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Es gibt
Bücher, denen man den Explosivstoff, den sie enthalten, auch
nach einigem Durchblättern und Überfliegen nicht
ansieht. Liedloffs „Auf der Suche nach dem verlorenen
Glück“ gibt sich, oberflächlich betrachtet, wie
ein Buch über indianische Lebensweise, oder vielleicht auch
wie einer der üblichen praktischen Ratgeber zum Thema
Kinderaufzucht, der Eltern berät, wie sie bei ihren Kindern
dieses oder jenes verbessern oder verhindern können. Es ist
jedoch weit mehr als das – wie viel mehr, wird erst dem
aufmerksamen Leser, vielleicht gar erst beim zweiten Durchlesen,
vollständig deutlich.
Ich selbst habe mich jahrelang
mit der Erforschung des Phänomens der latenten Angst befaßt,
seit ich eines Tages erkannte, wie so gut wie jeder von uns sein
Lebtag eine Bürde von versteckter, ihm selbst zumeist
unbewußter Angst, die mit körperlicher Verklemmung und
mangelndem Selbstvertrauen gekoppelt ist, mit sich herumschleppt.
Und je mehr ich dem nachforschte, umso deutlicher wurde mir, daß
in der Tat auch unsere gesellschaftlichen Strukturen auf
zerstörerische Weise von diesem Phänomen mitgeprägt
sind. Die beunruhigende Frage, die sich in diesem Zusammenhang
aufdrängt, ist, ob angesichts dieser Tatsache noch Hoffnung
für die Menschheit bestehen kann – und worin.
Dieses
Buch liefert Hoffnung. Es zeigt zunächst den Grund der
latenten Angst überzeugend auf, indem es die These vertritt,
daß das Wesen des Menschen selbst von uns – auch von
den Autoritäten der Wissenschaft – nicht mehr
verstanden und daher auch in der Säuglings- und
Kinderaufzucht nicht ausreichend berücksichtigt wird. Sein
eigentliches Thema ist das menschliche „Kontinuum“ –
und was ein Leben im Einklang damit bedeuten müßte.
Gemeint ist mit dem Begriff die uns angeborene, kontinuierliche
Folge von triebenergetisch motivierten Erwartungen, die erfüllt
werden müssen, ehe der Organismus sich
unbeeinträchtigt auf seine nächste (evolutionär
festgelegte) Entwicklungsstufe begeben kann. Werden sie es nicht
– und dies beginnt mit dem ersten Aternzug des Neugeborenen
–, so ist das schließliche Ergebnis ein Leben in
Unzufriedenheit, Vertrauensmangel, Liebesunfähigkeit und
verdrängter Angst: die fatale Art von Verklemmung, an der
wir „Zivilisierten“ durchweg leiden.
Um
konkreter zu werden: Es gibt kein Tier, das nicht „wüßte“
(unfehlbar und ohne Zweifel), was es braucht für sein
Wohlbehagen und seine Gesundheit, was ihm bekömmlich ist und
vor allem: wie es seine Jungen behandeln muß, damit diese
sich optimal entwickeln. Der Mensch in der Zivilisation jedoch
weiß es nicht – er hat es vergessen.
Kleinkinder
allerdings tragen dieses unfehlbare Wissen über die eigenen
Bedürfnisse noch in sich. Und schreien es, da die Umstände
dem generell nicht entsprechen, heraus in tiefer Seelenqual –
zu einem Zeitpunkt, da sie noch nicht einmal sprechen, geschweige
denn logisch denken können. Nur selten wird der Ausdruck
dieser Qual als solcher von Eltern oder anderen Pflegepersonen
verstanden und beachtet. Schmerz, Angst, extreme Verstörung
und Verunsicherung insbesondere hinsichtlich dessen, was richtig
ist, sind auch dann die Folge, wenn sich keine besonders
offenkundigen „neurotischen“ Symptome einstellen.
Denn die früheste Erfahrung war: alles ist falsch. Also wird
auch das eigene Verhalten falsch. Im günstigsten Fall ist
das Resultat ein fanatisches Sich-Klammern an äußere
Autoritäten. Im schlimmsten: Kriminalität, Sucht,
Psychose, Selbstmord – all das, worunter wir als Einzelne
wie als Gesellschaft immer deutlicher leiden. Hier, in der
Vernachlässigung der Erwartungen des Kontinuums zum
frühesten Zeitpunkt, liegt die Ursache für unser aller
Unglück.
Das wahrhaft Revolutionäre an Liedloffs
Buch besteht darin, daß es diese Zusammenhänge am
Beispiel einer Gesellschaft, die tatsächlich noch anders
ist, verdeutlicht; und damit, wie gesagt, Hoffnung liefert –
auch für uns –, daß alles wieder anders werden
könnte, weil die Fähigkeit zum Sich-Wohlfühlen im
Hier und Jetzt unwiderlegbar in Reichweite des Menschen liegt, so
wie er geboren wurde.
Nicht daß wir, um diesen
Zustand wiederzuerlangen, nun selbst leben müßten wie
südamerikanische Indianer. Das Leben der Yequana gilt in
diesem Buch nur als Beispiel. Wesentlich ist, daß wir
endlich beginnen, uns neue Gedanken zu machen über die
Beschaffenheit des Menschen. Tun wir es in dem Sinne, wie Jean
Liedloff es uns nahelegt: unser Leben kann, ja muß sich von
Grund auf verändern – besonders, was unsere
Einstellung zu den Kindern betrifft, die ja die verkörperte
Hoffnung der Menschheit sind. In diesem Sinne hat „Auf der
Suche nach dem verlorenen Glück“ uns sehr Wesentliches
zu sagen – Dinge, die selbst der Schulwissenschaft bisher
nicht bekannt sind. Es ist Zeit, daß sie gesagt werden –
und daß wir alle dementsprechend zu handeln beginnen, auf
daß die Herrschaft der Angst in der Welt endlich eingedämmt
werde.
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Aus
dem 5. Kapitel: Die Versagung wesentlicher
Erfahrungen
Jede Betrachtung des
Lebens in der Zivilisation ist sinnlos, wenn wir nicht ständig
die Tatsache mitberücksichtigen, daß wir fast der
gesamten Erfahrung des Getragenwerdens sowie eines Großteils
der späteren von uns erwarteten Erfahrung beraubt worden
sind und daß wir weiterhin, auf eine planmäßige,
doch unbewußte Art, die Erfüllung jener Erwartungen in
ihrer unwandelbaren Abfolge suchen.
Schon bei der Geburt
werden wir aus der Verbindung mit unserem Kontinuum gerissen,
werden nach Erfahrung hungernd in Bettchen und Kinderwagen vom
Strom des Lebens entfernt. Teile von uns bleiben kindisch und
können nichts Positives zu unserem Leben als ältere
Kinder und Erwachsene beitragen. Aber wir lassen sie nicht hinter
uns, wir können es nicht. Das Bedürfnis nach der
Erfahrung des Getragenwerdens besteht weiterhin, Seite an Seite
mit der Entwicklung von Geist und Körper, und wartet auf
seine Erfüllung.
Wir in der Zivilisation haben alle
Teil an gewissen Leiden des Kontinuums. Selbsthaß und
-zweifel sind unter uns in unterschiedlichem Grade ziemlich
verbreitet, je nachdem wie und zu welchem Zeitpunkt das gesamte
Bündel an Versagungen unsere angeborenen Eigenschaften
beeinträchtigte. Die Suche nach der Erfahrung des
Getragenwerdens nimmt mit den Jahren und indem wir erwachsen
werden sehr viele Formen an. Der Verlust des wesentlichen
Zustandes von Wohlgefühl, der aus der Zeit des
Getragenwerdens hätte erwachsen müssen, führt zur
Suche danach und zu Ersatz dafür. Sich-glücklich-Fühlen
ist nicht mehr der Normalzustand des Lebendig-Seins, sondern wird
zum Ziel. Das Ziel wird auf kurz- und langfristigen Wegen
verfolgt.
Denken wir an die Lebensführung der
Yequana, so wird zunehmend klar, weshalb wir viele der scheinbar
sinnlosen Dinge tun, die wir tun.
Die Versagung des
Getragenwerdens drückt sich vielleicht am gewöhnlichsten
als ein unterschwelliges Gefühl von Unwohlsein im Hier und
Jetzt aus. Man fühlt sich aus der Mitte geworfen, als fehle
etwas; es besteht ein vages Gefühl des Verlustes, ein
Gefühl, etwas zu wollen, was man nicht näher bezeichnen
kann. Das Wollen heftet sich häufig an einen Gegenstand oder
ein Ereignis in mittlerer Entfernung; in Worten würde man
etwa sagen: „Es ginge mir gut, wenn nur erst… –
worauf irgendein Vorschlag der Veränderung folgte, wie z. B.
einen neuen Anzug zu bekommen, ein neues Auto, eine Beförderung
oder Gehaltserhöhung, eine neue Stellung, eine Gelegenheit,
in Ferien oder auf Dauer wegzufahren, oder auch eine Frau, einen
Ehemann oder ein Kind zum Liebhaben, falls man sie bzw. ihn noch
nicht hat.
Wenn das Ersehnte errungen ist, wird die
mittlere Entfernung, in der sich einst die Mutter befand, alsbald
besetzt durch ein neues „Wenn nur erst…“, und
die Entfernung zwischen ihm und einem selbst wird zum neuen
Maßstab der Entfernung zwischen sich und der vermißten
Richtigkeit – Richtigkeit im Hier und Jetzt.
Man
wird aufrechterhalten durch die Hoffnungen, welche die Folge der
Wunschobjekte auslöst, wenn sie in der Entfernung
auftauchen. Die Entfernung wird durch den Grad von
Unerreichbarkeit bestimmt, die man benötigt, um sich
„zuhause“ zu fühlen – d. h. in derselben
Beziehung, wie man sie zur Mutter hatte, als die Erfahrung des
Getragenwerdens einem versagt blieb.
Gelingt es einem
nicht, ein Wunschobjekt in der notwendigen Entfernung zu halten,
so kann dies schließlich sogar zur Katastrophe führen.
Das geschieht nicht sehr häufig, da es den meisten Menschen
leichtfällt, sich einen beständigen Vorbeimarsch von
Dingen vorzustellen, die sie nicht haben können –
ungeachtet dessen, was sie tatsächlich haben. Doch
gelegentlich wird die Vorstellungskraft durch ein zu schnelles
oder zu vollständiges Erreichen der Ziele, die sie sich zu
setzen imstande sind, überholt.
Vor nicht allzu
langer Zeit wurde eine berühmte blonde Filmschauspielerin
Opfer eines offenbar unerträglichen Ungleichgewichts
zwischen ihrem Bedürfnis zu hoffen und den Dingen, die noch
zu hoffen übrigwaren. Sie war die erfolgreichste
Schauspielerin der Welt, die begehrteste Frau der Welt. Sie hatte
Männer von bemerkenswerter körperlicher und geistiger
Vollendung begehrt, geheiratet und sich von ihnen scheiden
lassen. Gemessen an ihrer Vorstellungskraft besaß sie
alles, was sie wollte. Verwirrt darüber, daß sie das
fehlende Gefühl von Richtigkeit nicht erlangt hatte, suchte
sie den Horizont nach etwas Wünschenswertem ab, das sie
nicht sofort haben konnte und, als sie damit keinen Erfolg hatte,
beging sie Selbstmord.
So manche anderen Mädchen und
Frauen, deren Ziele den ihrigen ähnlich gewesen waren,
fragten sich: Wie konnte gerade sie, die alles besaß…?
Der Schaden, der diesem Teil des Amerikanischen Traums dadurch
zugefügt wurde, war jedoch nicht ernsthaft, denn in ihrem
Herzen war jede sich dies fragende Frau sicher, daß, wenn
nur… wenn nur sie es doch wäre, die so viele
begehrenswerte Dinge des Lebens besäße, sie, die das
Glück schon fast in Reichweite spürte – sie würde
unfehlbar glücklich sein.
Es mangelt nicht an
Beispielen von ähnlich motivierten Selbstmorden; weitaus
verbreiteter jedoch ist das verzweifelte Verhalten jener
Erfolgreichen, deren Selbsterhaltungstrieb den letzten Schritt
ins Vergessen verhindert, deren Leben jedoch angefüllt ist
mit Alkohol- oder Drogenkonsum, Scheidungen und Depressionen. Die
meisten Reichen können noch reicher werden und ersehnen dies
tatsächlich, die Mächtigen wollen mehr Macht, und ihrem
Sehnen wird dadurch Gestalt gegeben. Die wenigen, die am Ende
angelangt sind, oder in Sichtweite all dessen, das zu wünschen
sie fähig waren – sie allein müssen sich der
Tatsache stellen, daß ihr Verlangen sich nicht befriedigen
läßt. An seine ursprüngliche Gestalt können
sie sich nicht erinnern: nämlich an ihr Sehnen als Säuglinge
nach ihrem Platz in den Armen ihrer Mutter. Praktisch starren sie
in einen bodenlosen Abgrund, ohne Antwort auf ihr Fragen nach dem
Sinn des Ganzen, wo sie doch einst vielleicht ganz sicher gewesen
sind, daß es Geld, Ruhm oder Leistung sei.
Die Ehe
ist im zivilisierten Leben in vielen Fällen zum
Doppelvertrag geworden; die eine Klausel könnte heißen
„…und ich will deine Mutter sein, wenn du die meine
sein willst.“ Die immer gegenwärtigen frühkindlichen
Bedürfnisse beider Partner drücken sich aus in der
stillschweigenden (häufig auch ausgesprochenen) Behauptung:
„Ich liebe dich, mich verlangt nach dir, und ich brauche
dich.“ Die ersten beiden Drittel dieses Satzes sind reifen
Männern und Frauen angemessen, doch für gewöhnlich
beinhaltet der Begriff „brauchen“ – obwohl er
in unserer Kultur in romantischem Sinne akzeptabel ist –
ein Bedürfnis nach einem gewissen Maß an Bemutterung.
Dies kann sich von Babysprache („Hattu mich auch lieb?“)
bis hin zu einer stillschweigenden Abmachung erstrecken, anderen
Menschen nicht mehr als oberflächliche Aufmerksamkeit zu
schenken. Häufig ist das vorherrschende Bedürfnis, der
Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein (eine Abwandlung jener Art
von Aufmerksamkeit, die Säuglingen, nicht aber Kindern oder
Erwachsenen angemessen ist), und die Partner können durchaus
zu einer einigermaßen freundschaftlichen Aufteilung der
Bühnenmitte kommen.
Liebeswerben ist häufig ein
Versuchsfeld zur Klärung, wie weit die frühkindlichen
Bedürfnisse jedes Partners sich erfüllen lassen. Für
Menschen mit weitreichenden Ansprüchen – Menschen,
deren frühes Leben sie ohne ausreichende Erfüllung
gelassen hat, um mit einem anderen Menschen und seinen
Bedürfnissen auch nur befriedigende Kompromisse zu schließen
– ist die Suche nach einem Partner oft eine traurige und
endlose Angelegenheit. Sie wurden in der Frühkindheit im
Stich gelassen und ihre Sehnsüchte sind umfassend und tief.
Die Angst davor, erneut im Stich gelassen zu werden, kann so
stark sein, daß sie in dem Augenblick, da die Gefahr
besteht, einen Gefährten zu finden, in großem
Schrecken die Flucht ergreifen. Denn sie wollen es vermeiden, den
Kandidaten dem Test zu unterwerfen und auf unerträgliche
Weise daran erinnert zu werden, daß sie nicht auf die
bedingungslose Art liebenswert sind, die sie
benötigen.
Unzählige Männer und Frauen sind
Opfer eines Verhaltens-„Musters“ hinsichtlich der
Liebeswerbung, das eine scheinbar unerklärliche Angst vor
dem Glücklichsein offenbart. Auch wenn es ziemlich leicht
ist, die Angst vor dem Finden eines Partners zu überwinden,
scheuen Bräutigame am Altar, und Bräute weinen noch
immer vor Angst, wenn die Zeit kommt, vorzutreten und ihr Glück
zu beanspruchen. Doch viele leben so jahrelang weiter, mit
wechselnden Partnern auf der Suche nach einer Beziehung, die sie
nicht benennen können. Sie sind unfähig, sich an
irgendjemand so Unbedeutenden zu binden wie einen Mann oder eine
Frau, die nicht größer oder wichtiger sind als sie
selbst.
Die Schwierigkeit, einen annehmbaren Gefährten
zu finden, ist durch kulturelle Leitbilder wie die von Film,
Fernsehen, Romanen, Zeitschriften und der Werbung
herausgestellten Liebesobjekte noch kompliziert worden. Die den
Zuschauer zum Zwerg machenden Kinoleitbilder erwecken die
Illusion, dies seien die langverlorenen „richtigen“
bzw. Mutterstatur aufweisenden Menschen. Wir hegen ein
vemunftwidriges Zutrauen zu diesen überdimensionalen
Geschöpfen, und wir übertragen auf die Schauspieler
selbst die Aura von Vollkommenheit, die ihnen in unserer
Vorstellung anhaftet. Sie können nichts Falsches tun, sie
stehen jenseits der Art von Urteilen, wie wir sie übereinander
fällen. Und um alles noch mehr zu verwirren, prägen die
Figuren, die sie darstellen, wie unrealistisch auch immer sie
sein mögen, die Normen für unsere Wünsche, durch
welche die wirklichen Menschen noch weniger zufriedenstellend als
je erscheinen.
Die Werbung hat gelernt, aus den
Sehnsüchten der der Erfahrung des Getragenwerdens beraubten
Öffentlichkeit Kapital zu schlagen, indem sie Versprechen
macht, die zu besagen scheinen: „Wenn du dies hättest,
würdest du dich wieder richtig fühlen.“ Eine
Limonade wird mit dem Werbespruch versehen „Sie ist das
Wahre.“ Ihr Hauptrivale appelliert an das fehlende Gefühl
der Zugehörigkeit mit „Du gehörst zur
Pepsi-Generation“ oder mit Bildern von „richtig“
aussehenden „Pepsi-Menschen“. Eine Firma schlägt
ein Ende des Sehnens vor mit den Worten „Ein Diamant
besteht ewig“. Die unausgesprochene Folgerung ist, daß
der Besitz einer Sache von garantiertem Wert einem selbst eine
Wert von derselben Beständigkeit, Unantastbarkeit und
Absolutheit verleiht. Es ist, als brauche man nicht liebenswert
zu sein, um geliebt zu werden, wenn man einen Diamanten trägt,
einen Zauberring, der alle Menschen zu jeder Zeit anzieht.
Statuspelze und -autos, eine gute Wohngegend usw. scheinen
ebenfalls die Anerkennung zu bewirken, nach der man sich sehnt.
Zugleich umgeben sie einen mit Sicherheit inmitten von
Unsicherheit, nicht unähnlich den umfangenden Armen, die wir
seit je vermissen. Was immer unsere Kultur uns auch als die
richtige Sache zum Besitzen anbietet: Was wir wollen ist,
„drinnen“ zu sein; denn wir fühlen uns chronisch
draußen, obwohl wir uns fortwährend einzureden suchen,
wir seien „in“ – selbst dann noch, wenn wir
neue Anstrengungen unternehmen, um uns dies glauben zu
machen.
Obwohl die meisten von uns sich nicht erinnern
können, sich je völlig richtig gefühlt zu haben,
wirklich mitten in dem gelebten Augenblick, übertragen wir
doch häufig die Illusion davon sowohl auf die Vergangenheit
als auch auf die Zukunft. Wir sprechen von den goldenen
Kindheitstagen oder der guten allen Zeit, um die Illusion
aufrechtzuerhalten, daß Richtigkeit nicht wirklich fern
sei. Die Unschuld der Kindheit, von der wir meinen, sie habe uns
vor den grausamen Wirklichkeiten beschützt, war von
Bestürzung und Verwirrung begleitet angesichts der
Widersprüche zwischen dem uns Gesagten und dem, was wir
geschehen sahen. Und das Gefühl von etwas Fehlendem war
damals ebenso wie heute stets anwesend; damals jedoch gab es noch
irgendwie die Illusion, daß uns die „Richtigkeit“
eröffnet werden würde, wenn wir nur erst endlich
erwachsen und den Menschen „richtigen“ Alters
zugestellt wären.
Wir ahnten damals noch kaum, daß
die Menschen des richtigen Alters uns immer um eine Länge
voraus sein würden, bis die Zeit uns zu glauben gestatten
würde, sie seien nun eine Länge oder mehr hinter
uns.
Der Gedanke, daß Erfüllung, d. h. das
Gefühl der Richtigkeit, durch Kämpfen und Gewinnen
erreichbar sei, ist eine Erweiterung dessen, was Freud
„Geschwisterrivalität“ nannte. Er meinte, wir
alle hätten Eifersucht und Haß auf unsere Brüder
und Schwestern zu bewältigen, die unseren exklusiven Zugang
zu unseren Müttern bedrohten. Aber Freud hatte keine
ungeschädigten Menschen in seinem Bekanntenkreis. Hätte
er Gelegenheit gehabt, die Yequana kennenzulernen, so hätte
er festgestellt, daß der Gedanke des Konkurrierens und
Gewinnens als Selbstzweck ihnen gänzlich unbekannt ist. Er
kann daher nicht als integraler Bestandteil der menschlichen
Persönlichkeit angesehen werden. Wenn einem Baby alles an
Erfahrung auf den Armen seiner Mutter zuteil geworden ist, was es
braucht, und es sich von ihr aus eigenem freien Willen löst,
so wird es dadurch befähigt, ohne Schwierigkeit die Ankunft
eines neuen Babies an dem Ort, den es freiwillig verlassen hat,
zu ertragen. Es besteht kein Grund zur Rivalität, wenn
nichts beansprucht wurde, was es noch braucht.
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