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Philipp
Lepenies Verbot und
Verzicht Politik
aus dem Geiste des Unterlassens
Berlin
2022 (edition suhrkamp); 266 Seiten; ISBN 978-3-518-12787-2
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Ein Reflex lähmt
die politischen Debatten um den Klimawandel. Sobald es um
Maßnahmen geht, die Einschränkungen bedeuten, ist die
Empörung groß: Tempolimit? Der sichere Weg in die
Ökodiktatur! Veggie-Day? Das war’s mit dem
Nackensteak! Dabei waren Verbot und Verzicht lange bewährte
Instrumente, um Ressourcen zu schonen oder ökologische
Krisen zu bewältigen. Man denke nur an das
FCKW-Verbot.
Philipp Lepenies untersucht die Ursprünge
dieser eingeübten Fundamentalopposition. Er führt sie
auf die neoliberale Haltung zurück, die im Staat einen
Gegner sieht und individuelle Konsumentscheidungen über
moralische und ökologische Bedenken stellt. Dieser Geist
falsch verstandener Freiheit hat allerdings eine Politik des
Unterlassens hervorgebracht, die sich scheut, das Offensichtliche
auszusprechen: dass eine sozialökologische Transformation
ohne Verbot und Verzicht nicht gelingen wird.
Der Glaube,
Verbot und Verzicht seien keine legitimen staatlichen
Instrumente, zeigt, wie stark sich die Ideale des Neoliberalismus
in den Köpfen festgesetzt hat.
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(Klappentexte)
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Philipp
Lepenies
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geboren 1971, ist
Ökonom und Professor für Politikwissenschaft an der
Freien Universität Berlin.
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Inhaltsverzeichnis
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Die
Unausweichlichkeit von Verbot und Verzicht – eine
Vorbemerkung
Einleitung: Nachhaltige Entwicklung und
Verbotspolitik
I Die Argumente
des
Unterlassens Pervertierung Nutzlosigkeit Gefährdung Illegitimität
II
Verzicht – Geldmachen und Affektkontrolle Entgegenwirkende
Leidenschaften Interesse Wirtschaftliche Tätigkeit Doux
Commerce und die zivilisatorischen Effekte des
Geldmachens Konsumverzicht und der Geist des
Kapitalismus Eigeninteresse und Allgemeinwohl
III
Verbot – Der Staat als Gegner Staat versus
individuelle Freiheit: Hayek und der Weg in die Knechtschaft Die
Rolle des Individuums Unerwarteter Erfolg Das Individuum
als Held, der Staat als Teufel: Ayn Rand Der Kampf um Ideen:
Unternehmer, Think-Tanks und die Mont Pèlerin Society Die
24 Eier des Antony Fisher Chicago und die Verfassung der
Freiheit Die Rhetorik der Freiheit: Das neorömische Erbe
Englands Atlas Hayeks Ideen erstrahlen Milton
Friedman Das amerikanische Road to Serfdom: Capitalism and
Freedom Wettbewerb im Bildungssektor Die
Friedman-Doktrin: Die Rolle von Unternehmern Stockholm
ruft Fernsehen und Free to Choose Umwelt Der
Staat als Problem Sozialismus, überall Sozialismus
IV
Konsum I – Konsumentensouveränität und Douce
Consommation Wenige konsumieren, alle werden
glücklich Liebe und Geltungskonsum Konsum und die
Vorzüge der Ungleichheit Von der Rückständigkeit
des
Geldausgebens Verbraucherdemokratie Konsumentensouveränität Douce
Consommation: Der milde, süße Konsum
V
Konsum II – Konsumtristesse und ungebremste
Affekte Massenkonsum als Realität und
Ideal Konsumkultur Konsumkritik der Postmoderne Wiederkehr
des Affekts Digitalisierung und Affekte: Der Konsument wird
zum Tyrannen
Schluss: Politik aus
dem Geiste des Unterlassens
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Leseprobe
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Seite
1-19 siehe:
https://www.suhrkamp.de/buch/philipp-lepenies-verbot-und-verzicht-t-9783518127872
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Zitate
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Fußnoten
und Quellenangaben sind hier nicht wiedergegeben. Farbliche
Hervorhebungen durch E.W.
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Die
Unausweichlichkeit von Verbot und Verzicht – eine
Vorbemerkung
Um den Klimawandel aufzuhalten oder
zumindest abzuschwächen, müssen wir unsere Art zu leben
grundlegend verändern. Wir stehen vor einer umfassenden
Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit. Diese wird staatlich
gelenkt werden.Verbot und Verzicht werden eine wesentliche Rolle
spielen. Nicht die alleinige, aber eine zentrale. In den letzten
Jahren hat sich allerdings eine politische Haltung
herausgebildet, die Verbote und Verzicht als staatliche
Steuerungsinstrumente immer stärker und immer lauter
ablehnt. Gleichzeitig wird das Anrecht auf jedwede individuelle
Konsumentscheidung als unveräußerliches Freiheitsrecht
zunehmend emotionaler, angespannter und aufgeregter verteidigt.
Dieses Buch beschreibt, wie es dazu kommen konnte, dass zum einen
dem demokratisch legitimierten Staat die Fähigkeit und das
Recht abgesprochen wird, das Verhalten seiner Bürger zu
regeln, und zum anderen unbegrenzter individueller Konsum als
freiheitliche Norm idealisiert wird. Das
Interesse an dieser Frage ist nicht nur historisch. Ich werde
zeigen, dass die hier behandelten Glaubensgrundsätze aus
einer Haltung resultieren, die Demokratie und demokratische
Prozesse kritisch beurteilt. Stattdessen stehen für sie die
ökonomische Logik des Wettbewerbsmarktes und die
individuelle Nutzenmaximierung als soziale Ordnungsprinzipien an
erster Stelle. Die Digitalisierung hat diese Tendenz in den
letzten Jahren drastisch verstärkt. Die Folge ist eine
starre, mehr und mehr hysterische und in ihren Konsequenzen
fatale Abwehrreaktion gegenüber Transformation und
persönlichen Einschränkungen. Sie gefährdet die
Überlebensfähigkeit unserer Demokratie. Schließlich
zerstört diese Haltung immer augenscheinlicher die Elemente,
auf denen zivilisatorischer und demokratischer Fortschritt
beruht: Affektkontrolle und Gemeinwohlorientierung.
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19/20 Der Grundgedanke des Neoliberalismus lautet, dass
das Allgemeinwohl maximal gefördert wird, wenn sich
möglichst alle sozialen Transaktionen an der Marktlogik des
Wettbewerbs ausrichten. Der Staat soll nur die Rahmenbedingungen
für das Funktionieren von Märkten setzen und sich
ansonsten am besten aus allem heraushalten. Der Markt wird
idealisiert, der Staat verteufelt. Der Markt ist effizient, der
Staat ist es nicht. Der Markt schafft Freiheit, der Staat nimmt
sie. Der Markt ist der Tummelplatz des wichtigsten Akteurs der
neoliberalen Welt: des autonomen Individuums, das tagtäglich
bemüht ist, auf der Suche nach dem Glück seinen
Eigennutz zu maximieren. Der Neoliberalismus zielt auf »die
Entzauberung der Politik durch die Wirtschaft«. Elementaren
demokratischen politischen Prozessen skeptisch gegenüber
eingestellt, sollen Marktnormen zu politischen Normen werden.
Staatliche Aktivitäten sollten nicht nur zurückgefahren
werden, sondern der Staat selbst und die ganze Logik des
Regierens sollen sich dem Markt anpassen.
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22-25 Für das Thema Verbot und Verzicht ist der
Stellenwert des individuellen Konsums entscheidend. Zum einen
weil in den aktuellen Transformationsdebatten ein Verbot immer
den individuellen Konsum beschneiden würde; zum anderen weil
Konsum und das Recht, ungehindert zu konsumieren, das genaue
Gegenteil von Verzicht sind. Im vierten
Teil wird daher die Genese des Begriffs der
Konsumentensouveränität neoliberaler Autoren wie
William Hutt und Ludwig von Mises nachgezeichnet. Mit diesem
Konzept wurde nicht nur das Recht auf unbegrenzten und
unreglementierten individuellen Konsum abgeleitet. In dieser
Vorstellung löste auch der Konsument den politischen Bürger
als Souverän ab. Um das Gemeinwesen effizient zu gestalten,
war daher unbegrenzter individueller Konsum maximal geboten.
Konsum wurde zur ersten Bürgerpflicht. Freiheit wurde zur
ungestörten Konsumentscheidung und die Demokratie zu einer
democracy of the consurner. Der Neoliberalismus fußt
auf der Vorstellung dessen, was ich douce consommation
nenne – des allseits Nutzen spendenden Effekts des
individuellen Konsums. Freie Märkte und damit Freiheit
existieren nur, wenn konsumiert wird und der Einzelne nach
Herzenslust konsumieren darf. Die Folgen der
Fixierung auf individuellen Konsum sowie dessen Steigerung durch
die Digitalisierung sind Gegenstand des
fünften Teils. Konsum und veränderte
Konsumgewohnheiten führten spätestens ab den siebziger
Jahren zu einem spürbaren gesellschaftlichen Wandel, der
sich darin ausdrückt, dass der Konsum zum dominanten
identitätsstiftenden Merkmal der Individuen postmoderner
Gesellschaften geworden ist. Der Aufstieg der Mobiltelefonie
sowie des Internets hat die Einengung individueller
Entfaltungsmöglichkeiten auf den Konsum nicht nur bedeutend
vorangetrieben, sondern hat in der Konsequenz zur Rückkehr
und Verstärkung emotionaler, echauffierter und affektierter
Verhaltensweisen geführt, die sich besonders dann entladen,
wenn die individuelle Konsumhandlung eingeschränkt werden
soll. Mit der Digitalisierung verstärkt sich eine
individualzentrierte Anspruchshaltung des „Ich darf alles“,
die den neoliberal verklärten individuellen Konsumsouverän
in das Gegenteil von dem verwandelt, was er eigentlich sein
sollte: in einen individuellen Tyrannen, der jeden
Eingriff in seine Konsumentscheidungen vehement ablehnt. Die
douce consommation ist daher alles andere als douce
und verkehrt sich in ihr Gegenteil. Die
extreme Haltung, die Verbot und Verzicht als Instrumente
staatlichen Handelns ablehnt, fußt auf drei miteinander
verzahnten Aspekten: erstens auf der
Ablehnung staatlicher Eingriffe in das Privatleben, gespiegelt im
Bild des Staates als Gegner, dessen Aktivitäten im Gegensatz
zu denen des idealisierten autonomen Individuums grundsätzlich
negativ zu bewerten sind. Zweitens
auf der Überhöhung des Konsums und der Idee der
Konsumentensouveränität als Recht und Motor einer
effizienten Marktwirtschaft. Drittens
auf einer digital unterstützten und sich verstärkenden
individualzentrierten Konsumblase, die nicht nur die affektive
und emotionale Ebene besonders anspricht, sondern zu
affektgeladenen und emotionalen Reaktionen herausfordert, wenn
die eigenen als legitim angesehenen Konsummöglichkeiten
behindert werden. Diese drei Aspekte bestimmen die Gliederung
dieses Buches. Da es sich bei den
Abwehrargumenten gegen Verbot und Verzicht zunächst immer um
rhetorische Floskeln handelt („Ökodiktatur“,
„Bevormundung“), beginnt dieser Text im folgenden
ersten Teil mit einer allgemeinen
Darstellung rhetorischer Strategien gegen Wandel und
Transformation. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist die
Behauptung, staatliche Verbote und Verzichtsideen seien
grundsätzlich illegitim. Im
zweiten Teil lege ich in einem
kurzen ideengeschichtlichen Exkurs dar, dass schon vor
Jahrhunderten die Verfolgung individueller wirtschaftlicher
Eigeninteressen nicht nur akzeptiert, sondern als gewünschte
Verhaltensnorm etabliert war. Im Unterschied zur modernen
neoliberalen Konsumfixierung war diese ältere Vorstellung
des doux commerce allerdings geprägt von
Affektkontrolle und Konsumverzicht. Doux
commerce, so hieß es damals, habe nicht nur einen
positiven Effekt auf den Umgang der Menschen miteinander, sondern
sei eine der Haupttriebfedern der Zivilisation. Außerdem
sei er eingebettet in eine Ethik der Allgemeinwohlorientierung.
Es sind genau diese Parameter, die durch die
Individualzentrierung und Konsumfixierung des Neoliberalismus im
Sinne der douce consommation verloren gegangen sind und
deren Fehlen sich in den Debatten um Verbot und Verzicht so
deutlich zeigt. In den Schlussfolgerungen
zeige ich, warum die extremen Reaktionen auf Verbot und Verzicht
eine Gefahr für die Demokratie darstellen und auf einem
fatalen Politikverständnis beruhen, das notwendige
Transformationsschritte hin zu mehr Nachhaltigkeit bremst, wenn
nicht gar verhindert: eine Politik aus dem Geiste des
Unterlassens.
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29/30 In seiner 1991 erschienenen Studie The
Rhetoric of Reaction (dt.: Denken gegen die Zukunft. Die
Rhetorik der Reaktion) hat Albert O. Hirschman die
Argumentationsmuster der Reaktion über einen Zeitraum von
zweihundert Jahren untersucht. Dabei nutzte er drei große
historische Transformationsmomente als realpolitische
Ausgangspunkte, um zu zeigen, dass sich die Abwehrhaltung
konservativer Kreise traditionell in drei rhetorischen Mustern
äußerte. Die von ihm gewählten Beispiele waren
die Französische Revolution (18.Jahrhundert), die Einführung
des allgemeinen Wahlrechts (für Männer, im 19.
Jahrhundert) sowie die Etablierung des Wohlfahrtsstaates
beziehungsweise die Einführung staatlicher
Unterstützungsmaßnahmen für Arme, Arbeitslose,
Kranke etc. (im 20.Jahrhundert).
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30-32 Pervertierung
– Das erste rhetorische Muster bezeichnet Hirschman als
Perversity Thesis. Dieser
zufolge ist jedwede revolutionäre politische oder soziale
Transformation zum Scheitern verurteilt. Der Grund hierfür
seien die nichtintendierten Effekte sozialen Verhaltens (…)
Im Falle wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen wie der
finanziellen Unterstützung von Arbeitslosen und Armen lautet
ein traditionelles Perversity-Argument, dass die monetäre
Hilfe Arbeitslosigkeit und Armut nicht verringere, da diese
Menschen durch die Unterstützung den fatalen Anreiz
erhielten, sich nicht um eine Verbesserung ihrer Lage zu bemühen.
Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen würden zu Faulheit
einladen. (…) Die Perverstiy Thesis beruht auf der
Annahme, dass der Mensch natürlichen und unveränderlichen
Verhaltensmustern folgt. Dementsprechend besteht der Sinn von
Politik und Institutionen darin, diese Muster zu erkennen, zu
akzeptieren und sie zu nutzen – und nicht darin, sie
verändern oder neu formen zu wollen. Davon ausgehend kann
man Reformpolitikern dann vorhalten, und das ist die
vermeintliche Stärke des Perversity-Arguments, sie würden
die Natur des Menschen nicht verstehen.
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32/33 Nutzlosigkeit
– Das zweite rhetorische Muster ist die sogenannte Futility
Thesis. Diese behauptet schlicht, dass geplante
transformative Maßnahmen ihr Ziel nicht erreichen werden:
Sie sind nutzlos. Bei der Einführung des allgemeinen
Wahlrechts (für alle Männer) in mehreren europäischen
Staaten ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam das Argument auf, dass
diese Ausweitung und regelmäßige Wahlen an der
etablierten Sozial- und Machtstruktur nichts ändern würden.
Wahlen seien Makulatur. (…) Die Eliten eines Landes (…)
würden immer die Oberhand gewinnen. (…) In den
aktuellen Diskussionen (…) wird die Futility Thesis häufig
im Zusammenhang mit der Vorstellung gebraucht, Verbote und die
mit ihnen einhergehende Neuausrichtung des Verhaltens einiger
Menschen würden insgesamt nicht ins Gewicht fallen; oder die
betroffenen Sektoren hätten so wenig Anteil an dem zu
lösenden Gesamtproblem, dass jedes geplante Verbot unnütz
sei.
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34/35 Gefährdung
– Der dritte rhetorische Kniff ist die Jeopardy
Thesis. Die ins Auge gefassten transformativen
Maßnahmen hätten nicht nur nichtintendierte
Nebeneffekte oder würden nicht funktionieren: Sie wirkten
sich darüber hinaus zerstörerisch auf die bestehenden
Institutionen und die bestehende Ordnung aus und gefährdeten
sie. Der Grund hierfür sei, dass die zu erwartenden Kosten
den Nutzen weit übersteigen würden. (…) Im Falle
der in Deutschland aktuell diskutierten möglichen
transformativen Maßnahmen wird häufig angeführt,
dass bestimmte neue Standards (wie Abgasnormen) die vermeintlich
systemrelevante deutsche Autoindustrie und ihre Zulieferer so
hart träfen, dass ein Großteil der produzierenden
Industrie den Todesstoß erhalten würde und Millionen
von Menschen in die Arbeitslosigkeit abgleiten würden. Die
Sicherung des „Industriestandorts Deutschland“ oder
des „Wohlstandes“ sind typische Floskeln der Jeopardy
Thesis.
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36 Illegitimität
– Neben den drei von Albert Hirschman herausgearbeiteten
Reaktionsmustern hat sich im Zuge der aktuellen
Transformationsdebatte in Deutschland noch ein zusätzliches,
entscheidende viertes Argument etabliert. Ich nenne es in
sprachlicher Anlehnung an die drei Thesen von Hirschman die
Illegitimacy Thesis: die
These der Unrechtmäßigkeit. Besonders deutlich zeigt
sie sich in Auseinandersetzungen um Vorschläge, bei denen
Verbot und Verzicht eine Rolle spielen. Der Aufschrei gegen eine
angebliche „Verbotspolitik“ sowie die Verwendung der
Wörter „Verbot“ und „Verzicht“ als
Kampfbegriffe sollen anzeigen, dass man Verbote sowie die
Aufforderung zum Verzicht nicht als sinnvolle, vor allem aber als
nicht legitime politische Maßnahmen ansieht. Man
echauffiert sich, dass Verbot und Verzicht staatlicherseits
verordnet werden. Es geht in den Debatten weit seltener
inhaltlich und detailliert um den Sinn oder Unsinn geplanter
Verhaltensänderungen. Es geht um Verbot und Verzicht an
sich. Diese werden grundsätzlich abgelehnt. Anders al bei
den von Hirschman herausgearbeiteten Reaktionsmustern sind es
nicht die Konsequenzen bestimmter Politiken, die angegriffen
werden, sondern die Art und Weise, wie und mit welchen
Instrumenten Politik gemacht wird.
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74 Die Kernidee der Illegitimacy Thesis lautet, dass
Verbote und Verzichtsaufforderungen keine legitimen und adäquaten
Steuerungsinstrumente des Staates sind, um das Verhalten der
Bürger zu beeinflussen. Das bedeutet nicht, dass es keinen
Raum für staatliche Verbote und Gebote geben dürfe –
etwa im Strafrecht oder bei notwendigen Regulierungen, zum
Beispiel im Straßenverkehr. Aber hinter der These steckt
die Vorstellung, der Staat solle sich so weit wie möglich
aus dem Privatleben der Bürger heraushalten. Verbunden damit
ist ein Bild vom Staat, in dem dieser für die Bürger
mehr oder weniger gefährlich ist. Sein Aktionsradius muss
daher auf ein absolutes Minimum beschränkt werden. Der Staat
ist ein Gegner, den es immer wieder zu bekämpfen gilt.
Freiheit ist der Kampfbegriff, der den Zustand beschreibt, in dem
der Einzelne tun kann, was er will. Dieser Zustand soll
verteidigt werden. Die Gegenbegriffe lauten Knechtschaft und
Sozialismus. Das Individuum ist die wichtigste Bezugsgröße.
Es geht nicht um die Gesellschaft oder die Gesamtheit der
privaten Akteure. Es geht immer nur um das Individuum, das seinen
Präferenzen gemäß am Markt entscheiden können
muss. Der Neoliberalismus ist die Ideologie, die diese Sicht auf
den Staat und das Individuum am deutlichsten und auch am
effektivsten vertreten hat.
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257/258 Das System des Wettbewerbsmarktes als soziales
Ordnungsprinzip lebt von der Illusion der
Konsumentensouveränität. Damit kommt nicht nur dem
Konsum, sondern dem einzelnen Konsumenten eine herausgehobene
Bedeutung zu. Konsum ist nicht nur systemstabilisierend, er ist
auch eine Norm. Wir ihr nicht Folge geleistet, können Märkte
nicht funktionieren, fehlt das Korrektiv, das Produzenten
effektiv arbeiten lässt und den Wettbewerbsmechanismus
antreibt. Ohne Konsum kann der Einzelne seine Präferenzen
nicht realisieren. Effiziente Märkte und Freiheit entstehen
durch die magische und für die Individuen extrem
befriedigende douce consommation. Entgegen den
Vorstellungen vom doux commerce ist damit jedoch keine
Affektkontrolle mehr verbunden. Im Gegenteil: Die von
Neoliberalen verlangte Extremtoleranz gegenüber jedweder
Konsumentscheidung als höchstem Ausweis von Souveränität
und Autonomie macht den Konsum bewusst zu einer
Affektentscheidung. Dahinter verbirgt sich die Überzeugung,
dass der Markt allein das Verhalten der Menschen in vernünftige
Bahnen lenken kann und lenken wird. Für Neoliberale ist eine
Affektkontrolle unnötig, da diese genau wie jede andere
zivilisatorische Leistung vom Markt beziehungsweise der Anpassung
der Individuen an die jeweiligen Marktgegebenheiten gewährleistet
wird. Gleichzeitig spielt auch Moral keine Rolle. Zumindest
betont der Neoliberalismus, dass niemandem bestimmte
Konsumentscheidungen aus moralischen Gründen verwehrt werden
sollten. Statt dessen setzt man auf einen aufgeklärten,
rationalen individuellen Entscheider, der vernünftige
Entscheidungen trifft.
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259 Die Politik soll unterlassen, was der Einzelne
nicht möchte. Von allen Seiten wird das Individuum schon
lange darin bestärkt, genau so zu denken: Ich darf alles,
und keiner darf mir etwas verbieten. Die Überhöhung der
individuellen Konsumentscheidung im Sinne der
Konsumentensouveränität wirkt noch auf einer anderen
Ebene fatal verstärkend. Die Betonung, dass die individuelle
Konsumentscheidung demokratischer sei als die politische
Stimmabgabe, dass ein Wert darin zu sehen sei,
Mehrheitsentscheidungen nicht akzeptieren zu müssen, die den
eigenen Präferenzen widersprechen, zeugt nicht nur von einem
eigentümlichen Verkennen demokratischer Werte, sondern
unterminiert und delegitimiert die Demokratie. Diese baut auf
einem Verständnis der Gemeinschaft und des Gemeinwohls auf.
Sie funktioniert nur, wenn man lernt, Kompromisse einzugehen und
Mehrheitsmeinungen zu akzeptieren. Diese Grundhaltung wird von
den Neoliberalen und durch die konsumptive Ich-Zentrierung
zerstört. Die gefühlte und zelebrierte freedom from
obligation der douce consommation ist wahrscheinlich
die größte Gefahr, die vom Neoliberalismus ausgeht.
Sie befreit den Einzelnen davon, andere und anderes in den Blick
zu nehmen und nicht nur das eigene Konsum-, sondern auch das
eigene Affektverhalten zu überdenken. Die freedom from
obligation bedeutet, niemandem gegenüber verantwortlich
zu sein. Sie verhindert, all das ins Blickfeld zu rücken,
was für eine gesellschaftlich Transformation hin zu mehr
Nachhaltigkeit notwendig wäre.
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265 Die Klimakatastrophe braucht eine Politik der
Aktion und eine Politik der Verhaltenssteuerung. Die möglichen
Alternativen dazu müssen Gegenstand demokratischer
Sachdebatten sein. Politik darf neben Verhaltensregulierung durch
Verbot und Verzicht auch nicht davor zurückschrecken,
Sachdiskussionen mit Moral zu verbinden. Die fundamentale
Herausforderung für eine nachhaltige Entwicklung, nämlich
die Lebensgrundlagen für die uns nachfolgenden Generationen
nicht zu zerstören, ist zutiefst moralischer Natur. (…)
Es bedarf eines neuen Grundkonsenses hinsichtlich unseres Bildes
vom Staat. Eines, das im Staat nicht einen Gegner sieht, sondern
in dem wir uns (…) selbst erkennen – uns, die durch
ein Verantwortungsgefühl für andere und die Umwelt
motiviert werden. Dazu gehört auch die Maßgabe, unsere
Affekte und unseren Extremindividualismus zu kontrollieren. Zur
Not durch Verbot und Verzicht. Sicher nicht länger durch
Unterlassen.
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