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Gerald Hüther
Was wir sind und was wir sein könnten

Ein neurobiologischer Mutmacher



Frankfurt am Main 2011 (Fischer); 190 Seiten; ISBN 978-3-10-032405-4






Erst in allerjüngster Zeit hat die Hirnforschung eine Entdeckung gemacht, die unser gegenwärtiges Bild von uns selbst zutiefst erschüttert: Unser Gehirn wird nicht so, wie es unsere genetischen Anlagen vorschreiben. Es lässt sich auch nicht wie ein Muskel trainieren. Es ist viel einfacher. Unser Gehirn wird von ganz allein so, wie und wofür wir es mit Begeisterung benutzen. Dass sich Menschen für alles Mögliche begeistern können, haben sie zu allen Zeiten immer wieder bewiesen, oft genug mit fragwürdigen Folgen. Menschen können aber auch ihre Begeisterungsfähigkeit verlieren, sogar kollektiv. Dann funktioniert ihr Hirn zwar noch, aber es entwickelt sich nicht mehr weiter. Statt Potenzialentfalter, die sie sein könnten, bleiben solche Menschen dann nur Ressourcennutzer und Besitzstandwahrer. Immer neue Krisen, Burn-out, Depressionen und Demenzen werden dann zu Symptomen einer festgefahrenen Kultur. Gerald Hüther plädiert deshalb für einen Wechsel von einer Gesellschaft der Ressourcenausnutzung und Besitzstandwahrung zu einer Gesellschaft der Potentialentfaltung. Aus der Sicht des Neurobiologen zeigt er eindrucksvoll, wie es uns gelingen kann, aus dem, was wir sind, zu dem zu werden, was wir sein können.


Gerald Hüther


geboren 1951, ist Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Zuvor, am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, hat er sich mit Hirnentwicklungsstörungen beschäftigt; als Heisenbergstipendiat hat er ein Labor für neurobiologische Grundlagenforschung aufgebaut. Gerald Hüther ist Präsident der Sinn-Stiftung und Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Biologie der Angst«, »Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn«, »Die Evolution der Liebe« und zuletzt »Männer: Das schwache Geschlecht und sein Gehirn«.


Inhaltsverzeichnis


Einstieg

1. Wer ist »Wir«?
Blut ist nicht dicker als Tinte
Not schweißt nur zusammen
Angst wirkt noch stärker als Not
Verbundenheit entsteht jenseits von Angst und Not
Hinterm Horizont geht's weiter


2. Was sind wir?
Wir sind keine Tiere
Wir haben ein besonderes Gehirn
Wir machen besondere Erfahrungen
Wir haben besondere Bedürfnisse
Wir leben in besonderen Gemeinschaften


3. Wie sind wir so geworden, wie wir sind?
Der Preis des Dazugehörenwollens
Die Mechanismen der Anpassung
Die Anpassungsfalle


4. Was haben wir uns alles eingeredet?
Wir konstruieren unsere eigene Wirklichkeit
Unsere Vorstellungen sind wie Ketten
Unsere Erfahrungen bestimmen unsere Bewertungen
Irren ist menschlich
Wir sind keine Maschinen
Wir sind auch keine Wettkämpfer
Das Ende der Ideologien


5. Was haben wir aus uns gemacht?
Begeisterung ist Dünger fürs Hirn
Wofür wir uns aus uns selbst heraus begeistern
Von wem wir uns begeistern lassen
Fragwürdige Vorbilder
Bedauernswerte Eselstreiber
Clevere Rattenfänger
Wie wir unsere Begeisterungsfähigkeit verlieren


6. Was könnte aus uns werden?
Statt Mauern und Gräben könnten wir auch Brücken bauen
Statt uns vom Leben formen zu lassen, könnten wir auch zu Gestaltern unseres Lebens werden
Statt so weiterzumachen wie bisher, könnten wir auch versuchen, über uns hinauszuwachsen
Wir könnten mutiger und zuversichtlicher sein
Wir könnten gelassener und kreativer sein
Wir könnten gesünder und zufriedener sein
Wir könnten freier und verbundener sein
Wir könnten bewusster und umsichtiger sein

Statt Ressourcenausnutzer zu bleiben, könnten wir auch Potentialentfalter werden
Potentialentfaltung im individuellen Lebenslauf
Wir könnten unter »Arbeit« etwas anderes verstehen
Wir könnten unter »Erziehung« und »Bildung« etwas anderes verstehen
Wir könnten unter »Erwachsensein« etwas anderes verstehen
Wir könnten unter »Älterwerden« etwas anderes verstehen
Wir könnten unter dem, worauf es im Leben ankommt, etwas anderes verstehen

Potentialentfaltung in menschlichen Gemeinschaften


Ausstieg


Leseprobe


Einstieg






Manchmal kann ich richtig spüren, wie gern ich lebe, und dann fange ich an zu staunen. Es gibt so vieles, worüber man nur ehrfürchtig innehalten und sich nicht genug wundern kann. Es ist ein Wunder, dass unser blauer Planet als lebendige Insel in der unvorstellbaren Weite des Weltalls überhaupt entstehen konnte. Die ungeheure Vielfalt der Lebensformen, die die Evolution des Lebendigen auf unserer Erde hervorgebracht hat, ist genauso unfassbar. Und über uns selbst und über das, was in so relativ kurzer Zeit aus uns geworden ist, kann man sich auch nur wundern. Kaum einhunderttausend Jahre ist es her, als sich die ersten Vertreter unserer Spezies auf den Weg gemacht haben. Inzwischen sind wir überall auf der Erde unterwegs, wir sind sogar auf dem Mond gewesen. Und dabei entdecken und gestalten wir nicht nur unsere äußere Welt. Wir fangen auch an, uns selbst immer besser zu verstehen. Unser Leben ist ein Erkenntnisprozess. Inzwischen sind wir erstaunlich weit vorangekommen auf diesem Weg der Erkenntnis. Niemand weiß, wohin er uns führen wird. Aber wenn wir aufhörten, ihn weiter zu gehen, wenn wir irgendwann aufhörten, Suchende zu sein, weil wir meinen, alles zu wissen und alles verstanden zu haben, dann hätten wir das größte Wunder verloren, das wir alle mit auf die Welt gebracht haben: unsere Entdeckerfreude.

Zum Glück brauchen wir unsere Entdeckungsreise durch das Leben nicht immer wieder ganz von vorn zu beginnen. Sie beginnt auch nicht irgendwo, sondern genau in der Welt, die uns vorangegangene Generationen als Ergebnis ihrer Versuche hinterlassen haben, eine Welt zu schaffen, in der es keine Probleme mehr gibt und alles besser werden sollte. Nicht alles, was sie uns dabei vererbt haben, ist heutzutage noch hilfreich. Auf manches könnten wir gern verzichten, und viele dieser Hinterlassenschaften bereiten uns heute weitaus größere Probleme, als das unsere Vorfahren damals absehen konnten oder wollten. Aber was wäre das für ein Leben, wenn alles schon so wäre, wie wir es uns wünschen? Dann gäbe es morgen keine Überraschungen und übermorgen keine Enttäuschungen mehr. Dann brauchten wir selbst nichts mehr zu tun und es gäbe für uns nichts mehr, um das wir uns noch kümmern könnten. Dann hätten wir das andere große Wunder verloren, das wir alle mit auf die Welt gebracht haben – unsere Gestaltungslust.

Glücklicherweise sind unsere Probleme immer noch groß genug, und verstanden haben wir noch längst nicht alles. Deshalb sind wir auch noch immer entdeckend und gestaltend unterwegs. Genauso wie alle lernfähigen Tiere. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Wir haben ein größeres Gehirn, mit dem wir uns mehr merken können. Aber was noch wichtiger ist: Wir können unsere Erfahrungen, unser Wissen und all die vielen zum Teil so schmerzvoll erworbenen Erkenntnisse darüber, worauf es im Leben ankommt, an andere Menschen, vor allem an unsere Kinder weitergeben. Von Generation zu Generation haben Menschen so ihr Wissen und Können, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten überliefert. Auch wenn dabei immer wieder vieles von diesem gemeinsam generierten und überlieferten Wissensschatz verloren gegangen ist, so hat sich dieser Schatz doch ständig erweitert. Noch nie haben Menschen so viel gewusst und so viel vermocht wie wir heute.

Je erfolgreicher wir aber unsere Welt mit all diesem Wissen nach unseren Vorstellungen verändern, desto unausweichlicher werden auch wir selbst, wird auch unsere eigene Entwicklung von diesem Veränderungsprozess erfasst. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte sind in so kurzer Zeit solch dramatische und globale Umwälzungen der bisherigen Lebensbedingungen ausgelöst worden wie gegenwärtig von uns. Zwangsläufig werden nun auch wir selbst uns auf eine bisher nie dagewesene Weise verändern. Das macht ein bisschen Angst, denn wir wissen ja nicht, was dabei aus uns wird.

Dass mehr in jedem einzelnen Menschen steckt als das, was bisher aus ihm, also auch aus Ihnen oder mir, geworden ist, haben wir wohl schon immer geahnt. Sie brauchen sich ja nur kurz vorzustellen, Sie wären als kleiner Inuit am Polarkreis oder als Amazonasindianerin im tropischen Regenwald aufgewachsen. Oder meinetwegen auch hier bei uns als Kind einer arbeitslosen, alleinerziehenden Mutter oder einer wohlsituierten Akademikerfamilie. Vielleicht auch bei Eltern, die gar kein Deutsch können, womöglich sogar weder Lesen noch Schreiben gelernt haben. Überall wäre aus Ihnen oder mir etwas geworden. Aber jedes Mal eben etwas anderes. Je nachdem, in welchem Kulturkreis und unter welchen Bedingungen wir aufgewachsen wären, hätten wir ganz bestimmte der in uns angelegten Möglichkeiten besser entfalten können als andere.

Und wir hätten dann auch ein anderes Gehirn bekommen. je nachdem, ob wir in eine komplexere oder eine weniger komplexe Lebenswelt hineingewachsen wären, und in Abhängigkeit davon, wie gut oder weniger gut wir es geschafft hätten, uns in dieser Welt zurechtzufinden, diese Welt zu verstehen und uns selbst als Gestalter dieser Welt zu erfahren, wären auch mehr oder weniger komplexe neuronale und synaptische Verschaltungsmuster in unserem Gehirn stabilisiert worden.

Genau das ist ja die wesentliche Erkenntnis, die die Hirnforscher in den letzten Jahren zutage gefördert haben: Unser Gehirn wird so, wie und wofür wir es besonders gern und deshalb auch besonders intensiv benutzen. Es muss also auf uns selbst zurückwirken, wenn wir unsere eigene Lebenswelt und damit auch die Lebenswelt unserer Kinder immer stärker verändern. Und wenn die Hirnforscher recht haben, müssen wir davon ausgehen, dass sich solche Veränderungen entweder günstiger oder auch ungünstiger auf die Entfaltung der in uns und in unseren Kindern angelegten Potentiale auswirken und zur Herausformung komplexer oder weniger komplex vernetzter Gehirne führen.

»Der Übergang vom Affen zum Menschen, das sind wir«, hatte uns Konrad Lorenz ja schon vor einigen Jahrzehnten ins Stammbuch geschrieben. Er hat nicht gesagt, wie weit wir auf diesem Weg zu dem, was wir werden könnten, bereits vorangekommen sind. Und wenn man nach wissenschaftlichen Befunden sucht, die uns Auskunft darüber geben, wie es in uns, vor allem in unseren Gehirnen aussieht und wie es künftig mit uns weitergehen wird, so findet man leider nur sehr wenig, was darauf hindeutet, dass wir diesen Übergang aus eigener Kraft schaffen könnten. Einen freien Willen haben wir nicht, unsere aus der Steinzeit mitgebrachten Verhaltensweisen lassen sich auch nicht unterdrücken, unser Unbewusstes treibt uns vor sich her, und unser Ich hat keine Ahnung davon, wer es ist, geschweige denn wie viele. Hormone steuern unsere Gefühle, und die vernebeln uns den Verstand. Das Einzige, was sich mit hoher statistischer Sicherheit voraussagen lässt, ist, dass wir im Durchschnitt, je älter wir werden, auch umso häufiger depressiv oder dement werden. Na prima. Angesichts dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse bleibt einem ja auch gar nichts anderes übrig.

Glücklicherweise gibt es aber auch noch andere wissenschaftliche Befunde. Die weisen in eine ganz andere Richtung. Von denen hört man aber nicht so oft in den Medien. Die lassen sich nicht gut vermarkten, denn sie beschreiben nicht, was an uns alles so schrecklich ist und weshalb so viele von uns so oft im Leben scheitern. Sie erzählen eher viele kleine Beispiele, die es überall in unserem Land gibt, die nicht nur zeigen, dass es möglich ist, sondern auch wie es gelingen kann, unsere eigene Lebenswelt und damit auch die unserer Kinder so zu gestalten, dass es in Zukunft immer etwas besser möglich wird, das wunderbare menschliche Potential zur Entfaltung zu bringen, das in uns allen angelegt, in jedem von uns verborgen ist.

Gern lade ich Sie in diesem Buch ein, gemeinsam mit mir herauszufinden, wie das auch bei Ihnen zu Hause, in der Schule Ihrer Kinder, in Ihrem Wohngebiet oder in Ihrer Firma gehen kann. Wonach wir dabei suchen müssten, ist nicht das Geheimnis des Erfolgs. Um in unserer gegenwärtigen Welt erfolgreich zu sein, braucht man weder seine menschlichen Potentiale zu entfalten, noch muss man beim Übergang vom Affen zum Menschen besonders weit vorangekommen sein. Falls Sie bis eben noch gehofft hatten, in diesem Buch Hinweise zu finden, wie Sie die Erkenntnisse der Neurobiologie nutzen können, um Ihr Leben, Ihre Beziehungen zu anderen Menschen, die Erziehung Ihrer Kinder oder Ihre berufliche Entwicklung in Zukunft noch erfolgreicher zu gestalten als bisher, dann schlagen Sie es jetzt lieber wieder zu. Stellen Sie es einfach in eine sehr entlegene Ecke Ihres Bücherregals. Vielleicht holen Sie es später noch einmal hervor, wenn Sie bemerkt haben, wie leicht man auf der ständigen Suche nach Erfolg in seinem eigenen Leben genau das übersieht, was ein gelingendes Leben ausmacht: Man kann es nicht »machen«, und es geht nicht allein.

Wonach wir also in diesem Buch suchen wollen, ist nicht das Geheimnis des Erfolgs, sondern das Geheimnis des Gelingens. Das Besondere an diesem Geheimnis des Gelingens besteht darin, dass man es nicht beschreiben oder erklären kann. Es muss sich, so altmodisch es klingt, offenbaren. Das heißt, dass es immer und überall da ist und wirksam wird, unabhängig von uns und unserem Zutun. Wenn es nicht so wäre, gäbe es weder unseren wundervollen Planeten noch das Leben in all seiner Vielfalt und Fülle, so wie es sich auf unserer Erde entwickelt hat. Und uns selbst mit unserem zeitlebens erkenntnisfähigen Gehirn gäbe es dann auch nicht. Das Geheimnis des Gelingens wirkt also unabhängig davon, ob wir es erkennen oder gar verstehen. Und wir können es auch nicht erzwingen, dass etwas gelingt. Deshalb ist es so ziemlich die verrückteste Idee, auf die man überhaupt kommen kann, ein Buch über etwas zu schreiben, was sich gar nicht beschreiben lässt, was sich nur mit etwas Glück – oder, um auch hier wieder ein altmodisches, aber passendes Wort zu gebrauchen, mit Gnade – dem offenbart, der offen dafür ist, es zu erspüren.

Das kann freilich nur dann gelingen, wenn wir nicht gleich nach Antworten und fertigen Rezepten suchen. Vielleicht müssten wir uns Fragen stellen. Und das müssten Fragen sein, die uns selbst dazu bewegen, durch eigenes Nachdenken und aufgrund unserer eigenen Erfahrungen nach Antworten zu suchen. Wir müssten zudem versuchen, uns dabei nicht von unseren bisherigen Vorstellungen, sondern lieber von unserer Vorstellungskraft leiten zu lassen. Und wir sollten uns schließlich an jeder Stelle unserer Entdeckungsreise kritisch fragen, ob die Antworten, die wir gefunden haben, nicht nur durch unsere eigenen Erfahrungen, sondern auch durch die aller anderen Menschen, die wir kennen und die uns nahestehen, bestätigt werden. Ich weiß nicht, ob es gelingt, aber ich lade Sie ein, es gemeinsam mit mir zu versuchen...


Siehe auch


Gerald Hüther: Kommunale IntelligenzPotenzialentfaltung in Städten und Gemeinden