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Christian Schütze
Das Grundgesetz vom Niedergang

Arbeit ruiniert die Welt

München Wien 1989 (Hanser); 104 Seiten; ISBN 3-446-15740-9








Menschliches Handeln wird von der Vorstellung bestimmt, welche sich die Menschen von den Zusammenhängen der Welt machen. Sie erklären Ereignisse nach einem vorgegebenen Muster, nach dem bekannten Beispiel und dem vertrauten Vorbild. In der wissenschaftlichen Zeitbetrachtung wird dafür der griechische Begriff Paradigma gebraucht. Ein jedes Zeitalter denkt, fühlt und handelt nach seinem eigenen Paradigma. Die gegenwärtig drückenden oder drohenden Krisenerscheinungen – Umweltzerstörung, Übervölkerung, Inflation, Energieknappheit – sind die Folgen falscher Vorstellungen vom Weltgeschehen und der Mißachtung fundamentaler Gesetze. Wir fühlen, daß es höchste Zeit ist, das Paradigma zu wechseln. Der Glaube an den immerwährenden technischen Fortschritt ist ins Wanken geraten.
(Aus dem Vorwort)




»Das Ergebnis aller Arbeit des Menschen in dieser Welt ist nur deren beschleunigter Untergang.« So stand es in Christian Schützes Aufsatz Das Grundgesetz vom Niedergang. Der Autor sieht eine »unvermeidliche natürliche Entwertung der Welt in der Zeit« und schrieb diese einem »Grundschaden der Weltordnung« zu: dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, auch Entropiesatz genannt, dem »großen Weltgesetz, unter dem aller Wandel steht«. — Christian Schütze wollte mit diesem eindringlichen Aufsatz auf den jämmerlichen Zustand der immer noch gängigen Wirtschaftstheorien hinweisen, die bei der Betrachtung von Energie und Rohstoffen im Wirtschaftsprozess nicht einmal die Gesetze der Logik und der Physik beachten. Die bodenlose Naivität oder Unehrlichkeit vieler Leitartikel und Politikerreden, die auf solch hohlen Ideologien aufbauen und doch des Journalisten täglich Brot sind, ließen offenbar in ihm tiefen Pessimismus entstehen. Sein Gespür für den Niedergang ist gut entwickelt – die Welt des Menschen droht in der Tat unwiderruflich unterzugehen –, doch ließ er sich bei der Suche nach den Ursachen auf eine falsche Fährte locken. Der Grund für den Niedergang liegt nämlich nicht im Entropiegesetz, sondern in der ganz gewöhnlichen menschlichen Dummheit, Trägheit und Gier – und in ein paar anderen Todsünden. Alles schlimm genug, aber nicht unabänderliches Naturgesetz, sondern durch Einsicht beeinflußbar. (...)

Dieses »Grundgesetz des Niedergangs« [der Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik] hat mehrere Generationen von Wissenschaftlern, die sich die Welt als abgeschlossenes System vorstellten, erschreckt und am eigenen Wesen zweifeln lassen. Und wenn man mit Christian Schütze oder dem von ihm zitierten Nicolas Georgescu-Roegen die wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschheit unter diesem Gesichtspunkt ansieht, so wird man zustimmen, dass derzeit die offenbar immer rascher gesteigerte Effektivität der Entropie-Erzeugung der beherrschende menschliche Beitrag zum Gesamtsystem ist und dass tatsächlich das Bruttosozialprodukt ein recht brauchbares Maß für den Erfolg dieser Umwandlung von Vielfalt zu Einfalt zu sein scheint. Die Symptome des Niedergangs sind beunruhigend, ja fast zum Verzweifeln. (...)

Wir beuten möglichst jede Abweichung vom thermodynamischen Gleichgewicht, die wir in unserer toten oder lebendigen Umgebung entdecken, sofort in der Hoffnung auf Vorteil aus, erzeugen dabei Entropie und stellen kurz darauf fest, dass dies im wesentlichen auch schon alles war, was wir erzeugt haben. Der erhoffte Vorteil wird durch die der Entropie entsprechende »Unordnung«, also die an den eigenen Wurzeln angerichteten Schäden, weit überwogen. Was wir dabei an Geld ausgeben, auch für die Linderung der Schäden, zählen wir, im Bruttosozialprodukt einfach alles zusammen, alles positiv, und nennen es die »Wertschöpfung«. Dass hier etwas nicht stimmt, beweist schon die oft gehörte Feststellung der Wachstumsprediger, wenn das Bruttosozialprodukt nicht wüchse, sondern auf gleichem Stand bliebe, ginge es uns schlechter. Kein Wunder! Wenn wir das gleiche tun wie bisher oder gar noch mehr davon, so muss es uns in der Tat immer schlechter gehen, weil wir mehr Werte vernichten als schaffen. Das ist der Niedergang, den Christian Schütze meinte. Nur ein kleines Mißverständnis war dabei: Nicht die Zeit entwertet die Welt. Die Eile ist es!




Peter Kafka, Das Grundgesetz vom Aufstieg (S. 11/12/18)


Christian Schütze


geboren 1927 in Dresden, Studium der Geschichte und der Philosophie, Tätigkeit am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und als Redakteur bei der Stuttgarter Zeitung. Ab 1964 leitender Redakteur für Umweltpolitik, Energiepolitik, Bildungspolitik und Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung. Er ist mit dem Theodor-Wolff-Preis und anderen Publizistik-Preisen ausgezeichnet worden. Wichtige Buchveröffentlichungen: Gift und Schmutz von A bis Z (1971), Die Lage des Waldes (zusammen mit G.Meister und G.Sperber 1984), Skandal – der Umgang mit dem Unerhörten (1985)


Inhaltsverzeichnis


Vorwort



Ein Beispiel aus dem täglichen Leben



Energie und Materie im geschlossenen System



Auf der Jagd nach der negativen Entropie



Wie gering die Materialisten die Materie schätzen



Die faszinierende Idee vom Kreislauf



Philosophen und Ökonomen sehen eine Lösung



Chancen und Grenzen des Recycling



Eine Kontroverse



Vielleicht doch eher Aufstieg?



Eine unangenehme Wahrheit



Literatur


Leseprobe


Ein Beispiel aus dem täglichen Leben






In einem modernen Haushalt wird eine Tasse Kaffee gekocht; eine einfache Sache. Doch dazu sind viele Energieumwandlungsprozesse nötig. Im Bergwerk wird Kohle gefördert, sie wird zum Kraftwerk gefahren und verfeuert. Von ihrem theoretischen Energiegehalt werden allerdings nur zwischen 30 und 40 Prozent zu Strom, je nach Qualität des Kraftwerkes. Der Rest der Energie verschwindet durch den Kühlturm oder im Fluß als Abwärme in der Umwelt. Ein Teil des Stromes fließt zurück ins Bergwerk zur Förderung weiterer Kohle. Einen anderen Teil verbraucht die Lokomotive, die Kohle zum Kraftwerk transportiert. Sie wandelt elektrische in mechanische Energie um. Beim Anfahren und Bremsen verschwindet diese Energie als Abwärme. Ehe der Strom zum Elektrokochtopf gelangt, mußte er Widerstände in Freileitungen und Transformatoren überwinden; dabei ging von der erwünschten Energie Elektrizität wiederum ein Teil als unnütze Abwärme verloren.






Nun erhitzt der Strom das Wasser auf 100 Grad. Es wird über das Kaffeepulver gegossen, der heiße Topf bleibt zurück und kühlt langsam aus. Viel Energie war nötig, bis dieses Pulver endlich auf dem Filterpapier liegt: Strom für Stickstoffdünger, Dieselöl für Transporte, Strom für das Rösten und Mahlen. Das bißchen Sonnenenergie zum Reifen der Kaffeebohnen ist kaum der Rede wert, auch wenn die Fernsehwerbung wegen des Aromas viel Aufhebens davon macht. Nun kommt die Tasse Kaffee auf den Tisch. Aber in diesem Augenblick klingelt das Telefon. Nach zehn Minuten ist das Gespräch zu Ende, und der Kaffee ist kalt. Die in ihm enthaltene Wärme war über eine Kaskade verlustreicher Umwandlungsprozesse erzeugt worden: Chemische Energie (Kohle) wurde zu hochkonzentrierter thermischer Energie (überhitzter Dampf im Kraftwerk), dann über die mechanische Energie in der Kraftwerksturbine zu Strom, dann wieder zu Wärme von hoher Temperatur, schließlich zu Niedertemperaturwärme. Nun hat der Kaffee Zimmertemperatur angenommen, nicht aber das Zimmer die Temperatur des Kaffees. Die Wärme des Kaffees ist in die kältere Umgebung ausgewandert. Das Zimmer wurde um einen winzigen Bruchteil wärmer, doch dieser Energiezuwachs ist wegen der unterschiedlichen Dimensionen kaum spürbar und wertlos. Aber selbst wenn die Kaffeetasse denselben Rauminhalt hätte wie das umgebende Zimmer, so wäre dieses nach dem Abfließen der Wärme aus dem Kaffee zwar merklich wärmer, aber es wäre niemals möglich, diese Wärme in den Kaffee zurückzutransportieren. Noch niemals ist es gelungen, eine Tasse Kaffee durch Zimmerwärme wieder aufzuheizen. Der Zweite Hauptsatz steht dagegen, der feststellt, daß Wärme immer nur vom wärmeren in den kälteren Körper fließt, niemals umgekehrt.






Die Energie, die nötig war für diese Tasse Kaffee, ist allerdings nicht verschwunden. Der Erste Hauptsatz der Thermodynamik hält fest, daß Energie weder geschaffen noch zerstört, sondern nur umgewandelt werden kann. Das geschieht in der Natur ebenso wie in der Technik. Und bei allen diesen Umwandlungsprozessen nimmt die Energie – auch wenn sie Umwege macht – immer nur eine Richtung und endet schließlich als Niedertemperaturwärme, die nicht mehr nutzbar ist. Man nennt diese Form der Energie gebundene Energie, während jene, die noch Arbeit leisten kann, freie Energie heißt. Die Menge der gebundenen Energie auf Erden ist ungeheuer. Die Erdrinde und die Weltmeere, von der Sonne bestrahlt, haben eine Temperatur weit über dem absoluten Nullpunkt, der bei minus 273 Grad liegt. Doch ist diese riesige Energiemenge nicht nutzbar; noch nie wurde ein Schiff über den Ozean bewegt, indem man die im umgebenden Wasser enthaltene Energie für den Antrieb verwenden konnte. Schiffe müssen, wie alle Fahrzeuge, Maschinen, Heizungen und Kochtöpfe, mit freier Energie betrieben werden. Sie liegt vor in hochkonzentrierter Form in den fossilen Brennstoffen Kohle, Erdöl und Erdgas, aber auch im Holz der Wälder oder im Wind, den die freie Sonnenenergie bewegt. Die fossilen Brennstoffe, mit denen unsere technische Zivilisation angetrieben wird, sind dadurch entstanden, daß seit dreieinhalb Milliarden Jahren grüne Pflanzen das Sonnenlicht eingefangen und als Biomasse gespeichert haben, daß Tiere von diesen Pflanzen lebten und die gespeicherte Energie in Fett und Eiweiß umwandelten, daß alles dieses dann in erdgeschichtlichen Umwälzungen unter hohem Druck und von der Luft abgeschlossen in tiefere Schichten versenkt wurde. Seit etwa 200 Jahren werden diese Vorratskeller mit ihren Energiekonserven von den Menschen geplündert, und wie lange das noch so weitergehen kann, ist die große Schicksalsfrage.






Andere freie Energie wird gewonnen aus der Spaltung von Urankernen in Atomkraftwerken, aber auch die auf die Erde gestrahlte Sonnenenergie ist freie Energie. Sie läßt sich in Kollektoren konzentrieren, sie erzeugt energiereiche Nahrung und sie treibt die Bewegungen in der Atmosphäre an, woraus sich nutzbare Wind- und Wasserkraft ergeben.






Nicolas Georgescu-Roegen hat gezeigt, daß der Zweite Hauptsatz, der den Verlust an Verfügbarkeit von Energie beim Übergang von einer Stufe zur anderen beschreibt, auch für die Materie gilt. In seinem Hauptwerk The Entropy Law and the Economic Process (1971) und in zahlreichen kleineren Veröffentlichungen ist er der Frage nachgegangen, welches Schicksal die Materie im Wirtschaftsprozeß erleidet. Es ist dasselbe Schicksal, das nach dem Ersten und dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik die Energie hat. Georgescu-Roegen spricht deshalb von einem Vierten Hauptsatz der Thermodynamik, wobei er einräumt, daß der Ausdruck nicht sehr glücklich ist, weil es eben nicht um Wärme und Energie geht, sondern um Materie. Aber so, wie der Erste Hauptsatz feststellt, daß Energie nicht verschwindet, sondern nur die Erscheinungsform wechselt, so gilt auch, daß Materie nicht zerstört und nicht geschaffen werden kann und daß nichts von ihr verlorengeht. Sie kann allerdings in immer neuen unterschiedlichen Verbindungen auftreten. Daß Materie nach der berühmten Einsteinschen Äquivalenzformel Energie gleich Masse multipliziert mit dem Ouadrat der Lichtgeschwindigkeit (E=mc2) in Energie umgewandelt werden kann, was bei Kernreaktionen geschieht, ist ein Sonderfall und spielt für unsere Betrachtung hier keine Rolle. So wie der Zweite Hauptsatz den Oualitätsverlust von Energie beim Abstieg von einer Energiestufe zur anderen beschreibt und damit den Verlust an Verfügbarkeit von Energie für uns Menschen, so beschreibt der Vierte Hauptsatz das Entschwinden von Materie während des Wirtschaftsprozesses in die Unverfügbarkeit. Georgescu-Roegen hat dem Vierten Hauptsatz folgende Formulierung gegeben:






A. Unverfügbare Materie kann nicht in den Wirtschaftsprozeß zurückgeführt (rezykliert) werden.






B. Ein geschlossenes System, das mit einer äußeren Umgebung Materie nicht austauschen kann, kann nicht für alle Zeit mit gleichbleibendem Ertrag Arbeit leisten.






In Analogie zum Energieverfall bei der Tasse Kaffee können wir uns ausmalen, was aus einer Tonne Blei wird. Im Bergwerk wird Bleiglanz, das häufigste Bleierz, abgebaut. Es enthält fast 87 Prozent Blei und 1 Prozent Silber. Schon der Transport in die Bleiverhüttung erfordert früher gewonnenes Blei: Kabelummantelungen für die Stromversorgung der Lokomotive, Bleimennige für den Rostschutzanstrich ihrer Räder, Bleiplatten für Akkumulatoren im Bahnbetrieb. Bei der Verhüttung des Bleiglanzes verschwindet ein Teil des Metalls mit dem Schlackenabfall auf der Halde. Bei zahlreichen Direktverwendungen ist das Blei zur Verteilung bestimmt. Die Schrotkugeln der Jäger fliegen auf Nimmerwiedersehen davon; nur wo an Land auf Tontauben geschossen wird, könnte es eines Tages lohnen, das Schrot wieder aus der Erde zu sieben und das wertvolle Blei zurückzugewinnen. Noch feiner verteilt verschwindet Blei in Farbpigmenten und chemischen Verbindungen, so im Bleitetraäthyl, das dem Motorenbenzin zugesetzt wird. Nur ein Teil des geförderten Bleis wird nach industrieller Verwertung wieder zurückgewonnen, so zum Beispiel das aus Batterien. Beim Wiedereinschmelzen und Neuverwenden entstehen abermals Verluste. Bekannt ist, daß in der Umgebung von Bleihütten oder bleiverarbeitenden Betrieben große Mengen des Metalls fein verteilt liegen. Während es von dort allenfalls noch wiedergewonnen werden könnte, ist dies unmöglich bei jenem Blei, das durch die Auspuffe der Autos in die Umwelt geblasen wird, sich in den Böden ablagert, im Schlamm der Flüsse verteilt und schließlich auf dem Grund des Ozeans endet.






Im Nachwort zu Jeremy Rifkins Buch Entropy – A New World View macht Georgescu-Roegen auf einen Unterschied zwischen der Energie-Entropie und der Materie-Entropie aufmerksam. Während in dem geschlossenen System Weltraum am Ende aller Energieentwertung, wenn alle Potentiale zerfallen sind und alle Energiestufen durchlaufen wurden, der sogenannte »Wärmetod« des Universums steht, gilt für die Materie im geschlossenen System Erde, daß sie im Chaos endet. Der Begriff Chaos steht hier für Unordnung oder gleichmäßige Durchmischung. Allerdings müsse man sich davor hüten, von der Materie-Entropie als einer meßbaren Größe zu sprechen. Meßbare Entropie gäbe es nur bei der Energie, weil Energie homogen sei; Materie dagegen in gemischter Form sei heterogen, wie sich schon aus dem periodischen System der Elemente ergebe. Die Faktoren, welche die Materie zerstreuen, seien sehr verschieden, je nach Material. Deshalb könnten wir – zur Zeit – die Materiezerstreuung nicht in einer allgemeinen Formel erfassen, was freilich nicht bedeute, daß solche Verteilung und Zerstreuung nicht stattfinde; es gäbe eine ganz allgemeine Entwertung verfügbarer Materie durch Entschwinden in die unverfügbare Form.






Das Naturgeschehen hat eine Richtung. Sie führt aus der Konzentration der Dinge in Verteilung und Zerstreuung. Potentiale an Energie und Materie werden ausgeglichen, abgebaut, dadurch, daß sie technisch genutzt werden. Sie gehen aus der Ungleichverteilung, die man auch als Ordnung bezeichnen kann, in die Gleichverteilung über, die Unordnung heißt oder Chaos. Die Entropie wird deshalb auch als ein Maß für die Unordnung definiert oder als ein Maß der Wahrscheinlichkeit eines Zustandes. Unordnung ist immer wahrscheinlicher als Ordnung. Unsere Lebenserfahrung kann das, was hier sehr theoretisch klingt, nur bestätigen. Unordnung entsteht von selbst; um Ordnung zu machen, müssen wir freie Energie aufwenden. Auch im geschlossenen System Kinderzimmer wird die Entropie von selbst immer größer.









Vielleicht doch eher Aufstieg?






Dem Aufsatz über das »Grundgesetz vom Niedergang« in der Süddeutschen Zeitung widersprach einige Wochen später der Astrophysiker Peter Kafka mit einem ebenso ausführlichen Essay im selben Blatt unter der Überschrift Das Gesetz des Aufstiegs (7./8. Mai 1988) [Peter Kafka hat diesen Aufsatz inzwischen zu einem Buch erweitert, das unter dem Titel Das Grundgesetz vom Aufstieg. Vielfalt, Gemächlichkeit, Selbstorganisation: Wege zum wirklichen Fortschritt 1989 im Carl Hanser Verlag erschienen ist]. Der Widerspruch bezog sich allerdings weniger auf jene Gedanken im vorausgegangenen Aufsatz, die von der Ignoranz der Ökonomen handelten und von den unleugbaren Zeichen des Niedergangs; Kafka bestritt lediglich, daß der Niedergang einem Naturgesetz folge, also unvermeidlich sei und deshalb am besten mit Gleichmut hingenommen werden müsse. Wir müßten uns nicht »in philosophischen Pessimismus versenken« und »in Würde vor dem Unvermeidlichen resignieren«. Nicht das Entropiegesetz sei der Grund für den Niedergang, sondern die ganz gewöhnliche Dummheit, Trägheit und Gier sowie ein paar andere Todsünden. Das sei zwar schlimm genug, doch nicht unabänderliches Naturgesetz, sondern durch Einsicht zu beeinflussen.






Im weiteren schilderte Kafka den bisherigen Evolutionsprozeß seit dem Urknall, dem Zustand niedriger Entropie, bis zur Ausfaltung der Biosphäre und der menschlichen Existenz mit dem bisherigen Höhepunkt, dem freien Willen. Sei das nicht alles ein Aufstieg zu höherer Komplexität, größerer Vielfalt und zu mehr Ordnung – also ebenfalls zu immer niedrigerer Entropie? Der Widerspruch verschwindet, wenn man, wie Kafka selbstverständlich weiß, die antreibende Sonne bedenkt, die freie Energie zur Erde sendet, während in ihrem Inneren die Entropie zunimmt. Daß wir uns um diese Entropievermehrung, die noch 4 bis 5 Milliarden Jahre weitergehen kann, keine Sorgen zu machen brauchen, ist gewiß; das wurde im Aufsatz über das Grundgesetz des Niedergangs ebenso gesehen, wie es in diesem Buch anerkannt wird.






Ob das Schicksal des Kosmos unter einem Grundgesetz vom Niedergang steht, ist eine offene Frage für Astrophysiker und Philosophen. Daß der Entropiesatz, besser: das Entropieprinzip, für die Materie im geschlossenen System Erde wie ein Grundgesetz gilt, ist aber nicht zu bestreiten, und dem widerspricht Kafka auch nicht. Er bestätigt diesen Sachverhalt vielmehr ausdrücklich: »... was hilft es, daß unser Planet und seine Sonne in geologischen Zeiträumen Erzadern oder Öl- und Kohlelager schaffen können, wenn wir die ‚Treibstoffe‘ millionenmal schneller verpuffen, als sie entstehen, und all die wundersamen Elemente, in Müll oder Gift verwandelt, ins Meer leiten oder durch hohe Schornsteine in die Luft blasen und überm ganzen Land wieder herunterrieseln lassen? Wir beuten möglichst jede Abweichung vom thermodynamischen Gleichgewicht, die wir in unserer toten oder lebendigen Natur entdecken, sofort in der Hoffnung auf Vorteil aus, erzeugen dabei Entropie und stellen kurz darauf fest, daß dies im wesentlichen auch schon alles war, was wir erzeugt haben. Der erhoffte Vorteil wird durch die der Entropie entsprechende ‚Unordnung‘, also die an den eigenen Wurzeln angerichteten Schäden, weit überwogen. Was wir dabei an Geld ausgeben, auch für die Linderung der Schäden, zählen wir im Bruttosozialprodukt einfach alles zusammen, alles positiv, und nennen es die ‚Wertschöpfung‘ ... Wenn wir das gleiche tun wie bisher oder gar noch mehr davon, so muß es uns immer schlechter gehen, weil wir mehr Werte vernichten als schaffen. Das ist der Niedergang, den Christian Schütze meinte. Nur ein kleines Mißverständnis war dabei: Nicht die Zeit entwertet die Welt. Die Eile ist es!«






Dem kann der Autor zustimmen, doch sieht er kein Mißverständnis. Die Zeit entwertet die Welt langsam, die Eile beschleunigt die Entwertung. Eine natürliche Entropievermehrung vollzieht sich auch ohne menschliches Zutun in langen Zeiträumen. Mag sein, daß dieser Wertverlust durch die »Wertschöpfung« der Evolution aufgewogen oder überwogen wird. Vielleicht entfaltet das Grundgesetz nur in diesen Dimensionen seine unausweichliche Wirkung. Vielleicht ist der Begriff, der eben diese Unausweichlichkeit enthält, zu stark zur Beschreibung jenes Niedergangs in Biosphäre und Atmosphäre, der durch menschliches Handeln, zumal durch emsige Arbeit, ausgelöst wird. Mag sein, daß Dummheit und Gier hier die größere Rolle spielen als der Zweite Hauptsatz, daß also nicht ein Naturgesetz regiert, sondern die menschliche Natur mit ihren Fehlern. Doch bleibt die Kenntnis des Entropiesatzes, der doch immer mitwirkt beim Wirtschaften, als Schutz gegen Selbstbetrug und Illusionen wichtig.





Siehe auch


Kempfenhausener GesprächeRede von Christian Schütze



Peter KafkaDas Grundgesetz vom Aufstieg