geordnet und in weniger als einer Zehntelsekunde bis zu entferntesten Orten unserer Erde gebracht werden können. Wobei dies leider, doch verständlicherweise, nicht eine ähnlich schnelle Verständigung zwischen den Menschen gefördert hat, sondern durch die Globalisierung eher die traditionellen Spannungen zu verstärken scheint. Die Entfesselung der Energien in den Atomkernen haben durch die Atombomben und die »friedliche« Nutzung der Kernenergie uns Menschen Kräfte in die Hand gegeben, mit denen wir heute uns selbst und den höher entwickelten Teil der Biosphäre in Sekundenschnelle vernichten oder ganze Areale für uns Menschen auf Jahrhunderte unbewohnbar machen könnten, wie die großen Reaktorunglücke in Tschernobyl oder jüngst in Fukushima gezeigt haben.

Wie ist es möglich, dass alle diese vielfältigen, erstaunlichen und gewaltigen Konsequenzen der neuen Physik wissenschaftlich und gesellschaftlich angenommen und in den Alltag integriert wurden, ohne gleichzeitig auch damit die eklatant andere Weltsicht zu übernehmen, durch welche diese Physik erst »verständlich« wird? Der Hauptgrund hierfür dürfte sein, dass die neuen Vorstellungen, die uns die neue Physik abverlangt, nicht nur schwer verständlich und »verdaulich« sind. Sie verändern auch unser Weltbild auf eine grundlegende und zunächst durchaus verstörende Art und Weise. Sie zeigen aber auch Wege auf, wie wir den vielfältigen Krisen unserer Zivilisation begegnen und sie überwinden können. Von beidem soll in diesem Buch die Rede sein: vom neuen Denken und von neuem Mut und Handeln in Krisenzeiten wie den unsrigen.