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Gilles
Vanderpooten: Über Ihre Zeit im Ressort für soziale
Fragen des UNO-Wirtschafts- und Sozialrates haben Sie gesagt:
»Das war vielleicht die ehrgeizigste Periode meines Lebens,
mit dem bestimmten Gefühl, etwas für die Zukunft –
wenn schon nicht für die Ewigkeit – zu leisten.«
Wie stellten Sie sich damals die Zukunft vor, und wie stellen Sie
sie sich heute vor?
Stéphane
Hessel: Nach meinen Erfahrungen in deutschen
Konzentrationslagern gab es für mich keine wichtigere
politische Aufgabe als die Arbeit an den Menschenrechten. Meine
Mitwirkung an der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte erlebte ich als Teilnahme an einem ganz großen
geschichtlichen Wurf, um jedem Menschen Grundrechte zu
garantieren.
1945 ging es darum, die Menschheit von der
schrecklichen Last des Totalitarismus, des Nationalsozialismus,
des Faschismus zu befreien und hierfür die
UNO-Mitgliedstaaten auf Rechte von universeller Geltung
einzuschwören. Das Ziel war ungeheuer ehrgeizig. Die Länder
des Südens, des Westens und des Ostens, des Okzidents und
des Orients sollten sich auf einen Kodex von Werten, Freiheiten
und allgemeinen Rechten einigen, auch wenn diese nicht unbedingt
ihrer Tradition entsprachen. Es sollte ein Text entstehen, der
den Kulturen aller Länder offenstand und kein Land
schockierte. Dieses ehrgeizige Ziel wurde am 10. Dezember 1948
erreicht, als 48 Staaten im Pariser Palais de Chaillot für
die Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
stimmten. Da gab es nun auf einmal eine Weltorganisation und dazu
einen Menschenrechtstext, der von sehr unterschiedlichen
politischen Regimes verfasst worden war. Noch nie zuvor war von
»Menschenrechten« im Weltmaßstab die Rede
gewesen! Zum ersten Mal erschien vor unseren Augen die
Weltgesellschaft als einheitliches, interdependentes und
solidarisches Gebilde. Das war unerhört neu – auch
dieses anspruchsvolle Adjektiv: universell. Ja, wir meinten die
Gesamtheit der Frauen und Männer in aller Welt, ohne
Ausnahme.
Ich will einige dieser Rechte zitieren. Artikel
13: »Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei
zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Jeder
hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen,
zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.« Artikel
16: »Heiratsfähige Männer und Frauen haben ...
bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren
Auflösung gleiche Rechte.« Artikel 22: »Jeder
hat ... das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, ...
in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Rechte zu gelangen, die für seine Würde ...
unentbehrlich sind.« Artikel 25: »Jeder hat das Recht
auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit
und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung,
Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige
soziale Leistungen.«
Die Erklärung brachte die
politische Landschaft gründlich durcheinander.
Kolonialvölker beriefen sich auf sie in ihrem
Unabhängigkeitskampf, und alle Verfassungen der neuen
Staaten nehmen auf sie Bezug. In den vergangenen sechzig Jahren
sind beträchtliche Fortschritte erzielt worden. Und dennoch,
auch wenn diese Werte und Rechte uns heute als selbstverständlich
und weithin anerkannt erscheinen mögen: Machen wir uns
nichts vor. Sie wurden häufig missachtet, auch von den
sogenannten demokratischen Ländern. Kein einziger Staat
wendet sie uneingeschränkt an. Nehmen wir die Behandlung der
Zuwanderer in Frankreich. Die Regierung gewährt ihnen nicht
immer die Aufnahme, die sie verdienen würden.
Himmelschreiend, was diese Regierung aus dem Asylrecht macht und
wie sie mit illegalen Zuwanderern umgeht. Wir müssen uns
zahlreich zusammentun, um gegen solche Verletzungen elementarer
Rechte zu protestieren. Die Bürger kennen ihre zivilen,
sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Rechte und können
sie unter Berufung auf die staatlich sanktionierten Texte
einfordern, insbesondere bei den Regierungen. Sie können
protestieren, nicht zuletzt im Verbund mit Organisationen, die
für die Verteidigung der Menschenrechte eintreten und
inzwischen weltweit vernetzt sind – vor allem Amnesty
International, Human Rights Watch oder die Internationale
Menschenrechtsföderation (Fédération
Internationale des Ligues des Droits de l'Homme –
FIDH).
Eindrücklich, was erreicht worden ist –
und ebenso, woran es noch fehlt!
Später habe ich
begriffen, dass als politisches Ziel der Schutz der Natur
mindestens ebenso wichtig ist wie die Wahrung der Menschenrechte.
Für die Zukunft sehe ich demnach die Rechte der menschlichen
Person und der Natur als gleichberechtigt nebeneinander. Da hat
sich meine Wahrnehmung erweitert.
Ansonsten habe ich mich
nicht wesentlich verändert. Ich bin immer noch relativ
optimistisch in meinem Vertrauen, dass die kommenden Generationen
ihre Probleme in den Griff bekommen können, und ich bin
immer noch überzeugt, dass der menschliche Geist und das
sittliche Bewusstsein noch ein weites Feld zu beackern haben.
Jede Generation ist imstande, ihren Platz und ihre Verpflichtung
im Sinne von Sartre zu finden, für den wahres Menschsein mit
entschiedenem Engagement und Verantwortungsbewusstsein beginnt.
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