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Robert Jungk
Menschenbeben

Der Aufstand gegen das Unerträgliche


München 1983 (Bertelsmann); 224 Seiten; ISBN 3-570-01485-1








Menschenbeben – mit diesem Begriff charakterisiert Robert Jungk den weltweiten Aufstand gegen Krieg, Unmenschlichkeit und Gewalt. Das Buch ergreift Partei. Es ist Hoffnung für die, die sich ohnmächtig wähnen, Mahnung für die Mächtigen, Warnung für die Schwerhörigen.

»Haben wir, die Generation der Warner und Zweifler, nicht vielleicht das Gegenteil von dem erreicht, was wir uns vorgenommen hatten? – Wir wollten die Zeitgenossen gegen die lebensfeindlichen Drohungen eines blinden Fortschritts mobilisieren, und das ist uns bei vielen gelungen. Gleichzeitig aber sind wir durch die Beschreibung der Allgegenwart und der an Unüberwindlichkeit grenzenden Macht der Herrschafts- und Zerstörungstechnik bei anderen – und sie sind wohl noch zahlreicher – zu Wegbereitern der Resignation geworden. (…) Wäre es nicht dringend notwendig, frage ich mich (…), von dem Beginn des Sichwehrens zu berichten, von der unterschätzten Macht der Schwachen? War es jetzt nicht an der Zeit zu ermutigen, statt nur zu ängstigen?« (Seite 12 f)


Robert Jungk


geboren 1913 in Berlin (eigentlich Robert Baum) war ein Publizist, Journalist und einer der ersten Zukunftsforscher. 1986 erhielt er den Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis). Gestorben 1994 in Salzburg. Siehe auch: www.robertjungk.at


Inhaltsverzeichnis


Anstoß
Mehr als eine Revolution

1. „Die Winde der Meuterei“
2. Auf doppeltem Boden
3. Gleich nebenan die Hölle
4. Die im Dunkel sieht man
5. Die Lebensretterinnen
6. Es herrscht Unruhe auf dem Land
7. Ein weltweites Netz entsteht

Ausblick
Mehr als eine Friedensbewegung

Das Unerträgliche und der Protest.
Eine Chronologie der Unruhe am Beispiel eines einzigen Jahres


Leseprobe


aus: Anstoß (Abschnitt 3, S. 12 ff)






Ich habe mich auf die Suche gemacht nach all jenen Orten, an denen sich der Protest am eindrucksvollsten manifestiene, wollte Menschen finden, die sich von den scheinbar erstarkten politischen und technischen Machtsystemen nicht länger einschüchtern ließen, hoffte, deutliche Anzeichen für eine mögliche Rettung aus der großen Not zu entdecken.

Jetzt,da ich diesen Erfahrungsbericht niederschreibe, bin ich trotz mancher Enttäuschungen zuversichtlicher als zu Beginn meiner „Expedition“. Die sich so stark geben, sind in Wahrheit schwächer als sie auftreten, und diejenigen, die meinen, sie seien zur Ohnmacht verurteilt, sind stärker als sie vermuten. Die Mächtigen von heute sind geplagt von inneren Widersprüchen, verwirrt durch Irrtümer, tief verunsichert von nagenden Zweifeln. Sie können keine anziehenden, glaubhaften Zukunftsbilder mehr entwerfen, weil sie nur noch so tun, als glaubten sie an ihre Schlagworte vom unversiegbaren Reichtum, an ihre Versprechung demokratischer Freiheit, die sie selber ständig verletzen.

Diese innere Gefährdung der Herrschaftssysteme nimmt in dem Maße zu, wie das tägliche Umfeld, in dem sie leben, ihnen feindlicher wird. Die zunehmende Ablehnung der Bevölkerung genügt zwar noch nicht, die Organisationen und Installationen, durch die sie sich gefährdet sieht, zu beseitigen. Aber sie reicht jetzt schon aus, die „weichen Bestandteile“ dieser harten Apparate, nämlich ihre denkenden und manchmal auch fühlenden Mitarbeiter zunehmend zu beeinflussen. Die Ministerien, Verwaltungsgebäude, Kasernen, Kernkraftwerke, Chemiefabriken, Startbahnen, Manövergelände, Arsenale, Testanlagen, Raketenstellungen, Sende- und Lauscheinrichtungen, Laboratorien und Deponien werden physisch immer stärker befestigt und isoliert. Doch die Insassen dieser heutigen Festungen und Sperrkreise können nicht so vollständig abgeschirmt werden, daß jeder Einfluß von ihnen ferngehalten wird.

Im Brüsseler Hauptquartier der NATO sah ich auffällige Warnplakate angeschlagen, in denen für einen zum internen Gebrauch hergestellten Walt-Disney-Film geworben wurde. Sein Thema: die eindringliche Warnung an das Personal vor schädlichen Außeneinflüssen.

Dieser Isolierungsversuch und viele andere sind ziemlich aussichtslos. Man kann Menschen vielleicht gegen feindliche Ideologien immun machen. Aber ihren Lebensinstinkt wird man nicht dauerhaft betäuben, ihren Überlebenswillen nicht für immer brechen können. Von Gregory Berglund, einem ehemaligen hohen Offizier der US Airforce, dem zeitweilig sechs mit Atombomben ausgerüstete Flugsysteme unterstellt waren, habe ich erfahren, wie zermtübend eine solche schreckliche Verantwortung sein kann, wie unaufhörlich quälend das Gefühl der möglichen Mitschuld an einem Super-Holocaust ist. Er hat mir erzählt, wie ihm während eines Urlaubs auf einer Fahrt in der Londoner Untergrundbahn diese Katastrophenvorstellungen plötzlich so sehr zusetzten, daß er beschloß, sofort nach seiner Rückkehr zum Stützpunkt Bentwaters in Ostengland seine Ablösung von dieser „Massenmord-Aufgabe“ zu verlangen.

Schockiert von dem beabsichtigten Ausbruch eines hohen Geheimnisträgers aus dem Irrenhaus ihrer Atomstrategie wurde daraufhin sofort alles unternommen, um ihn für geisteskrank zu erklären. Berglund wurde zuerst in England, dann in den USA in eine psychiatrische Anstalt nach der anderen geschickt. Trotz der Bemühungen, ihn durch starke Psychopharmaka in eine chemische Zwangsjacke zu stecken und widerstandslos zu machen, ließ er sich nicht umstimmen und konnte sich durch Nachdenken und Selbstanalyse nach und nach ganz vom Verfolgungswahn seiner Berufskaste befreien. Schließlich setzte er seine Befreiung aus der rechtswidrigen Internierung durch und wurde von nun an zu einem der wichtigsten Zeugen des weltweiten Widersands.

Solchen „Bekehrten“ bin ich im Laufe meiner Suche nach Zeichen der Hoffnung häufig begegnet. Sie waren durch schwierige persönliche Wandlungsprozesse gegangen, ehe sie sich zum kompromißlosen Kampf für die Erhaltung des Lebens entschließen konnten. Unter dem Eindruck von Einsichten, die meist im Widerspruch zu ihrer Umgebung, zu ihrem bisherigen Denken und Tun standen, hatten sie ihre berufliche Existenz und die Anerkennung ihrer Umgebung aufs Spiel setzen müssen.

Diesen Abspringern, Umkehrern, Außenseitern gibt nicht Fanatismus Kraft, sondern die Überzeugung, daß jeder einzelne von ihnen für viele andere eintreten muß, die eine solche Entscheidung nicht oder noch nicht treffen können.

„Eine von uns, die sich kompromißlos für den Frieden einsetzen kann, hat das Gewicht von mindestens zehntausend anderen Frauen, die nicht so weit gehen wollen“, sagte mir eine der Engländerinnen, die seit vielen Monaten den amerikanischen Luftstützpunkt Greenham Common belagern. Das klingt überheblich, aber sie brachte es mit so ruhiger Selbstverständlichkeit hervor, daß ich tief beeindruckt war.

Nicht nur Zerstörer leben unter uns, sondern auch Lebensretter.

Wüchse ihre Zahl so sehr, daß sie die künftige Entwicklung entscheidend beeinflussen, dann könnte ihnen glücken, was Revolutionen bisher noch nie gelang: die Besserung der Verhältnisse durch die Besserung der Menschen.

Ein großes Beben geht durch die ganze Welt. In immer neuen Stößen erschüttert es das Bestehende. Und wenn es auch vorübergehend zu verebben scheint, irgendwo und irgendwann hebt sich der Boden abermals. Die Angst, der Zorn und die Hoffnung der Bedrohten schaffen unaufhörlich Unruhe. Das ist ein andauerndes und weit umfassenderes Phänomen als die bisherigen Revolutionen. Ich nenne es „Menschenbeben“.


Siehe auch


www.robertjungk.at