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Julian Jaynes
Der Ursprung des Bewußtseins
durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche



Reinbek bei Hamburg 1988 (Rowohlt); 560 Seiten; ISBN: 3 498 03320 4






»Seit Sigmund Freud und C.G.Jung hat keiner den Wagemut und die geistige Kraft aufgebracht, eine so weitreichende neue Theorie aufzustellen«, schrieb Prof. Ernest Rossi in der Fachzeitschrift Psychological Perspectives, als dieses Buch mit dem rätselhaften Titel erschien. In der New York Times hieß es: »Wer ist denn dieser Julian Jaynes? Und warum sagt er solche genialen Dinge bereits in seinem ersten Buch und nicht erst in einem Alterswerk, das ein Gelehrtenleben krönt?«

Jaynes war Psychologieprofessor an der amerikanischen Princeton-Universität. In diesem Buch begründet er seine These: Bewußtsein ist in der Menschheitsgeschichte zuerst vor rund dreitausend Jahren aufgetreten. Autonomie, Subjektivität, Moral, Gewissen, Geschichte, überhaupt das Wissen des Menschen von sich selbst – lauter historische Neuerwerbungen. Die Helden Homers und alle Menschen der Frühzeit hingegen konnten in Grenzsituationen, unter Streß nicht selbst-bewußt entscheiden wie wir. Statt dessen vernahmen sie akustische Halluzinationen – Stimmen von Göttern. So sprach Jahwe zu Moses aus dem brennenden Dornbusch, Pallas Athene zu Achilleus.

Die vorbewußten Menschen folgten der Stimme, die sie hörten. Existentielle Zweifel und Ängste überfielen sie nie. Sie ahnten nichts von Selbstverwirklichung und reflektierten nicht ihre eigene Vergänglichkeit. Der Frühmensch gehorchte automatenhaft der Stimme Gottes, die von außen zu ihm zu sprechen schien oder den Priestern, die jene Stimme vernahmen. In Wirklichkeit, so Jaynes, kommunizierte damals das Sprachzentrum in der einen Hemisphäre des in zwei Kammern geteilten Gehirns mit dem Hörzentrum in der anderen.

Um das Jahr 1000 v. Chr. muß diese bikamerale Organisation des menschlichen Denkapparats zusammengebrochen sein. Die Stimmen der Götter verstummten, und erst jetzt entstand das, was unser subjektives Bewußtsein ausmacht.

Aber was ist eigentlich Bewußtsein? Warum setzte das bikamerale System in einer bestimmten historischen Phase aus? Wie kam es, daß die entstandene Lücke sich mit Bewußtsein füllte? Waren denn etwa alle Menschen vor dreitausend Jahren, weil sie Stimmen hörten, schizophren? Können wir vielleicht an heutigen Psychose-Patienten studieren, wie der Mensch der Frühzeit geistig funktionierte?

Professor Julian Jaynes hat ein herrlich kontroverses Buch geschrieben: aufregend und anregend, manchmal schockierend, oft verblüffend, immer spannend. Im angesehenen American Journal of Psychiatry urteilte ein Fachkollege so: »Geschrieben mit der Erzählkunst eines Tolkien ... revolutionär wie Freud... ein neues Paradigma des menschlichen Verhaltens.« – »Lassen Sie sich nicht abschrecken von dem akademisch klingenden Titel dieses Buches«, schrieb die Neu, York Times bei Erscheinen von The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind. »Die Sprache ist immer klar und verständlich, häufig sogar von poetischer Schönheit und Kraft.« – Das angesehene Rezensionsorgan Kirkus Review urteilte: »Die Urknall-Theorie des Bewußtseins, packend vorgetragen, von beeindruckender Gelehrsamkeit und Akribie, schneidend in ihrer Kritik älterer Hypothesen, mit interessanten Darlegungen über Hypnose, Schizophrenie, Weissagung und über das Wesen des Schöpferischen bei Dichtern und Künstlern.«


Julian Jaynes


1920–1997, geboren in West Newton/Massachusetts als Sohn eines unitarischen Geistlichen. Nach dem Psychologiestudium an den Universitäten Harvard und McGill begann er seine Laufbahn als Hochschullehrer in Toronto und Yale. Seit 1964 lehrt er in Princeton. – Wissenschaftlich ist Jaynes als Autor zahlreicher Artikel, Lehrbücher und Forschungsberichte sowie als Herausgeber mehrerer Fachzeitschriften ausgewiesen. Mit dem vorliegenden Werk hat er weit über sein Spezialgebiet hinaus Aufmerksamkeit erregt: von schroffer Kritik bis zu enthusiastischer Bewunderung. Übersetzungen seiner staunenswerten «Paläontologie unseres subjektiven Bewußtseins» in die Weltsprachen liegen vor.


Inhaltsverzeichnis


Vorwort






Einführung: Das Problem des Bewußtseins




Bewußtsein als Eigenschaft der Materie
Bewußtsein als Eigenschaft des Protoplasmas
Bewußtsein als Lernfähigkeit
Bewußtsein als Folge einer metaphysischen Intervention
Die Theorie vom hilflosen Zuschauer
Die „emergente Evolution“
Der Behaviorismus
Bewußtsein als das retikuläre Aktivierungssystem








ERSTES BUCH
Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele






1.

Das Bewußtsein des Bewußtseins




Die Dimension des Bewußtseins
Das Bewußtsein ist kein Abbild unseres Erlebens
Das Bewußtsein ist nicht notwendig für die Begriffsbildung
Das Bewußtsein ist nicht notwendig für das Lernen
Das Bewußtsein ist nicht notwendig zum Denken
Das Bewußtsein ist nicht notwendig für die Vernunfttätigkeit
Der Sitz des Bewußtseins
Ist Bewußtsein überhaupt erforderlich?








2.

Das Bewußtsein




Metapher und Sprache
Verstehen als Metapher
Die Metaphernsprache des Geistes
Paraphoratoren und Paraphoranden
Die Eigenschaften des Bewußtseins





Spatialisierung – Exzerpierung – Das Ich (qua Analogon) – Das Ich (qua Metapher) – Narrativierung - Kompatibilisierung








3.

Die Psychologie der „Ilias“




Die Sprache der „Ilias“
Die Religion der frühen Griechen
Die bikamerale Psyche








4.

Die bikamerale Psyche




Der bikamerale Mensch
Der bikamerale Gott





Halluzinationen bei Psychotikern – Die Eigenarten der Stimmen – Lokalisierung und Funktion – Die visuelle Komponente – Die Auslösung der Götter




Die Macht des Wortes





Die Beherrschung des Gehorchens








5.

Das Doppelhirn




Jede der beiden Hemisphären versteht Sprache
In der rechten Hemisphäre ist die gottähnliche Funktion noch rudimentär vorhanden
Jede der beiden Hemisphären kann sich unabhängig von der anderen betätigen
Die Unterschiede in den kognitiven Funktionen der beiden Hemisphären sind analog dem Unterschied zwischen Gott und Mensch
Das Gehirn in neuer Sicht








6.

Der Ursprung der Kultur




Gruppenevolution
Die Evolution der Sprache





Die Frage von Zeitpunkt und Zeitraum – Rufe, Modifikatoren, Imperative – Substantive – Der Ursprung von Gehörshalluzinationen – Die Epoche der Eigennamen – Das Aufkommen der Landwirtschaft




Der erste Gott





Der halluzinogene König – Der Gottkönig – Der Sieg der Zivilisation








ZWEITES BUCH
Das Beweismaterial der Geschichte








1.

Götter, Gräber und Idole




Die Gotteshäuser





Von Jericho bis Ur – Olmeken und Maya – Andenkulturen – Das Goldreich der Inka




Die lebenden Toten
Sprechende Idole





Statuetten – Eine Theorie der Idole – Sprachen die Idole?








2.

Bikamerale Theokratien mit Schriftkultur




Mesopotamien: Die Götter als Eigentümer





Zeremonielle Mundwaschungen – Der Privatgott – Wann der König zum Gott wird




Ägypten: Die Könige als Götter





Die „Memphitische Theologie“ – Osiris: die Stimme des toten Königs – Herrschaftshäuser für Stimmen – Eine neue Theorie des Ka




Theokratien im Wandel der Zeiten





Zunehmende Komplexitätsgrade – Die Idee des Rechts








3.

Bedingungen für Bewußtsein




Die Labilität des bikameralen Königtums
Die Schwächung der göttlichen Autorität durch den Vormarsch der Schrift
Das Versagen der Götter
Die assyrische Springflut
Vulkanausbruch, Massenwanderung, Invasion
Die Anfänge des Bewußtseins
Der Ursprung der Narrativierung in der epischen Dichtung
Der Ursprung des Ich (qua Analogon) in der Hinterlist
Natürliche Selektion








4.

Metanoia in Mesopotamien





Gebet – Zur Genealogie der Engel – Dämonen – Ein neuer Himmel




Weissagung





Omina und Omentexte – Los-Orakel – Augurienschau – Spontanes Divinieren




Die Grenzscheide der Subjektivität





Vergleich zwischen assyrischen und altbabylonischen Briefen – Die Spatialisierung der Zeit – Gilgamesch -








5.

Das intellektuelle Bewußtsein der Griechen




Ein Blick in die Zukunft durch die „Ilias“





Vorbewußte Hypostasen – Thymos – Phrenes – Kradie – Etor – Noos - Psyche




Der Listenreichtum der „Odyssee“
Der törichte Perses
Lyrik und Elegik 700-600 v.Chr.
Solons Geist
Die Erfindung der Seele








6.

Das moralische Bewußtsein der Habiru [Hebräer]




Vergleich zwischen dem Buch Amos und dem Prediger Salomo
Einige Anmerkungen zum Pentateuch
Dahinschwinden der visuellen Komponente
Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Personen
Widersprüche in ein und derselben Person
Götter als Wahrsager
Das 1. Buch Samuel
Die Idole der Habiru
Der letzte nabi








DRTTES BUCH
Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt








1.

Das Streben nach Autorisierung




Orakel





Das Delphische Orakel – Das allgemeine bikamerale Paradigma – Andere Orakel – Die sechs Stadien des Orakulierens – Sibyllen – Renaissance der Idolatrie








2.

Von Propheten und Besessenheit




Induzierte Besessenheit
Schwarze Besessenheit
Besessenheit in der Welt der Gegenwart
Glossolalie








3.

Von Dichtung und Musik




Poesie und Gesang
Das Wesen der Musik
Dichtkunst und Besessenheit
Homilie über Thamyris








4.

Die Hypnose




Die Paraphoranden der Newtonschen Kräfte
Die Wandlung im Wesen des hypnotischen Menschen
Die Induktion
Trance und paralogische Willfährigkeit
Der Hypnotiseur als Autoritätsinstanz
Beweise für die Bikameraltheorie der Hypnose
Einwurf: Gibt es Hypnose, oder gibt es sie nicht?








5.

Die Schizophrenie




Das Zeugnis der Geschichte
Eine gegenstandsspezifische Problematik
Das Halluzinieren
Der Abbau des „Ich“-qua-Analogon
Die Auflösung des Seelenraums
Das Versagen des Narrativierungsvermögens
Entgrenzung des Körperschemas
Die Vorteile der Schizophrenie
Die Neurologie der Schizophrenie
Zum Abschluß








6.

Die Augurien der Wissenschaft







Register, Quellennachweis



Über den Autor


Leseprobe


Der gesamte Text steht auf der Website der Julian Jaynes Society zur Verfügung:
http://www.julianjaynes.org/origin-of-consciousness_german_introduction.php









Vorwort






Die Kernideen des vorliegenden Buches habe ich im September 1969 auf einer Tagung der American Psychological Association in Washington vorgetragen. In all den Jahren seither habe ich meine Gedanken und Begründungen immer wieder auf verschiedenen wissenschaftlichen Veranstaltungen zur Diskussion gestellt. So ergab sich eine ständige Überprüfung und kritische Auseinandersetzung, worin ich einen wertvollen Beitrag sehe.






Im Ersten Buch führe ich aus, wie ich auf die erwähnten Kernideen gestoßen wurde.






Im Zweiten Buch sichte ich das historische Beweismaterial für meine Thesen im einzelnen.






Im Dritten Buch zeige ich, was meine Theorie bei der Erklärung einiger moderner Phänomene zu leisten vermag.






Ursprünglich wollte ich in einem Vierten und Fünften Buch die Hauptresultate meines neuen Ansatzes darlegen. Daraus mußte aber ein eigenes Buch werden, an dem ich noch schreibe. Arbeitstitel: The Consequences of Consciousness – Die Folgen des Bewußtseins.






Julian Jaynes









EINFÜHRUNG: Das Problem des Bewußtseins






WAS FÜR EINE WELT des augenlosen Sehens und des hörbaren Schweigens, dieses immaterielle Land der Seele! Welche mit Worten nicht zu fassenden Wesenheiten, diese körperlosen Erinnerungen, diese niemandem vorzeigbaren Träumereien! Und wie intim das Ganze! Eine heimliche Bühne des sprachlosen Selbstgesprächs und Mitsichzu-Rate-Gehens, die unsichtbare Arena allen Fühlens, Phantasierens und Fragens, ein grenzenloser Sammelplatz von Enttäuschungen und Entdeckungen. Ein ganzes Königreich, wo jeder von uns als einsamer Alleinherrscher regiert, Zweifel übt, wenn er will, Macht übt, wenn er kann. Eine versteckte Klause, wo wir die bewegte Chronik unserer vergangenen und noch möglichen zukünftigen Taten ausarbeiten können. Ein inneres Universum, das mehr mein Selbst ist als alles, was mir der Spiegel zeigen kann. Dieses Bewußtsein, das mein eigenstes, innerstes Selbst ist, das alles ist und doch ein reines Nichts – was ist es?






Und wie entstand es?



Und warum?






Nur wenige Fragen haben eine längere und verwirrendere Geschichte als diese: das Problem des Bewußtseins und seiner Stellung in der Natur. Jahrhunderte des Grübelns und Experimentierens, Jahrhunderte des Bemühens, sich den Zusammenhang zwischen zwei vermeintlich selbständig existierenden Wesenheiten zu erklären, die man in dem einen Zeitalter Geist und Materie, in dem anderen Subjekt und Objekt, in wieder einem anderen Seele und Leib nannte; endlose Darlegungen über Bewußtseinsströme, Bewußtseinszustände, Bewußtseinsinhalte; präzisierende Begriffsbildungen wie »Anschauung«, »Sinnesdaten«, »Außenwelt«, »Organgefühle«, »Wahrnehmung«, »Präsentationen« und »Repräsentationen«, die »Empfindungen«, »Vorstellungen« und »Affekte« der strukturalistischen Introspektionstheorie, die »Beobachtungsdaten der wissenschaftlichen Positivisten, die »Felder« der Phänomenologen, die »Apparitionen« eines Hobbes, die »Phänomene« eines Kant, die »Erscheinungen« der Idealisten, die »Elemente« eines Mach, die »Phanera« eines Peirce, die »Kategorialirrtümer« eines Ryle – das alles hat das Problem des Bewußtseins nicht aus der Welt schaffen können. Stets bleibt ein Rest und widersetzt sich einer Lösung.






Was sich da so hartnäckig sperrt und nicht verschwinden will, ist der Unterschied zwischen dem, was die anderen von mir sehen, und meinem eigenen inneren, von tiefem Gefühl getragenen Selbstempfinden. Es ist der Unterschied zwischen dem Ich-und-Du der gemeinsamen Verhaltenswelt und dem ortlosen Ort der Gedankendinge. Unsere Reflexionen und Träume, unsere imaginären Gespräche mit imaginären Partnern, in denen wir – ach wie gut, daß niemand weiß – alles ausplaudern, unsere Hoffnungen und unseren Kummer, unsere Zukunft und unsere Vergangenheit entschuldigen, rechtfertigen, behaupten: Dieses ganze dichte Phantasiegewebe unterscheidet sich himmelweit von der handfesten, standfesten, greifbaren, kneifbaren Wirklichkeit mit ihren Bäumen, ihrem Gras, ihren Tischen, Ozeanen, Händen, Sternen – ja selbst ihren Gehirnen. Wie ist das möglich? Wie fügen sich diese flüchtigen Gebilde meines einsamen Erlebens in den Bau der Natur, der diese stille Kammer des Sich-Wissens irgendwie in sich schließt?






Das Bewußtsein vom Problem des Bewußtseins ist fast so alt wie das Bewußtsein selbst. Und jede Epoche hat das Bewußtsein in Begriffen gefaßt, die ihren eigenen vorherrschenden Themen und Interessen entsprachen. Im Goldenen Zeitalter Griechenlands, als man frei umherreiste, während Sklaven die Arbeit verrichteten, war das Bewußtsein mit der gleichen Freiheit ausgestattet. So nannte Heraklit es einen unermeßlichen Raum, dessen Grenzen »du im Gehen nicht ausfindig machen kannst, und ob du jegliche Straße ab schrittest«. Ein Jahrtausend später verwunderte sich Augustinus inmitten der höhlenreichen Hügellandschaft um Karthago über »Berg und Hügel meines Sinnens«, »die abgeschiedenen Räume meines Gedächtnisses, die vielen weitläufigen Hallen, auf wunderbare Weise gefüllt mit unübersehbaren Vorräten«. Man beachte, wie die jeweils wahrgenommene Außenwelt zur Metapher für die Innenwelt wird.






Die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war eine Zeit der großen geologischen Entdeckungen: Man lernte, die Schichtung der Erdkruste als eine Aufzeichnung der Erdgeschichte zu entziffern. Und daraufhin verbreitete sich die Vorstellung vom Bewußtsein als einer Schichtung, in der sich die Vergangenheit des Individuums abgelagert habe, mit immer tieferen und tieferen Schichten, die sich schließlich in unzugänglichem Dunkel verloren. Diese Betonung des Unbewußten gewann immer mehr an Boden, und um 1875 vertraten dann die meisten Psychologen die Ansicht, daß das Seelenleben nur zu einem geringen Teil aus bewußten Prozessen, in der Hauptsache dagegen aus unbewußten Wahrnehmungen, unbewußten Vorstellungen und unbewußten Urteilen bestehe.






Es war die Chemie, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Geologie als Modewissenschaft ablöste, und von James Mill bis hin zu Wundt und seinen Schülern (wie beispielsweise Titchener) verstand man das Bewußtsein als komplexe Verbindung, die im Labor säuberlich in ihre Elemente – Elemente wie »Sinnesempfindung« oder »Gefühl« zerlegt werden konnte.






Und als sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Dampflokomotiven zischend und schnaubend in das Erscheinungsbild des Alltags schoben, eroberten sie sich damit zugleich ihren Platz im Bewußtsein vom Bewußtsein: Das Unbewußte wurde jetzt zu einem Kessel voll brodelnder Energien, die nach Abfuhr verlangten und, wenn sie unterdrückt (»verdrängt«) wurden, sich in neurotischem Verhalten oder in verstiegenen Träumen mit ihrem Taumel versteckter Wunscherfüllungen gewaltsam ein Ventil schufen.






Über solche Metaphern ist nicht viel zu sagen, man kann nur feststellen, daß es eben – Metaphern sind.






Ursprünglich lief diese Suche nach dem Wesen des Bewußtseins unter der Bezeichnung Leib-Seele-Problem und brachte eine erdrückende Menge philosophischen Tiefsinns hervor. Mit dem Aufkommen der Evolutionstheorie begann sie sich jedoch zu einer wissenschaftsgemäßeren Problemstellung zu mausern. Heute ist daraus die Frage nach dem Ursprung des Geistes oder, spezifischer, des Bewußtseins im Ganzen des Evolutionsprozesses geworden. Wo kann sich dieses subjektive Erleben, das mir in der Selbstbeobachtung zugänglich wird, dieser ständige Begleiter der Unmasse meiner Assoziationen, Hoffnungen, Befürchtungen, Affekte, Erkenntnisse, Farbeindrücke, Geruchsempfindungen, Zahnschmerzen, Schauder, Nervenkitzel, Lust- und Unlustgefühle und Begierden – wo und wie könnte sich dieses wunderbar gewebte Innenleben im Lauf der Evolution entwickelt haben? Wie können wir von bloßer Materie zu dieser Innerlichkeit gelangt sein? Und wenn dem so ist, wann?






Dieses Problem nimmt eine Zentralstellung im Denken des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Und es lohnt sich, eine kurze Musterung der bisher vorgeschlagenen Lösungen vorzunehmen. Auf acht von ihnen, die ich für die wichtigsten halte, werde ich im folgenden eingehen.









Auszug aus
ZWEITES BUCH: Das Beweismaterial der Geschichte
6. Das moralische Bewußtsein der Habiru [Hebräer]
Seite 380 f:






Liest man das Alte Testament aus dieser Perspektive von vorne bis hinten durch, so enthüllt sich in der Abfolge der einzelnen Bücher mit wunderbarer und überwältigender Klarheit ein Sinnmuster, das auf nichts anderes als die langwierige, schmerzhafte Geburt unseres subjektiven Bewußtseins zurückverweist. (...) Das Alte Testament ist im wesentlichen die Geschichte vom Absterben der bikameralen Psyche, vom allmählichen Rückzug der noch übriggebliebenen elohim ins Schweigen, von darauffolgender Desorientiertheit und tragischer Gewaltsamkeit, von dem letztlich vergeblichen Versuch, der elohim in ihren Propheten wieder habhaft zu werden, bis sich schließlich in der Idee des Handelns nach Gesetz und Recht ein Ersatz auftut.






Aber wie ein Gespenst geht das uranfängliche unbewußte Wesen noch immer in der Seele um; sie zergrübelt sich in dem Bemühen, die verlorengegangene Einheit mit der autoritativen Instanz wiederzufinden; und das Verlangen – das tiefe und auszehrende Verlangen – nach göttlichem Willen und Zuwillensein dem Göttlichen läßt noch uns Heutige nicht los.









Auszug aus:
DRITTES BUCH: Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt
1. Das Streben nach Autorisierung

Seite 386 f:






Das augenfälligste und bedeutendste Relikt jener älteren Mentalität ist demnach unser religiöses Erbe in all seiner labyrinthischen Schönheit und Formenvielfalt. (...) Wollte man das Thema in aller Ausführlichkeit erörtern, müßte man beispielsweise mit Einzelheiten belegen, wie die von Jesus angestrebte Reform des Judentums sich begrifflich rekonstruieren läßt als Entwurf einer Religion für subjektiv bewußte Menschen, die eine bikameral verwurzelte Religion ersetzen sollte und damit zwangsläufig zur Neustiftung geriet. Verhaltensmodifikationen müssen nun von drinnen, aus dem neuen Bewußtsein heraus, kommen und nicht mehr durch die Außenleitung mosaischer Gesetze bewirkt werden. (...) Das Reich Gottes, das gewonnen werden soll, ist ein psychologisches, kein materielles Reich. (...) Doch auch das Christentum hält im Lauf seiner Geschichte seinem Stifter nicht die Treue – kann sie ihm nicht halten. Wieder und wieder kehrt die Entwicklung der christlichen Kirche zurück zum alten, wohlbekannten Verlangen nach den absoluten Gewißheiten der Bikameralität: verzichtend auf das schwer zu erlangende innere Reich der agape, bindet sie sich an eine äußere Hierarchie, die durch ein Wolkenmeer von Wundern und Unfehlbarkeit hindurch hinaufreicht bis zur archaischen Autorisierungsinstanz in den fernen Himmeln.


Siehe auch


Julian Jaynes Society: http://www.julianjaynes.org