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Marianne Oesterreicher-Mollwo (Hrsg.)
Was uns bewegt

Naturwissenschaftler sprechen über sich und ihre Welt


Weinheim und Basel 1991 (Beltz, Psychologie-heute-Sachbuch); 400 Seiten; ISBN 3-407-85100-6






In den letzten Jahrzehnten haben Naturwissenschaft und Technik unser Leben auf tiefgreifende Weise revolutioniert. Immer atemberaubender wurden die Durchbrüche und Triumphe. Aber gerade ihre immensen Erfolge haben die Naturwissenschaften in Bereiche geführt, wo Gewißheiten und Sicherheiten wieder in Frage gestellt werden. Und auch jenseits der Wissenschaften tauchten immer neue Probleme und Fragen auf, die nicht zuletzt auch Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts waren. In diesem Buch wird der Versuch unternommen, das Denken, Fühlen und Handeln von Naturwissenschaftlern nachzuzeichnen: Denn in ihrer Person spiegeln sich die Erkenntnisprozesse, aber auch Widersprüche und Zweifel der modernen Zauberlehrlinge am deutlichsten. 34 führende deutsche Naturwissenschaftler berichten über ihre Entwicklung, ihre Arbeit, ihr Leben und über die Wechselwirkungen zwischen ihrer Existenz als Produzenten „reinen Wissens“ und ihrer Rolle als „Privatmenschen“. Die eindrucksvollen Porträts und Selbstporträts dieser Forscherinnen und Forscher gewähren einen einmaligen Einblick in Denkweisen und Persönlichkeiten der naturwissenschaftlichen Intelligenz.


Marianne Oesterreicher-Mollwo


Dr. phil., studierte Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte und Kunsterziehung in Zürich, Basel, Tübingen und Freiburg. Autorin und Herausgeberin zahlreicher Buchveröffentlichungen.


Inhaltsverzeichnis


Vorwort der Herausgeberin






Intuition im naturwissenschaftlichen Zeitalter
Hans Sachsse






„Immer wenn ein Weg der Erkenntnis vor allen anderen hervorgehoben wird, ist das schlecht“
Gespräch mit Victor Weisskopf






„Das wichtigste Forschungsinstrument sollte die technisch und logisch geschulte, physikalisch gemäßigte Phantasie sein"
Erich Mollwo






Wandlungen des Verhältnisses Wissenschaft – Politik – Öffentlichkeit in meiner Zeit
Heinz Mater-Leibnitz






„Ich bin heute noch für die Tatsachen“
Gespräch mit Hermann Flohn






„Stehenbleiben steht nicht zur Wahl“
Lili Schoeller






„In der Biologie muß man auch die kleinen Dinge ernst nehmen“
Martin Lindauer






„Die Gesellschaft lebt vom Beispiel“
Gespräch mit Werner Buckel






„Inkonsequent sind wir alle“
Thomas von Randow






„Ich versuche in jedem Einzelfall nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden“
Gespräch mit Bernhard Hassenstein






Meine Paten
Hilla Schnöring-Peetz






„Ich finde es schade, daß die Naturwissenschaften sich heutzutage zu wenig als Naturphilosophie sehen“
Gespräch mit Herwig Schopper






„Wir werden immer schneller tüchtig als weise“
Gespräch mit Rupert Riedl






„Rationalität der Naturwissenschaftler und Vernunft, das hat wenig miteinander zu tun“
Gespräch mit Bernhard Gonstor






„Je mehr wir Grenzen ausloten, um so mehr erfahren wir vom Menschen als Menschen – hoffentlich“
Hermann Haken






Irdisches und Kosmisches – Ansichten eines Astronomen
Hans Elsässer






„Zur Forschung gehört die Selbstreklame"
Horst Müller






„Umdenken – das tut niemand besonders gern“
Gespräch mit Peter Sitte






Qualitatives Wachstum als Überlebensstrategie
Hans Mohr






„Es ist kein erstrebenswertes Ziel, der Handlanger eines anderen zu sein“
Gespräch mit Ursula Hofacker






Vergessen und Blindheit gewiß: Aber keine Umwertung
Benno Müller-Hill






Ansatz zu einem Recycling der Aufklärung
Peter Kafka






Biostrategie – eine Überlebenschance?
Werner Nachtigall






„Ich habe Vertrauen, daß wir mit wenigem doch immer noch vieles ändern können“
Gespräch mit Klaus Michael Meyer-Abich






„Ich möchte nicht geschwiegen haben“
Jürgen Schneider






„Man muß nur das Richtige anpacken“
Gespräch mit Ernst Ulrich von Weizsäcker






„Wir haben mit einem Mal völlig neue Zusammenhänge zwischen Prozessen und Phänomenen gesehen
Gespräch mit Rolf Emmermann






„Ein Stück Faszination ist geblieben“
Joachim Nitsch






Vom Flugzeugingenieur zum Friedensforscher
Ulrich Albrecht






„Es gibt ja so wunderbare Wirklichkeiten...“
Gespräch mit Volker Arzt






Über die Schwierigkeit, Meinungen zu ändern
Gerhard Vollmer






„Fortschritt, der im Widerspruch zum Ganzen steht, ist Rückschritt"
Gerd Binnig






„Das Irrationale ist mir zutiefst ungeheuer“
Gespräch mit Fritz Vahrenholt






„Über alle kulturellen und politischen Unterschiede hinweg vertraut man einander“
Ulrike Beisiegel


Leseprobe


Vorwort







Die Natur ist der Geist, der sich nicht als Geist kennt.
F. W. J. Schelling








Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es. Will ich es aber einem Frager erklären, dann weiß ich es nicht.
Augustinus über die Zeit






Das, was die Gesellschaft als verbindliches Wissen akzeptiert, ist nicht zu allen Zeiten auf die gleiche Art zustande gekommen. Überlieferung, Intuition, religiöse Erfahrung konnten in früheren Epochen viel fragloser, als dies heute möglich ist, Evidenzen erzeugen.






Der Typus der Verbindlichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse prägt, in popularisierter Form, heute auch unser Denken außerhalb der Naturwissenschaft. In den letzten 200 Jahren hat der unglaubliche Erfolg des kontrollierten Vorgehens der Naturwissenschaften unser Qualitätsgefühl gegenüber der Gültigkeit von Aussagen wahrscheinlich tief bis in unbewußte Bereiche hinein beeinflußt. Er hat dabei auch Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten aufgelöst, die Orientierung möglich gemacht haben. Es sieht so aus, als hätten wir zur Zeit und noch auf lange Sicht kein Wissen, auf das wir uns sicherer verlassen könnten als das durch die Naturwissenschaft gewonnene. Daß dieses innerhalb seiner Fachbereiche immer wieder auch Aporien, Unklarheiten, Umbrüche und Nicht-mehr-Vorstellbares hervorbringt, ist der Öffentlichkeit nicht jederzeit bewußt. Sie ist trotz wachsender Irritierung beeindruckt und geprägt von der Tatsache, daß es „richtiges" Wissen gibt, und von den Erfolgen, die sich durch dessen Umsetzung in der Technik erreichen lassen.






Es gehört zur Tragik, aber zugleich zu den fruchtbaren Spannungen unseres Zeitalters, daß wir wohl wissen können, wie klein der Ausschnitt unserer Realität ist, den wir mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassen, und daß wir andererseits nichts Verbindlicheres haben als diese. Vordergründig scheinen wir uns zwar daran gewöhnt zu haben, daß der Geltungsbereich natur-wissenschaftlicher Aussagen getrennt ist von gesellschaftlich und persönlich relevanten Wahrheiten. Manches spricht aber dafür, daß der Mensch sich nicht an die Trennung zweier Kulturen, wenn sie so weit fortgeschritten ist wie heute, auf Dauer gewöhnen kann, ohne Schaden zu nehmen. Das Leiden an Sinnkrisen sowie das Anwachsen esoterischer und okkulter Strömungen sind vielleicht nur der auffälligste Ausdruck für die Unhaltbarkeit einer solchen Situation. Erschwerend kommt hinzu, daß unser ständig wachsendes technisches und medizinisches Wissen unseren Handlungsspielraum und damit den Entscheidungsbedarf so erweitert hat, daß, bei herrschender religiöser Unverbindlichkeit, das Bedürfnis nach Verständigung in Bereichen des Entscheidens und Wertens immer mehr zunimmt. Es wächst der Bedarf an verbindlicher Kommunikation in Fragen der Humanität, die sich aus dem wachsenden Können der Naturwissenschaft und Technik ergeben.






Die bedrückten Gefühle angesichts der Tatsache, daß Naturwissenschaft und Gesellschaft nur so schwer zusammenkommen, haben verschiedene Ausdrucksformen. Das gleiche gilt für die Versuche einer Überbrückung des Trennenden. „Interdisziplinär“ ist seit langem ein Zauberwort, von dessen Umsetzung man sich gleichsam alchimistische Durchdringungen bisher geschiedener Welten versprach. In Akademien, auf Tagungen und Kirchentagen werden Symposien veranstaltet, zu denen man Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler einlädt in der Hoffnung, so könne irgendein Amalgam erzeugt werden. Oft aber scheitern solche Unternehmen bereits an der Unüberbrückbarkeit der verschiedenen Sprachen. Was in jedem Fall weiterbesteht, ist das noch lange nicht gestillte Bedürfnis, Brücken zu schaffen, so viele wie möglich.






Als wir, Verlag und Herausgeberin, dieses Buch planten, waren auch wir von der Absicht geleitet, uns zu jenen Brückenbauern zu gesellen – in aller Bescheidenheit wohl bedenkend, wie wenig ein einzelnes Buch ausrichten kann. Wir sagten uns: Es gibt einen Ort, an dem die beiden Welten zwangsläufig vereinigt sind, und das ist die Person des Naturwissenschaftlers selbst. Es kann nicht ausgeblieben sein, daß er als Mensch geprägt wurde durch seine Arbeit und umgekehrt. Wir wollten deshalb in Erfahrung bringen, was – beschränkt auf den deutschsprachigen Raum – dem Herzen von Naturwissenschaftlern innerhalb ihrer Arbeit besonders nahesteht, wo sich in ihnen Naturwissenschaft und der persönliche Bereich besonders eng berühren.






Geleitet von der Vorstellung, wesentlichen Aspekten damit besonders nahezukommen, forderten wir die Beiträger zur Beteiligung auf mit der indirekten Frage: „Was ich heute anders sehe ..." Auf mehrfachen Wunsch – weil sie zu sehr die Dramatik von Umbrüchen suggerierte – wurde sie später abgewandelt in: „Wie ich es heute sehe ..." Einige der Texte nehmen auf diese Fragen ausdrücklich Bezug.






Wir waren sehr gespannt auf die einzelnen Beiträge. Sie fielen erwartungsgemäß recht verschieden aus und lassen sich, nach Texttyp, grob auf vier Gruppen verteilen: Bei der einen Gruppe stehen Rückblicke, Erinnerungen im Vordergrund. Andere haben sich ausführlicher zu aktuellen Entwicklungen in ihrem Fachgebiet geäußert. Wiederum andere legten den Schwerpunkt ihrer Betrachtungen auf Probleme der Erkenntnis und Fragen der wissenschaftlichen Ethik. Eine vierte Gruppe schließlich stellte ins Zentrum Überlegungen zu Zukunftsfragen sowie Lösungsmöglichkeiten. Fast alle Beiträge haben freilich, in verschiedenem Maß, Anteil an diesen vier Gruppen. So bewegen beispielsweise viele Autoren Sorgen um die globale Situation unseres Planeten.






Naturwissenschaftler machen nicht gern große Worte und sind teilweise zurückhaltend, wenn es um die Äußerung dessen geht, was sie bewegt. Manche eher persönliche und philosophische Mitteilung wird der Leser auch einmal zwischen den Zeilen etwa der engagierten Darstellung eines Fachgebietes lesen müssen. Wenn auch die „Philosophie“ der Beiträger in verschiedenem Maße explizit wird, so gilt doch für jeden der 34 Texte, daß der Leser durch ihn einen je spezifischen Einblick in eine Denkwelt, ein Denkklima, eine persönlich durch die Naturwissenschaft geprägte Wirklichkeit bekommt. Trotz aller Verschiedenheiten teilen sich zudem auch Gemeinsamkeiten mit, die den Denkstil aller Naturwissenschaftler kennzeichnen.






Eine Textsammlung wie die vorliegende kann nicht systematisch aufgebaut und vollständig sein. Zu sehr ist sie von Zufälligkeiten, etwa Zu- und Absagen, auch noch in letzter Minute, abhängig. Glücklicherweise, vielleicht auch notwendigerweise, hat es sich aber ergeben, daß Forschungsschwerpunkte, die hier nicht repräsentiert sind, verschiedentlich von den Autoren mitbedacht und mitdiskutiert werden. Neben Forschern haben wir auch einige wenige Wissenschaftsjournalisten zur Beteiligung eingeladen. Überproportional – gemessen am Durchschnitt der Naturwissenschaftler – haben wir solche Persönlichkeiten bevorzugt, von denen bekannt ist, daß sie sich umfassender oder sogar anders, als ihr Fachgeblet es ursprünglich nahelegt, engagiert haben. Daß so wenige Frauen hier zu Wort kommen, ist bezeichnend für die (Noch?-) Situation der Naturwissenschaften. Die einzelnen Beiträge sind in chronologischer Reihenfolge, bezogen auf die Geburtsdaten der Verfasser, angeordnet.






Das Buch bietet eine gute Einführung in die Welt naturwissenschaftlichen Denkens, es bringt in Berührung mit vielem, was Herz und Verstand von Naturwissenschaftlern bewegt. Wir wünschen uns Leser, die es, gleich uns, als brennend notwendig erleben, Naturwissenschaft und Gesellschaft einander näherzubringen, auf allen Wegen, die begehbar sind.






Freiburg, im November 1990
Marianne Oesterreicher-Mollwo