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Jean Liedloff
Auf der Suche nach dem verlorenen Glück

Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit



München 1980 (C.H.Beck); 222 Seiten; ISBN 3-406-06024-2
Originaltitel: The Continuum Concept, New York 1977






Im Dschungel Venezuelas trifft eine junge Amerikanerin auf die Yequana-Indianer. Fasziniert vom offenkundigen Glück dieser „Wilden“, bleibt sie insgesant zweieinhalb Jahre bei dem Stamm und versucht, die Ursachen dieses glücklichen und harmonischen Zusammenlebens herauszufinden. Vertraute Denkweisen werden ihr dabei immer fragwürdiger, immer größer wird ihre kritische Distanz zur Zivilisation. Sie erkennt, wie unsere Gesellschaft in jedem Menschen neu die angeborene Glücksfähigkeit zerstört, und schreibt ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Kindererziehung ohne Zivilisationsneurosen.




Jean Liedloff


US-amerikanische Autorin und Psychotherapeutin, 1926-2011. Jean Liedloff stammt aus New York, hat das Drew Seminary for Young Women abgeschlossen und ging dann zur Cornell University, begann aber zu reisen, bevor sie einen Abschluss gemacht hatte. Nach fünf Expeditionen zum indigenen Volk der Yequana in Venezuela schrieb sie ihre Beobachtungen auf in dem Buch Auf der Suche nach dem verlorenen Glück – Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit (Originaltitel: The Continuum Concept). Sie war Mitbegründerin der Zeitschrift The Ecologist. Zeitweise lebte sie in London als Publizistin. Sie schrieb unter anderem für die Sunday Times. Jean Liedloff war nicht verheiratet und hatte keine Kinder.


Inhaltsverzeichnis


Vorwort






1.

Wie sich meine Ansichten so grundlegend wandelten




Anfangs das Sehen, später das Verstehen, dann die Rückkehr zur Bestätigung meiner Beobachtungen – Herausbildung des Begriffs ,,Kontinuum"







2.

Der Begriff ,,Kontinuum"




Was der Mensch aufgrund seiner Entwicklungsgeschichte vom Leben erwartet – Seine angeborenen Strebungen – Wie das Kontinuum wirkt, im Individuum und in der Kultur







3.

Der Beginn des Lebens




Natürliche Geburt und traumatische Geburt – Die Erwartungen und Strebungen des Säuglings – Die Phase des Getragenwerdens und ihre Folgen für das weitere Leben – Die Erfahrungswelt von Säuglingen und Kleinkindem innerhalb und außerhalb des Kontinuums







4.

Das Heranwachsen




Was es bedeutet, ein „soziales Tier“ zu sein – Die angeborene Fähigkeit zur Selbsterhaltung, das Wachsen des Selbstvertrauens und von der Wichtigkeit, die Selbstverantwortung des Kindes zu respektieren – Die Annahme eines angeborenen Sozialtriebes und ihre Folgen – Wie ein Kind sich selbst erzieht – Die Art von Unterstützung, die es von den Älteren benötigt







5.

Die Versagung wesentlicher Erfahrungen




Die blinde Suche nach den versagten Erfahrungen in allen Winkeln des Lebens – Das Geheimnis der Drogenabhängigen – Mythen des Sündenfalls – Die zwei Schritte fort vom Zustand der Unschuld: die entwicklungsbedingte Fähigkeit zur intellektuellen Wahl und der Abfall des zivilisierten Menschen vom Kontinuum – Befreiung vom Denken: Meditation, Ritual und andere Formen, das Denken auszulöschen







6.

Die Gesellschaft




Kulturen in Übereinstimmung mit dem Kontinuum und im Widerspruch zum Kontinuum – Beständigkeit, Verläßlichkeit und das Recht, sich nicht zu langweilen – Was ist nur aus der Freude geworden?







7.

Die Rückkehr zum Konrinuum




Geschlechtsverkehr und ,Zuneigung‘: die beiden Bedürfnisse nach Körperkontakt – Solange Bedürfnisse bestehen, ist ihre Erfüllung möglich – Unsere Bedürfnisse aus der Sicht des Kontinuums – Widerstände in unserer gegenwärtigen Lebensweise – Die Rechte von Kleinkindern – Mögliche Ansatzpunkte der Rückkehr zum Kontinuum – Anwendungen des Kontinuum-Konzepts in der Forschung







Anhang: Vorschläge für die Forschung
Programm A: Kinderaufzucht
Programm B: Psychotherapie


Leseprobe


Vorwort
von Rainer Taëni






Es gibt Bücher, denen man den Explosivstoff, den sie enthalten, auch nach einigem Durchblättern und Überfliegen nicht ansieht. Liedloffs „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ gibt sich, oberflächlich betrachtet, wie ein Buch über indianische Lebensweise, oder vielleicht auch wie einer der üblichen praktischen Ratgeber zum Thema Kinderaufzucht, der Eltern berät, wie sie bei ihren Kindern dieses oder jenes verbessern oder verhindern können. Es ist jedoch weit mehr als das – wie viel mehr, wird erst dem aufmerksamen Leser, vielleicht gar erst beim zweiten Durchlesen, vollständig deutlich.

Ich selbst habe mich jahrelang mit der Erforschung des Phänomens der latenten Angst befaßt, seit ich eines Tages erkannte, wie so gut wie jeder von uns sein Lebtag eine Bürde von versteckter, ihm selbst zumeist unbewußter Angst, die mit körperlicher Verklemmung und mangelndem Selbstvertrauen gekoppelt ist, mit sich herumschleppt. Und je mehr ich dem nachforschte, umso deutlicher wurde mir, daß in der Tat auch unsere gesellschaftlichen Strukturen auf zerstörerische Weise von diesem Phänomen mitgeprägt sind. Die beunruhigende Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt, ist, ob angesichts dieser Tatsache noch Hoffnung für die Menschheit bestehen kann – und worin.

Dieses Buch liefert Hoffnung. Es zeigt zunächst den Grund der latenten Angst überzeugend auf, indem es die These vertritt, daß das Wesen des Menschen selbst von uns – auch von den Autoritäten der Wissenschaft – nicht mehr verstanden und daher auch in der Säuglings- und Kinderaufzucht nicht ausreichend berücksichtigt wird. Sein eigentliches Thema ist das menschliche „Kontinuum“ – und was ein Leben im Einklang damit bedeuten müßte. Gemeint ist mit dem Begriff die uns angeborene, kontinuierliche Folge von triebenergetisch motivierten Erwartungen, die erfüllt werden müssen, ehe der Organismus sich unbeeinträchtigt auf seine nächste (evolutionär festgelegte) Entwicklungsstufe begeben kann. Werden sie es nicht – und dies beginnt mit dem ersten Aternzug des Neugeborenen –, so ist das schließliche Ergebnis ein Leben in Unzufriedenheit, Vertrauensmangel, Liebesunfähigkeit und verdrängter Angst: die fatale Art von Verklemmung, an der wir „Zivilisierten“ durchweg leiden.

Um konkreter zu werden: Es gibt kein Tier, das nicht „wüßte“ (unfehlbar und ohne Zweifel), was es braucht für sein Wohlbehagen und seine Gesundheit, was ihm bekömmlich ist und vor allem: wie es seine Jungen behandeln muß, damit diese sich optimal entwickeln. Der Mensch in der Zivilisation jedoch weiß es nicht – er hat es vergessen.

Kleinkinder allerdings tragen dieses unfehlbare Wissen über die eigenen Bedürfnisse noch in sich. Und schreien es, da die Umstände dem generell nicht entsprechen, heraus in tiefer Seelenqual – zu einem Zeitpunkt, da sie noch nicht einmal sprechen, geschweige denn logisch denken können. Nur selten wird der Ausdruck dieser Qual als solcher von Eltern oder anderen Pflegepersonen verstanden und beachtet. Schmerz, Angst, extreme Verstörung und Verunsicherung insbesondere hinsichtlich dessen, was richtig ist, sind auch dann die Folge, wenn sich keine besonders offenkundigen „neurotischen“ Symptome einstellen. Denn die früheste Erfahrung war: alles ist falsch. Also wird auch das eigene Verhalten falsch. Im günstigsten Fall ist das Resultat ein fanatisches Sich-Klammern an äußere Autoritäten. Im schlimmsten: Kriminalität, Sucht, Psychose, Selbstmord – all das, worunter wir als Einzelne wie als Gesellschaft immer deutlicher leiden. Hier, in der Vernachlässigung der Erwartungen des Kontinuums zum frühesten Zeitpunkt, liegt die Ursache für unser aller Unglück.

Das wahrhaft Revolutionäre an Liedloffs Buch besteht darin, daß es diese Zusammenhänge am Beispiel einer Gesellschaft, die tatsächlich noch anders ist, verdeutlicht; und damit, wie gesagt, Hoffnung liefert – auch für uns –, daß alles wieder anders werden könnte, weil die Fähigkeit zum Sich-Wohlfühlen im Hier und Jetzt unwiderlegbar in Reichweite des Menschen liegt, so wie er geboren wurde.

Nicht daß wir, um diesen Zustand wiederzuerlangen, nun selbst leben müßten wie südamerikanische Indianer. Das Leben der Yequana gilt in diesem Buch nur als Beispiel. Wesentlich ist, daß wir endlich beginnen, uns neue Gedanken zu machen über die Beschaffenheit des Menschen. Tun wir es in dem Sinne, wie Jean Liedloff es uns nahelegt: unser Leben kann, ja muß sich von Grund auf verändern – besonders, was unsere Einstellung zu den Kindern betrifft, die ja die verkörperte Hoffnung der Menschheit sind. In diesem Sinne hat „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ uns sehr Wesentliches zu sagen – Dinge, die selbst der Schulwissenschaft bisher nicht bekannt sind. Es ist Zeit, daß sie gesagt werden – und daß wir alle dementsprechend zu handeln beginnen, auf daß die Herrschaft der Angst in der Welt endlich eingedämmt werde.









Aus dem 5. Kapitel:
Die Versagung wesentlicher Erfahrungen

Jede Betrachtung des Lebens in der Zivilisation ist sinnlos, wenn wir nicht ständig die Tatsache mitberücksichtigen, daß wir fast der gesamten Erfahrung des Getragenwerdens sowie eines Großteils der späteren von uns erwarteten Erfahrung beraubt worden sind und daß wir weiterhin, auf eine planmäßige, doch unbewußte Art, die Erfüllung jener Erwartungen in ihrer unwandelbaren Abfolge suchen.

Schon bei der Geburt werden wir aus der Verbindung mit unserem Kontinuum gerissen, werden nach Erfahrung hungernd in Bettchen und Kinderwagen vom Strom des Lebens entfernt. Teile von uns bleiben kindisch und können nichts Positives zu unserem Leben als ältere Kinder und Erwachsene beitragen. Aber wir lassen sie nicht hinter uns, wir können es nicht. Das Bedürfnis nach der Erfahrung des Getragenwerdens besteht weiterhin, Seite an Seite mit der Entwicklung von Geist und Körper, und wartet auf seine Erfüllung.

Wir in der Zivilisation haben alle Teil an gewissen Leiden des Kontinuums. Selbsthaß und -zweifel sind unter uns in unterschiedlichem Grade ziemlich verbreitet, je nachdem wie und zu welchem Zeitpunkt das gesamte Bündel an Versagungen unsere angeborenen Eigenschaften beeinträchtigte. Die Suche nach der Erfahrung des Getragenwerdens nimmt mit den Jahren und indem wir erwachsen werden sehr viele Formen an. Der Verlust des wesentlichen Zustandes von Wohlgefühl, der aus der Zeit des Getragenwerdens hätte erwachsen müssen, führt zur Suche danach und zu Ersatz dafür. Sich-glücklich-Fühlen ist nicht mehr der Normalzustand des Lebendig-Seins, sondern wird zum Ziel. Das Ziel wird auf kurz- und langfristigen Wegen verfolgt.

Denken wir an die Lebensführung der Yequana, so wird zunehmend klar, weshalb wir viele der scheinbar sinnlosen Dinge tun, die wir tun.

Die Versagung des Getragenwerdens drückt sich vielleicht am gewöhnlichsten als ein unterschwelliges Gefühl von Unwohlsein im Hier und Jetzt aus. Man fühlt sich aus der Mitte geworfen, als fehle etwas; es besteht ein vages Gefühl des Verlustes, ein Gefühl, etwas zu wollen, was man nicht näher bezeichnen kann. Das Wollen heftet sich häufig an einen Gegenstand oder ein Ereignis in mittlerer Entfernung; in Worten würde man etwa sagen: „Es ginge mir gut, wenn nur erst… – worauf irgendein Vorschlag der Veränderung folgte, wie z. B. einen neuen Anzug zu bekommen, ein neues Auto, eine Beförderung oder Gehaltserhöhung, eine neue Stellung, eine Gelegenheit, in Ferien oder auf Dauer wegzufahren, oder auch eine Frau, einen Ehemann oder ein Kind zum Liebhaben, falls man sie bzw. ihn noch nicht hat.

Wenn das Ersehnte errungen ist, wird die mittlere Entfernung, in der sich einst die Mutter befand, alsbald besetzt durch ein neues „Wenn nur erst…“, und die Entfernung zwischen ihm und einem selbst wird zum neuen Maßstab der Entfernung zwischen sich und der vermißten Richtigkeit – Richtigkeit im Hier und Jetzt.

Man wird aufrechterhalten durch die Hoffnungen, welche die Folge der Wunschobjekte auslöst, wenn sie in der Entfernung auftauchen. Die Entfernung wird durch den Grad von Unerreichbarkeit bestimmt, die man benötigt, um sich „zuhause“ zu fühlen – d. h. in derselben Beziehung, wie man sie zur Mutter hatte, als die Erfahrung des Getragenwerdens einem versagt blieb.

Gelingt es einem nicht, ein Wunschobjekt in der notwendigen Entfernung zu halten, so kann dies schließlich sogar zur Katastrophe führen. Das geschieht nicht sehr häufig, da es den meisten Menschen leichtfällt, sich einen beständigen Vorbeimarsch von Dingen vorzustellen, die sie nicht haben können – ungeachtet dessen, was sie tatsächlich haben. Doch gelegentlich wird die Vorstellungskraft durch ein zu schnelles oder zu vollständiges Erreichen der Ziele, die sie sich zu setzen imstande sind, überholt.

Vor nicht allzu langer Zeit wurde eine berühmte blonde Filmschauspielerin Opfer eines offenbar unerträglichen Ungleichgewichts zwischen ihrem Bedürfnis zu hoffen und den Dingen, die noch zu hoffen übrigwaren. Sie war die erfolgreichste Schauspielerin der Welt, die begehrteste Frau der Welt. Sie hatte Männer von bemerkenswerter körperlicher und geistiger Vollendung begehrt, geheiratet und sich von ihnen scheiden lassen. Gemessen an ihrer Vorstellungskraft besaß sie alles, was sie wollte. Verwirrt darüber, daß sie das fehlende Gefühl von Richtigkeit nicht erlangt hatte, suchte sie den Horizont nach etwas Wünschenswertem ab, das sie nicht sofort haben konnte und, als sie damit keinen Erfolg hatte, beging sie Selbstmord.

So manche anderen Mädchen und Frauen, deren Ziele den ihrigen ähnlich gewesen waren, fragten sich: Wie konnte gerade sie, die alles besaß…? Der Schaden, der diesem Teil des Amerikanischen Traums dadurch zugefügt wurde, war jedoch nicht ernsthaft, denn in ihrem Herzen war jede sich dies fragende Frau sicher, daß, wenn nur… wenn nur sie es doch wäre, die so viele begehrenswerte Dinge des Lebens besäße, sie, die das Glück schon fast in Reichweite spürte – sie würde unfehlbar glücklich sein.

Es mangelt nicht an Beispielen von ähnlich motivierten Selbstmorden; weitaus verbreiteter jedoch ist das verzweifelte Verhalten jener Erfolgreichen, deren Selbsterhaltungstrieb den letzten Schritt ins Vergessen verhindert, deren Leben jedoch angefüllt ist mit Alkohol- oder Drogenkonsum, Scheidungen und Depressionen. Die meisten Reichen können noch reicher werden und ersehnen dies tatsächlich, die Mächtigen wollen mehr Macht, und ihrem Sehnen wird dadurch Gestalt gegeben. Die wenigen, die am Ende angelangt sind, oder in Sichtweite all dessen, das zu wünschen sie fähig waren – sie allein müssen sich der Tatsache stellen, daß ihr Verlangen sich nicht befriedigen läßt. An seine ursprüngliche Gestalt können sie sich nicht erinnern: nämlich an ihr Sehnen als Säuglinge nach ihrem Platz in den Armen ihrer Mutter. Praktisch starren sie in einen bodenlosen Abgrund, ohne Antwort auf ihr Fragen nach dem Sinn des Ganzen, wo sie doch einst vielleicht ganz sicher gewesen sind, daß es Geld, Ruhm oder Leistung sei.

Die Ehe ist im zivilisierten Leben in vielen Fällen zum Doppelvertrag geworden; die eine Klausel könnte heißen „…und ich will deine Mutter sein, wenn du die meine sein willst.“ Die immer gegenwärtigen frühkindlichen Bedürfnisse beider Partner drücken sich aus in der stillschweigenden (häufig auch ausgesprochenen) Behauptung: „Ich liebe dich, mich verlangt nach dir, und ich brauche dich.“ Die ersten beiden Drittel dieses Satzes sind reifen Männern und Frauen angemessen, doch für gewöhnlich beinhaltet der Begriff „brauchen“ – obwohl er in unserer Kultur in romantischem Sinne akzeptabel ist – ein Bedürfnis nach einem gewissen Maß an Bemutterung. Dies kann sich von Babysprache („Hattu mich auch lieb?“) bis hin zu einer stillschweigenden Abmachung erstrecken, anderen Menschen nicht mehr als oberflächliche Aufmerksamkeit zu schenken. Häufig ist das vorherrschende Bedürfnis, der Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein (eine Abwandlung jener Art von Aufmerksamkeit, die Säuglingen, nicht aber Kindern oder Erwachsenen angemessen ist), und die Partner können durchaus zu einer einigermaßen freundschaftlichen Aufteilung der Bühnenmitte kommen.

Liebeswerben ist häufig ein Versuchsfeld zur Klärung, wie weit die frühkindlichen Bedürfnisse jedes Partners sich erfüllen lassen. Für Menschen mit weitreichenden Ansprüchen – Menschen, deren frühes Leben sie ohne ausreichende Erfüllung gelassen hat, um mit einem anderen Menschen und seinen Bedürfnissen auch nur befriedigende Kompromisse zu schließen – ist die Suche nach einem Partner oft eine traurige und endlose Angelegenheit. Sie wurden in der Frühkindheit im Stich gelassen und ihre Sehnsüchte sind umfassend und tief. Die Angst davor, erneut im Stich gelassen zu werden, kann so stark sein, daß sie in dem Augenblick, da die Gefahr besteht, einen Gefährten zu finden, in großem Schrecken die Flucht ergreifen. Denn sie wollen es vermeiden, den Kandidaten dem Test zu unterwerfen und auf unerträgliche Weise daran erinnert zu werden, daß sie nicht auf die bedingungslose Art liebenswert sind, die sie benötigen.

Unzählige Männer und Frauen sind Opfer eines Verhaltens-„Musters“ hinsichtlich der Liebeswerbung, das eine scheinbar unerklärliche Angst vor dem Glücklichsein offenbart. Auch wenn es ziemlich leicht ist, die Angst vor dem Finden eines Partners zu überwinden, scheuen Bräutigame am Altar, und Bräute weinen noch immer vor Angst, wenn die Zeit kommt, vorzutreten und ihr Glück zu beanspruchen. Doch viele leben so jahrelang weiter, mit wechselnden Partnern auf der Suche nach einer Beziehung, die sie nicht benennen können. Sie sind unfähig, sich an irgendjemand so Unbedeutenden zu binden wie einen Mann oder eine Frau, die nicht größer oder wichtiger sind als sie selbst.

Die Schwierigkeit, einen annehmbaren Gefährten zu finden, ist durch kulturelle Leitbilder wie die von Film, Fernsehen, Romanen, Zeitschriften und der Werbung herausgestellten Liebesobjekte noch kompliziert worden. Die den Zuschauer zum Zwerg machenden Kinoleitbilder erwecken die Illusion, dies seien die langverlorenen „richtigen“ bzw. Mutterstatur aufweisenden Menschen. Wir hegen ein vemunftwidriges Zutrauen zu diesen überdimensionalen Geschöpfen, und wir übertragen auf die Schauspieler selbst die Aura von Vollkommenheit, die ihnen in unserer Vorstellung anhaftet. Sie können nichts Falsches tun, sie stehen jenseits der Art von Urteilen, wie wir sie übereinander fällen. Und um alles noch mehr zu verwirren, prägen die Figuren, die sie darstellen, wie unrealistisch auch immer sie sein mögen, die Normen für unsere Wünsche, durch welche die wirklichen Menschen noch weniger zufriedenstellend als je erscheinen.

Die Werbung hat gelernt, aus den Sehnsüchten der der Erfahrung des Getragenwerdens beraubten Öffentlichkeit Kapital zu schlagen, indem sie Versprechen macht, die zu besagen scheinen: „Wenn du dies hättest, würdest du dich wieder richtig fühlen.“ Eine Limonade wird mit dem Werbespruch versehen „Sie ist das Wahre.“ Ihr Hauptrivale appelliert an das fehlende Gefühl der Zugehörigkeit mit „Du gehörst zur Pepsi-Generation“ oder mit Bildern von „richtig“ aussehenden „Pepsi-Menschen“. Eine Firma schlägt ein Ende des Sehnens vor mit den Worten „Ein Diamant besteht ewig“. Die unausgesprochene Folgerung ist, daß der Besitz einer Sache von garantiertem Wert einem selbst eine Wert von derselben Beständigkeit, Unantastbarkeit und Absolutheit verleiht. Es ist, als brauche man nicht liebenswert zu sein, um geliebt zu werden, wenn man einen Diamanten trägt, einen Zauberring, der alle Menschen zu jeder Zeit anzieht. Statuspelze und -autos, eine gute Wohngegend usw. scheinen ebenfalls die Anerkennung zu bewirken, nach der man sich sehnt. Zugleich umgeben sie einen mit Sicherheit inmitten von Unsicherheit, nicht unähnlich den umfangenden Armen, die wir seit je vermissen. Was immer unsere Kultur uns auch als die richtige Sache zum Besitzen anbietet: Was wir wollen ist, „drinnen“ zu sein; denn wir fühlen uns chronisch draußen, obwohl wir uns fortwährend einzureden suchen, wir seien „in“ – selbst dann noch, wenn wir neue Anstrengungen unternehmen, um uns dies glauben zu machen.

Obwohl die meisten von uns sich nicht erinnern können, sich je völlig richtig gefühlt zu haben, wirklich mitten in dem gelebten Augenblick, übertragen wir doch häufig die Illusion davon sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft. Wir sprechen von den goldenen Kindheitstagen oder der guten allen Zeit, um die Illusion aufrechtzuerhalten, daß Richtigkeit nicht wirklich fern sei. Die Unschuld der Kindheit, von der wir meinen, sie habe uns vor den grausamen Wirklichkeiten beschützt, war von Bestürzung und Verwirrung begleitet angesichts der Widersprüche zwischen dem uns Gesagten und dem, was wir geschehen sahen. Und das Gefühl von etwas Fehlendem war damals ebenso wie heute stets anwesend; damals jedoch gab es noch irgendwie die Illusion, daß uns die „Richtigkeit“ eröffnet werden würde, wenn wir nur erst endlich erwachsen und den Menschen „richtigen“ Alters zugestellt wären.

Wir ahnten damals noch kaum, daß die Menschen des richtigen Alters uns immer um eine Länge voraus sein würden, bis die Zeit uns zu glauben gestatten würde, sie seien nun eine Länge oder mehr hinter uns.

Der Gedanke, daß Erfüllung, d. h. das Gefühl der Richtigkeit, durch Kämpfen und Gewinnen erreichbar sei, ist eine Erweiterung dessen, was Freud „Geschwisterrivalität“ nannte. Er meinte, wir alle hätten Eifersucht und Haß auf unsere Brüder und Schwestern zu bewältigen, die unseren exklusiven Zugang zu unseren Müttern bedrohten. Aber Freud hatte keine ungeschädigten Menschen in seinem Bekanntenkreis. Hätte er Gelegenheit gehabt, die Yequana kennenzulernen, so hätte er festgestellt, daß der Gedanke des Konkurrierens und Gewinnens als Selbstzweck ihnen gänzlich unbekannt ist. Er kann daher nicht als integraler Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit angesehen werden. Wenn einem Baby alles an Erfahrung auf den Armen seiner Mutter zuteil geworden ist, was es braucht, und es sich von ihr aus eigenem freien Willen löst, so wird es dadurch befähigt, ohne Schwierigkeit die Ankunft eines neuen Babies an dem Ort, den es freiwillig verlassen hat, zu ertragen. Es besteht kein Grund zur Rivalität, wenn nichts beansprucht wurde, was es noch braucht.

(…)