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Antje Bultmann / Hans-Jürgen Fischbeck (Hrsg.)
Gewissenlose Geschäfte

Wie Wirtschaft und Industrie unser Leben aufs Spiel setzen


München 1996 (Knaur); Taschenbuch, 296 Seiten; ISBN: 3-426-77225-6








Sind Vergiftungen, Unfälle, lebenslängliche Gesundheitsschäden und Todesfälle der Preis für unsere High-Tech-Gesellschaft? Zählt die betriebswirtschaftliche Bilanz mehr als die Unversehrtheit der Menschen?

In diesem Buch geht es nicht um zufällige Unfälle. Die wird es immer geben. Es geht um Unternehmen, die gefährliche Produkte nicht vom Markt nehmen, an riskanten Verfahren festhalten und neue Stoffe ohne ausreichende Prüfung in die Umwelt entlassen – und zwar obwohl sie um deren Gefährlichkeit wissen. Menschenopfer werden so in Kauf genommen. Den finanziellen Schaden, der in die Milliarden geht, tragen die Versicherten und Steuerzahler. Die Verursacher bleiben meist unbehelligt.


Antje Bultmann


geboren 1941, studierte Verhaltens- und Sozialwissenschaften in Heidelberg, Göttingen und Tübingen. Zehn Jahre war sie als Lehrerin und Heimleiterin tätig, bevor sie ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart absolvierte. Sie leitete ein Projekt Umweltschutz und Kirche in München und ist Mitglied der Ernst-Friedrich-Schumacher-Gesellschaft. Heute lebt und arbeitet sie als freiberufliche Journalistin in der Nähe von München.




Hans-Jürgen Fischbeck


geboren 1938, studierte Physik an der Humbold-Universität in Berlin. Er arbeitete von 1962 bis 1991 am Zentralinstitut für Elektronenphysik in Ostberlin. Promotion 1966, Habilitation 1969 zum Thema der Festkörperphysik. Von 1977 bis 1990 gehörte er der Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg (Ostregion) an und war Mitbegründer der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt. 1990 wurde er erst in die Ostberliner Stadtverordnetenversammlung und später in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Seit 1992 ist er Studienleiter an der Evangelischen Akademie in Mülheim/Ruhr.


Inhaltsverzeichnis


Hans-Jürgen Fischbeck Vorwort: Moloch Wohlstand










1.

Antje Bultmann / Andrea Surkus Einleitung: Menschenopfer eingeplant







I. Der Wert des Menschen: Rechenexempel







2.

José A. Lutzenberger Einäugige Ökonomie



3.

Sabine Csampai Lobbykratie gegen Minderheiten?



4.

Till Bastian Grenzwerte für Volksverdummung gibt es offensichtlich nicht



5.

Peter Kafka Restrisiko – Anmerkungen zum Künstlichen Gewissen (PDF, 15 Seiten)



6.

Christoph Bals Globale Klimapolitik: Wieviel ist ein Menschenleben »wert«?







II. Eingriff in das Leben: Beispiele







7.

Linde Peters Xeno-Ostrogene: Bedrohen Umweltgifte mit Hormonwirkung die Fortpflanzung von Menschen und Tieren?



8.

Egmont R. Koch Stärke für Afrika: Tödliche Geschäfte mit gefälschten Arzneimitteln



9.

Martin Hofmann Grüne Gentechnik Freilandversuche ohne Risiko



10.

Roswitha Mikulla-Liegert Aus der Praxis des Verbraucherschutzes: Rückrufe in der Automobilindustrie



11.

Claus Biegert Strahlendes Geheimnis: Das Südseeatoll Mururoa – Opfer des französischen Nuklearkolonialismus



12.

Ute Bernhardt / Ingo Ruhmann Tödliche Bits: Vom Multimedium zum Hyperrisiko







III. Lebenswerte Zukunft: Perspektiven







13.

Sigrid Hopf / Antje Bultmann Motive und Strukturen: Wie können wir uns ändern?



14.

Emst Ulrich von Weizsäcker Gibt es einen Grund zum Technikoptimismus?






Zu den Autorinnen und Autoren


Leseprobe


Hans-Jürgen Fischbeck
Vorwort: Moloch Wohlstand






Das technokratisch verfügte Risiko ist das Thema dieses Buches. Es war auch das Thema einer Tagung der Evangelischen Akademie Mülheim unter dem iitel »Der statistische Tod – Menschenopfer auf dem Altar des Fortschritts?« Das technokratisch verfügte Risiko ist wohl zu unterscheiden von den selbstgewählten und selbstverantworteten Risiken, die wir alle eingehen und ohne die Leben nicht möglich ist. Die technokratischen Risiken sind auch keine demokratisch beschlossenen Risiken. Dies alles wird in der Einleitung noch genauer betrachtet.






Ich frage mich aber, ob es nicht so etwas wie eine gesellschaftliche Ermächtigung für die ökonomisch ausgeübte Technokratie, eine Art Gesellschaftsvertrag gibt, der Wohlstand als Gegenleistung für einzugehende Risiken vorsieht. An einen solchen imaginären Gesellschaftsvertrag appelliert offenbar der »Strategiekreis Forschung und Technologie« – ein Gremium prominenter Wissenschaftler beim vormaligen Forschungsminister Paul Krüger –, wenn er in seinem Bericht vom Juli 1994 schreibt:






»Dabei sollte allerdings in der öffentlichen Diskussion weitaus deutlicher als bisher der Zusammenhang von Risiken und Wohlstandschancen aufgezeigt werden. In Deutschland dürfte das Wohlstandsniveau kaum zu halten sein, wenn gleichzeitig aus Angst vor Risiken technologische Entwicklungen abgelehnt oder erschwert werden. Mit ihrer Neigung, Risiken zu vermeiden, wird die Wohlstandsgesellschaft selbst zu einem Risiko für den Wohlstand.«






Mit einem Unterton des Vorwurfs wird gesagt: Wenn euch der Wohlstand lieb und teuer ist, dann nehmt auch die technologischen Risiken gefälligst in Kauf. Das heißt im Klartext: Risiken für das Leben hinnehmen, um Risiken für den Wohlstand zu vermeiden.






Wie teuer ist uns der Wohlstand? Experten meinen, die Gesellschaft würde die Risiken einer technologischen Innovation akzeptieren, wenn sie nicht mehr als einen Toten auf 10 000 Menschen pro Jahr mit sich brächte. Ist das der Preis, den wir zu zahlen bereit sind? Wie viele solcher »Innovationen« haben wir schon? Zahlen »wir« denn wirklich? Zahlt nicht nur jener eine von 10 000 Menschen im Jahr? Wer ist das Opfer, das Menschenopfer, das für unseren Wohlstand – die Wissenschaftler des Strategiekreises sagen es – geopfert werden muß? Unser Wohlstand aber hängt – auch das sagen die Wissenschaftler – vom technischen Fortschritt ab.






Ist »Fortschritt« der Gott, dem wir in unseren Entwicklungslabors den Altar bauen, auf dem wir jeder riskanten Technologie pro Jahr einen von 10 000 Menschen opfern, damit er uns »Wohlstand« beschert? Warum tun wir das? Jeder und jede von uns könnte doch dieser eine sein. Schon die Erhaltung des Wohlstands, gar nicht mal seine Steigerung, erfordern ständige technologische Innovation, ständig »neue Märkte«. Der »Fortschritt« – so sagen kritische Ökonomen – schreitet gar nicht mehr fort, sondern tritt auf der Stelle. Er ist zur Tretmühle geworden.






Mir kommt da jenes Märchen in den Sinn, in dem ein Drache regelmäßig mit Jungfrauen gefüttert werden muß, um ihn immer wieder neu zu befriedigen. Der Moloch des innovationsgefütterten Wohlstands ist unersättlich, und wir sind – anders als im Märchen – selbst dieser Moloch, solange wir am oben erwähnten »Gesellschaftsvertrag« mit der Technokratie festhalten. Wir sind aber auch eventuell sein Opfer. Dieses Wörtchen »eventuell« läßt uns das Ganze akzeptieren, wenn es nur für eine genügend kleine Wahrscheinlichkeit steht. Wir würden es nicht mehr akzeptieren, wenn der riskierte Tod nicht mehr statistisch, sondern zurechenbar wie eine unverschuldete Todesstrafe wäre, wie ein Justizmord also.






Wir, die Wohlstandsgesellschaft, sind also selbst dieser unersättliche Moloch. Wir können nicht mehr zufrieden sein. Sind wir von allen guten Geistern verlassen? Von welchem Geist sind wir verlassen? Mir scheint, eine der tiefsten Gründe für unsere Unersättlichkeit ist darin zu suchen, daß wir, die Zeitgenossen der Wohlstandsgesellschaft, glauben, mit dem Tode sei alles aus. Deshalb klammern wir uns an unser unerfülltes Leben. Darum bleiben wir unbefriedigt bis zuletzt, denn wir haben ja noch nicht alles gehabt und noch nicht alles erlebt, was uns das Konsum- und Dienstleistungs-Business zu bieten hat. Deshalb, so meine ich, nehmen wir den statistischen Tod in Kauf. Denn wir haben ja nichts anderes und nichts besseres mehr als unseren Wohlstand. Das müssen die statistischen Opfer mit sinnlosem Leiden oder gar vorzeitigem Tod bezahlen.






Vorzeitiger Tod? Gibt es für uns überhaupt noch einen »zeitigen« Tod? Sehen wir ihn nicht fast immer als vorzeitig an?. Wir versuchen ihn doch mit allen technischen Mitteln hinauszuzögern bis auf den allerletzten Augenblick und verdrängen ihn in Kliniken und Alten-Ghettos. Unbefriedigte Menschen können nicht sterben und deshalb nicht richtig leben.






Es ist höchste Zeit, jenen imaginären Gesellschaftsvertrag »Wohlstand gegen Risiko« zur Diskussion und Disposition zu stellen, dem noch viel mehr zum Opfer zu fallen droht als die »Geopferten«, um die es in diesem Buch geht.






Unser Buch will einen Beitrag dazu leisten. Wir verkennen ja nicht, daß der technische Fortschritt wirklich ein Fortschritt war, weil er eine Fülle von Risiken, die von Krankheiten und Naturkatastrophen drohten, erheblich gemindert hat, so daß sich unsere Lebenserwartung verdoppelte. Nun aber ist nicht nur der Grenznutzen erreicht. Auch die Haftung und Rückzahlung der zuvor externalisierten Kosten werden von uns verlangt. Wir können diese unsere Sünden nicht mehr statistischen Opfern aufbürden und sie wie »Sündenböcke« in die Wüste der Geschichte schicken. Eine neue, befriedete Zivilisation muß gefunden werden.