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Wir leben nicht mehr in den Gruppen der Jäger und Sammler, wo jeder jeden kannte. Keine Frage, in den anonymen und heterogenen Massengesellschaften von heute ist gerechte politische Willensbildung alles andere als einfach. Entsprechend lebhaft sind die Diskussionen um die Zukunft der Demokratie. Doch die tatsächliche Problematik gründet tiefer.
Sie zeigt sich in der evolutionären Perspektive: Aufklärung und Emanzipation waren unvollständig, mehr noch, sie sind auf einen Holzweg geraten. Sie rehabilitierten zwar dem Prinzip nach die Teilhabe aller an der politischen Entscheidungsfindung (auch wenn da wiederholt nachgebessert werden musste), aber sie versäumte es, die eigentliche mit dem Sesshaftwerden in die Welt getretene Sünde zu eliminieren: die Möglichkeit, übermäßig Eigentum anzuhäufen.
Das ist der Kardinalfehler: Die demokratischen Bewegungen der Vergangenheit haben nicht die alte Gerechtigkeit wiederhergestellt. Sie haben zwar die traditionelle – sichtbare – Herrschaft beseitigt, nicht aber die unsichtbare des Eigentums. Insofern blieb das Spiel des Lebens weiterhin eines mit gezinkten Karten: Einige wenige haben qua Zufall der Geburt alle Trümpfe in der Hand; den vielen dagegen bleibt qua Zufall der Geburt nur das Nachsehen.
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(…) Insofern haben die Aufklärung und die mit ihr einhergehenden bürgerlichen Revolutionen nur versucht, die eine Hälfte der Ungerechtigkeitsfaktoren aus dem Weg zu räumen: die undemokratische Herrschaft. Die andere Hälfte aber, die undemokratische Vermögens- und Machtverteilung, blieb unangetastet. Die Revolutionen haben zwar zur Abschaffung der Adelsprivilegien geführt, aber konservierten die Eigentumsprivilegien. Sie wurden sogar zum unantastbaren Menschenrecht geadelt. Seither kann man sich eine Welt ohne sie kaum mehr vorstellen.
Der Schutz des Eigentums sollte die Menschen gegen die Willkür der Herrscher und des Staates schützen – doch dieser Akt normalisierte damit auch bestehende Reichtümer und wusch all die Vermögen von ihrer vielfach zweifelhaften Herkunft rein. Die des Adels stammten aus der Ausbeutung der einfachen Menschen über Generationen, und die Vermögen der Industriellen Revolution verdanken sich der Ausbeutung der Arbeiter und Sklaven, der Kolonien und der Natur. Indem Besitz zum Menschenrecht erklärt wurde, wurde die Enteignung der Besitzlosen zementiert. Einmal mehr ist das mächtigste Legitimationsinstrument der Ungleichheit zu beobachten: die Normalität. Dem Besitz ist es gelungen, sich selbst als historische Ausnahmeerscheinung unsichtbar zu machen – und so zu tun, als sei er Teil der Conditio humana.
Man war blind für die daraus erwachsende Unfairness der Lebenschancen, die über Generationen hinweg vererbt wurde. Im Gegenteil: Lange dominierten im Westen Zensuswahlrechte, die den Stimmen der Reichen mehr Gewicht beimaßen (und Nichtbesitzende ausschlossen, um von Frauen gar nicht zu reden). Die Aristokratie wechselte also nur das Medium: Nicht mehr das Blut, die Verwandtschaftslinie war entscheidend, sondern das Geld, das Erbe. Es entschied über die Fitness der Individuen. Eine rein kulturelle Erfindung übernahm das Ruder. Die neue Aristokratie ist eine Plutokratie. Chancengleichheit bleibt unter diesen Bedingungen eine Farce.
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(…) Da ohne evolutionäre Aufklärung Gesellschaften stets zur Kulturblindheit neigen und ihre Lebensumstände als Normalität verklären, folgen daraus die typischen Schuldzuweisungen. Wieder einmal wird den Opfern, den Verlierern dieses unfairen Spiels die Schuld zugewiesen. Solche Narrative sicherten seit dem Aufkommen des Kapitalismus den Status quo ideologisch ab. (…) Die Armen haben (…) entweder Pech, weil sie nicht von Gott auserwählt waren, oder sie waren wegen ihrer Sündhaftigkeit selbst schuld. (…) Die Armen sind arm, weil sie faul, disziplinlos, primitiv oder genetisch mangelhaft sind (das alles wurde ihnen vorgeworfen). Dabei entstand Reichtum vor allem dort, wo Reichtum vorhanden war, und jene anderen hatten schlicht keine Chance im Wettbewerb. Bitter, wenn ihnen dieses Pech noch als Stigma auferlegt wird.
Und schließlich ist da das bereits erwähnte Mephisto-Prinzip, das mit dem Namen Adam Smith verbunden ist, demzufolge das freie Ausleben des wirtschaftlichen Egoismus, die ungehemmte Entfaltung der Marktkräfte wie mit unsichtbarer Hand zum Wohle aller wirke und grenzenloses Wachstum ermögliche. Abgerundet wurde das von jenem Mythos, der versprach, der Weg zum Reichtum stünde jedem offen. Hauptsache, man strengt sich nur genügend an und ist sich für nichts zu schade. Dadurch konnte man ruhigen Gewissens seinem Egoismus freien Lauf lassen, da das ja letztlich auch den Armen helfe.
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(…) Und hier wird es geradezu skurril, kommt an dieser Stelle doch der Missbrauch der Evolution ins Spiel. Der evolutionistische Sozialdarwinismus, der behauptete, dass das unbedingte Recht des Stärkeren den Fortschritt voranbrachte, avancierte zur Ideologie des Kapitalismus – und ist das mitunter noch heute.
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(…) Wir müssen den in die Irre führenden Freiheitsmythos korrigieren. Unsere Jäger- und Sammler-Vorfahren waren frei in dem Sinne, dass sie keine Herrschaft über sich duldeten und sich vor niemandem verbeugen mussten. (…) Sie waren aber nicht frei in dem Sinne, dass jeder Einzelne tun konnte, was er oder sie wollte, ohne Rücksicht auf die Allgemeinheit. (…) Diese Art von Freiheit, die das Individuum isoliert über alles stellt, ist eine Erfindung des Kapitalismus und die Grundvoraussetzung der grenzenlosen Bereicherung. Zu diesem kapitalistischen Narrativ gehört die stete Betonung der individuellen Rechte, die mit einer Zurückweisung der Pflichten gegenüber der Gesellschaft einhergeht. Viel zu lange berief man sich dabei auf das angeblich in der Evolution begründete Recht des Stärkeren. Doch da würden unsere hypersozialen Vorfahren aus dem Stauenen nicht herauskommen. Das Wissen, dass niemand allein überleben kann, war die Grundessenz ihrer Existenz.