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Unser Planet ist
begrenzt, aber wir müssen uns weiterentwickeln, um die
Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Anders Levermann,
Leiter der Komplexitätsforschung am Potsdamer Klimainstitut,
schlägt einen Weg vor, der dieses Dilemma auflöst und
ganz nebenbei die Ungleichheitsexplosion in unserer Gesellschaft
zähmt.
Wir befinden uns am Ende des Zeitalters der
Expansion – und wir brauchen eine Idee für den
nächsten großen Schritt. Die Begrenztheit unserer Erde
kollidiert mit der Notwendigkeit rasanter gesellschaftlicher
Entwicklung. Wenn man akzeptiert, dass beides harte Realitäten
sind, dann stehen wir vor einem Dilemma von Begrenztheit und
Dynamik. Der verzweifelte, wenn auch verständliche Ruf nach
Verzicht und Rückbesinnung löst dieses Dilemma nicht
auf. Das mathematische Prinzip der Faltung könnte eine
Lösung liefern, weil es unendliche Entwicklung in einer
endlichen Welt erlaubt, sofern „Wachstum“ neu
verstanden wird: nicht als Wachstum ins Mehr, sondern als
Wachstum in die Diversität. Und zwar nicht theoretisch,
sondern sehr praktisch – sei es beim europäischen
Emissionshandel oder der Unternehmenssteuer.
»Ich
kann jede und jeden verstehen, die oder der ein tiefes Misstrauen
gegen den Kapitalismus und die Marktwirtschaft hegt. In seiner
ungezügelten Form ist dieses System eines, das den
Wettbewerb und damit vermeintlich die Leistungsfähigkeit
über die Würde des Menschen stellt. Es gibt zahllose
Regionen in der Welt und in diesen zahllose Gesellschaftsgruppen,
die aufgrund der Marktwirtschaft in unwürdige
Lebensbedingungen gezwungen werden. Das selbstverstärkende
Wachstum des Kapitals zementiert die Wohlstandsdifferenzen und
baut sie weiter aus. Der unbegrenzte Kapitalismus Kapitalismus
schafft seine eigenen Tugenden ab. Exponentielles Wachstum
vernichtet den Wettbewerb zwischen den Unternehmen.
Exponentielles Wachstum von Privateigentum hat durch unbegrenztes
Einkommen und Vererbung eine Schicht generiert, die außerhalb
der übrigen Gesellschaft operiert. Gleichzeitig hat der
exponentiell wachsende Rohstoffverbrauch einen globalen
Klimawandel und ein unvorstellbares Artensterben verursacht. Dass
Menschen aufgrund der Lage, in der wir uns global befinden, das
Vertrauen in den Gedanken verloren haben, dass dieses System
reformierbar ist, verstehe ich sehr gut.«
(A. Levermann, Seite 246 f)
In diesem Buch werden folgende
„Faltungsgrenzen“ diskutiert: Ende der Verbrennung
fossiler Energieträger, Ende des Rohstoffabbaus, Begrenzung
der Unternehmensgröße, Begrenzung des Erbes,
Begrenzung des Einkommensunterschieds (siehe
unten).
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Zitate
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aus:
Das Konzept der Faltung
Ein
anpassungsfähiges Wesen, das sich auf eine Gefahr zubewegt,
wird dieser ausweichen. Wenn es eine Wand ist, wird es eine Kurve
einschlagen, um nicht gegen sie zu prallen. Es „faltet“
den Pfad, auf dem es sich befindet, seine Trajektorie – so
der Begriff dafür in der Physik –, um sich weiter
fortbewegen zu können. Das ist die Faltung. Sie entsteht
immer dann, wenn ein System in einem begrenzten Raum nach freier
Bewegung strebt. Die Anpassung der Bewegungsrichtung ermöglicht
unendliche Entwicklung im begrenzten Raum; sie generiert dabei
Vielfalt in der Bewegung, die ohne die Grenzen nicht entstünde,
und schließlich bringt die Faltung Lösungen hervor,
die ohne die Grenzen nicht gefunden würden. Drei
Eigenschaften, die wir uns als Gesellschaft zunutze machen
sollten. (S. 115)
Die Suche der Gesellschaft nach neuen
Wegen innerhalb neu entstehender physischer oder moralischer
Grenzen sollte nach dem Prinzip der Faltung (…)
vonstattengehen.Es ist der freiheitlich-demokratische Weg, nach
Neuem zu suchen. Dabei sind nur die Faltungsgrenzen fest –
in dem Sinne, dass sie nicht einfach umgangen werden können.
Innerhalb ihrer Abmessungen können alle anderen Grenzen und
Regeln in einem gesellschaftlichen Prozess der Veränderung
ständig angepasst werden. Das muss offen und transparent
geschehen und darf nicht durch Korruption oder Absprachen in
Hinterzimmern torpediert werden. (S. 139 f)
Es zeigt sich
immer deutlicher, dass wir bestimmte explodierende Prozesse der
Gegenwart neu begrenzen müssen, um ein Zerreißen
unserer Gesellschaften und der Erde,auf der wir leben, zu
verhindern. Diese neuen Grenzen dürfen unsere Freiheit nicht
im Übermaß einschränken, und wir müssen
dafür sorgen, dass wir dabei ohne händische Regelungen
wie in der Planwirtschaft auskommen. Wir brauchen bestimmte neue
Grenzen, die gefährliche selbstverstärkende Prozesse
aushebeln, um damit unsere Gesellschaften auch in Zukunft
zusammenzuhalten. Die genaue Umsetzung des Prinzips der Faltung
ist natürlich zu diskutieren. Entscheidend sind die
Einfachheit und Transparenz der Regeln, damit sie von der
Gesellschaft getragen werden können. (S. 142 f)
Das
Entscheidende ist, dass die Lösungswege nicht vorgegeben
werden, sondern nur die Grenzen gesetzt werden, die das System
nicht überschreiten darf. Das ist das Gegenteil von
Planwirtschaft. (S. 145)
aus:
Der Weg der Einigung Seite 239 f:
Dieses
Buch liefert keine praktischen Lösungen für eine neue
Gesellschaftsordnung. Dafür sind die Umwälzungen, die
ich hier beschreibe, zu grundlegend, das Buch zu kurz, und ich
bin dafür nicht qualifiziert genug. Die praktischen Lösungen
müssen aus einem demokratischen Prozess erwachsen, in dem
sich die Expertise einiger und die ldeenvielfalt aller verbinden.
Das Narrativ der Faltung kann hierbei helfen, der Kreativität
Raum zu geben und sie zu beflügeln. Die Gesetze und Regeln
müssen selbstverständlich von gewählten Vertretern
der Bevölkerung, unterstützt mit Expertenwissen,
erdacht, diskutiert und erarbeitet werden.
Mit dem Buch
versuche ich ein Narrativ zu liefern, das den Wachstumsgedanken
ersetzt, der seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten unser
Denken prägt; heute aber durch einige Fehlentwicklungen und
Auswüchse unsere Gesellschaft und unseren Planeten zerstört.
Im Kern bedeutet der Wachstumsgedanke, dass unser Leben dann
einen Sinn hat, wenn wir immer mehr anhäufen. Wenn das Haus,
in dem wir leben, größer ist als das, in dem unsere
Eltern gelebt haben. Das Wachstum ins Größer und Mehr
zerstört unsere Erde und damit unsere Freiheit. Gleichzeitig
hat sich das Wachstumsnarrativ als Antrieb für unseren
Fortschritt lange Zeit bewährt. Es gibt also gute Gründe,
es nicht leichtfertig aufzugeben, Das neue Narrativ kann das alte
daher nicht einfach aufheben, indem wir uns bremsen, Eine
Lebensphilosophie, die uns dazu veranlasst, uns morgens beim
Aufstehen zu sagen „Es ist am besten, wenn ich heute
möglichst nichts tue“ und auch ein „Heute
erhalte ich das Leben, wie wir es kennen“, wird nicht
funktionieren. Denn die Vernunft reicht als Antrieb allein nicht
aus. Sie ist ein Steuer, kein Antrieb.
Das Dilemma, das es
aufzulösen gilt, besteht darin, dass wir Möglichkeiten
der Entwicklung und des Fortschritts brauchen, die ohne
Zerstörung auskommen. Diese Lösung bedarf tatsächlich
eines neuen Gedankens. Der Gedanke der Faltung ist an sich nicht
neu. Er existiert bereits in vielen Bereichen unseres Lebens. In
der Kunst und Kultur geschieht Entwicklung seit Jahrtausenden
nach dem Prinzip der Faltung, in der Physik und Mathematik seit
Jahrhunderten, und auch in der Wirtschaft kommt es vielfach zum
Tragen, ohne dass das so benannt wird. Es ist auch nicht
auszuschließen, dass jemand diesen Gedanken bereits ähnlich
formuliert hat, Sicher ist aber, dass der Gedanke noch keine
gesellschaftliche Breite erreicht hat.
Es wäre gut,
davon bin ich überzeugt, wenn wir uns auf dieses neue
Narrativ einigen könnten. Die Faltung ist etwas, auf das
sich vernünftige Kommunisten mit vernünftigen
Kapitalisten zusammen mit vernünftig ökologisch
denkenden Menschen einigen können, und dabei können
auch die reinen Pragmatiker überzeugt werden.
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Seite
260 ff:
Ich lade Sie ein,
sich eine Welt vorzustellen, in der wir uns zusätzlich zu
den in vielen Staatsverfassungen verankerten Menschenrechten auf
fünf neue Faltungsgrenzen geeinigt haben:
1. Ende
der Verbrennung fossiler Energieträger:
Um das Pariser Klimaabkommen, auf das sich 195 Staaten geeinigt
haben, einzuhalten, müssen CO2-Emissionen
weltweit innerhalb der nächsten zwanzig Jahre auf null
heruntergefahren werden.
2. Ende
des Rohstoffabbaus: Unser Planet
ist endlich, und daher dürfen wir ihm irgendwann keine
weiteren Rohstoffe mehr entnommen werden.
3. Begrenzung
der Unternehmensgröße:
Der Souverän eines Landes ist die Bevölkerung. Es gilt
das Primat der Politik über die Wirtschaft, und deshalb darf
kein Unternehmen größer und mächtiger werden als
die Länder, in denen es operiert.
4. Begrenzung
des Erbes: Die Menschen sollten
möglichst chancengleich in das Leben starten, deshalb muss
das Erbe, das an eine Person geht, begrenzt sein. Es geht hierbei
ausschließlich um das Verhindern des Vererbens von großem
Reichtum.
5. Begrenzung
des Einkommensunterschieds: Die
Grundlage unseres Zusammenlebens ist die Existenz einer
gemeinsamen Gesellschaft. Um die Gleichheit vor dem Gesetz und
bei der Wahl zu gewährleisten, sollte das Verhältnis
der Einkommen begrenzt sein. Es geht hierbei nicht um das
Verhindern von Reichtum, sondern um das Verhindern eines
Auseinanderreißens unserer Gesellschaft.
Anders als
viele andere größere und kleinere Grenzen, die wir
unserem Handeln in Form von Regeln und Gesetzen geben,
beschreiben diese Faltungsgrenzen eine Vision: Sie lenken alle
individuellen, unternehmerischen und politischen Entwicklungen
auf das Ziel einer nachhaltigen Zukunft, in der wir nicht nur
ökologisch, sondern auch sozial und ökonomisch erhalten
und sogar steigern können, was wir an Wohlstand in
Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden errungen haben. (…)
Wir werden neu definieren, was wir als Wohlstand empfinden.
Entscheidend ist, dass diese Neuorientierung nicht vorgegeben
ist, sondern sich frei entfalten kann. Es werden nur die Grenzen
vorgegeben, die unser Zusammenleben gefährden.
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