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Bernd Senf
Die blinden Flecken der Ökonomie

Wirtschaftstheorien in der Krise

München 2001 (dtv); 303 Seiten; ISBN 3-423-36240-5








Wirtschaftstheorien werden nicht im luftleeren Raum entwickelt, sondern sie entstehen aus den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Die Ökonomie ist eben keine exakte Wissenschaft. Wie Bernd Senf überzeugend und allgemeinverständlich darlegt, versucht jede neue ökonomische Theorie die „blinden Flecken“ der vorangegangenen zu erhellen – der Marxismus war eine Antwort auf den Liberalismus, der Neoliberalismus reagierte auf den Keynesianismus. Doch anstatt die positiven Aspekte der „überholten“ Theorie zu integrieren und zu verbessern, wurden und werden diese oftmals radikal ausgeklammert, wenn ein allgemeingültiges neues ökonomisches Weltbild etabliert werden soll. So wird ein sich selbst erhaltendes System von blinden Flecken geschaffen, das von seinen Vertretern oft mit fast schon religiösem Eifer verteidigt wird – die Folgen können katastrophal sein, wie die Weltwirtschaftskrisen und die Börsencrashs der jüngsten Zeit zeigen. Bernd Senf zeigt die Stärken und Schwächen der einzelnen Theorien auf und entwirft eine undogmatische Synthese ihrer richtigen Erkenntnisse und deren Weiterentwicklung.


Bernd Senf


geboren 1944, lehrt seit 1973 als Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin. Von ihm sind u.a. erschienen: Politische Ökonomie des Kapitalismus (Berlin 1978), Der programmierte Kopf – Zur Sozialgeschichte der Datenverarbeitung (zusammen mit Peter Brödner und Detlef Krüger, Berlin 1981), Der Nebel um das Geld – Zinsproblematik, Währungssysteme und Wirtschaftskrisen (Lütjenburg 1996) sowie Die Wiederentdeckung des Lebendigen (Frankfurt am Main 1996).


Inhaltsverzeichnis


Einleitung: Ökonomie als neue Weltreligion






François Quesnay: Die Wirtschaftstheorie der Physiokraten – ein wissenschaftlicher Rettungsversuch des Feudalismus






Adam Smith: Der bürgerliche Liberalismus – die Botschaft vom allgemeinen wachsenden Wohlstand



Die Auflehnung des Bürgertums gegen die Feudalherrschaft – Elemente der klassischen Theorie – Licht und Schatten der Arbeitsteilung – Gewinn und Verlust: Zuckerbrot und Peitsche – Die klassischen Vorstellungen von der Funktionsweise der Marktmechanismen – Kapitalismus und Verelendung der Arbeiter






Karl Marx: Die soziale Krise des Kapitalismus und die Erschütterung der bürgerlichen Gesellschaft



Die Theorie der Entfremdung – Die historische Entstehung des Kapitalismus: die ursprüngliche Akkumulation – Die Mehrwerttheorie – Die blinden Flecken bei Marx






Menger, Jevons und Walras: Die Neoklassik – eine neue heile Welt der Ökonomie



Der ideologische Gegenschlag gegen den Marxismus – Das neoklassische Theoriegebäude – Mein Zweifeln an der Neoklassik – Von der Ökonomie zur Psychoanalyse: mein Zugang zu Freud und Reich – Wirtschaft gesund, Mensch krank – Die emotionale Blindheit der Neoklassik – Die neoklassische Blindheit gegenüber immanenten Krisen






Silvio Gesell: Freiwirtschaftslehre und natürliche Wirtschaftsordnung – weder Kapitalismus noch Sozialismus



Gesells Kritik an Marx – Die Problematik des Zinssystems – Die Lösung der Blockierung ist die Lösung – Die Blindheit der Freiwirtschaftslehre gegenüber der Natur






John Maynard Keynes: Weltwirtschaftskrise und die Revolution des ökonomischen Denkens



Das Theoriegebäude von Keynes – Die Keynessche Beschäftigungstheorie und -politik – Die blinden Flecken des Keynesianismus – Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Keynes und Gesell






Milton Friedmann: Die „monetaristische Gegenrevolution“ als Wegbereiter von Neoliberalismus und Globalisierung



Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und Inflationsgefahr in den USA – Monetarismus: der „monetäre Drogenentzug“ – Friedmanns Erklärung der Weltwirtschaftskrise – Die geldpolitischen Konsequenzen des Monetarismus – Monetarismus und Wiederauferstehung des Liberalismus – Monetarismus und Konfliktverschärfung






Gefahren der Globalisierung – eine Auswahl kritischer Bücher



James Goldsmith: Die Falle



Jeremy Rifkin: Das Ende der Arbeit



Hans-Peter-Martin und Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle



Maria Mies und Claudia von Werlhof: Lizenz zum Plündern – Das multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI)



Vivianne Forrester: Der Terror der Ökonomie



George Soros: Die Krise des globalen Kapitalismus


Leseprobe


Einleitung: Ökonomie als neue Weltreligion






Wirtschaftliche Sachzwänge bestimmen weite Bereiche unseres individuellen und gesellschaftlichen Lebens und setzen den Rahmen für die Gestaltungsmöglichkeiten von Politik. Wir haben uns daran gewöhnt, daß Entwürfe für gesellschaftliche Veränderungen immer erst die Nagelprobe der „ökonomischen Vernunft“ zu bestehen haben. Alles, was sich rechnet, hat in der Marktwirtschaft die Chance, realisiert zu werden, und dies um so eher, je größer die davon zu erwartenden Gewinne sind. Was dagegen Verluste bringt oder diese befürchten läßt, ist auf private oder öffentliche Unterstützung angewiesen und hat es ungleich viel schwerer – insbesondere in Zeiten, in denen die öffentlichen Mittel knapp geworden sind. Sogar die Chancen politischer Parteien bei demokratischen Wahlen hängen wesentlich davon ab, inwieweit ihnen die Wähler wirtschaftliche Kompetenz zutrauen.






Fast alles, was die Nagelprobe wirtschaftlicher Vernunft nicht besteht, wird als veraltet, unrealistisch oder utopisch an den Rand gedrängt und ausgegrenzt, als habe es in unserer Gesellschaft keine eigenständige Existenzberechtigung. Die „Gesetze des Marktes“ haben sich in ihrem Wirkungsbereich seit Jahrhunderten über Europa hinaus ausgedehnt – durch Fernhandel, Kolonialismus und die Entfaltung des Weltmarktes. Aber es gab immer noch große Teile der Erde, die von diesen Gesetzen nicht erfaßt waren oder sich ihnen widersetzt hatten. Das gilt nicht nur für die sozialistischen Systeme, in denen sich über Jahrzehnte hinweg keine tragfähige Alternative entwickelt hat und die in jüngster Zeit (mit wenigen Ausnahmen) zusammen- bzw. auseinandergebrochen sind; es gilt auch für die Gesellschaften und Lebensformen, die weitgehend unserem Blick und unserem Bewußtsein entrückt sind, aber in früheren Zeiten die wesentliche Existenzgrundlage und Lebensform der Menschen darstellten: die sich selbst versorgenden Gemeinschaften, die sogenannten „Subsistenzwirtschaften“.






Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaften scheint nun der Weg endgültig frei, dem Glauben an die Segnungen der Marktwirtschaft unter dem Begriff der „Globalisierung“ weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Diejenigen Teile der Welt, die von den Gesetzen des Marktes noch ganz oder weitgehend unberührt geblieben sind, werden immer kleiner. Waren es früher Armeen, mit denen andere Länder und Kontinente erobert und unterworfen wurden, so sind es inzwischen Unternehmen und Konzerne, die weltweit neue Märkte erobern. Diese Prozesse haben sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt, und über Jahrhunderte hinweg gab es und gibt es auch eine Wissenschaft, die diese Prozesse beschreibt, legitimiert, mit vorantreibt und diskutiert: Gemeint sind die Wirtschaftswissenschaften, die immer wieder mit dazu beigetragen haben, wirtschaftliche Realität zu gestalten, zu legitimieren und die Welt auf die eine oder andere Weise umzuformen.






Ihr Anteil an diesen Umformungsprozessen ist den wenigsten Menschen bewußt, und für die meisten ist er auch viel zu undurchsichtig, um ihn begreifen zu können. Während sie auf der einen Seite den Gesetzen des Marktes und ihren Folgen selbst unterworfen sind, vertrauen die meisten Menschen denjenigen, die diese Gesetze formuliert oder legitimiert haben, und den Instanzen, die deren Durchsetzung erzwingen. Denn all dies geschieht ja erklärtermaßen zum besten aller. Die Ökonomen haben hierfür einen Fachausdruck: Sie sprechen von der „optimalen Allokation der Ressourcen“ und meinen damit die denkbar beste Verwendung der Ressourcen – im Sinne bestmöglicher Befriedigung menschlicher Bedürfnisse.






Der Glaube an die ökonomische Vernunft ist längst zu einer neuen Weltreligion geworden, nachdem die alten Religionen – jedenfalls in unseren Breiten – mehr und mehr an Überzeugungskraft und Akzeptanz verloren haben. Nur wird diese neue Weltreligion nicht in den Kirchen gepredigt, sondern in den Universitäten und Fachhochschulen; und die Quintessenz ihres Glaubens ist längst eingeflossen in die Schulbücher, in die Massenmedien und in das Denken und Handeln von Politikern und Gewerkschaftlern. Und jeder weiß: wer die Gesetze des Marktes verletzt oder sich ihnen widersetzt, hat Schlimmes zu befürchten. Die Strafe folgt auf dem Fuße, und zwar nicht erst im Jenseits, sondern schon auf Erden: Das Unternehmen macht Konkurs, die politische Partei verliert die Wahlen, die Gewerkschaften verlieren ihre Mitglieder, und der einzelne Lohnabhängige oder Wissenschaftler verliert seinen Arbeitsplatz – mit Ausnahme weniger Nischen, in denen abweichendes Denken und Verhalten sozusagen als Narrenfreiheit noch geduldet wird.






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Innerhalb der Wirtschaftswissenschaft hat es über Jahrhunderte hinweg immer wieder heftige Glaubenskämpfe gegeben, es haben sich Hauptströmungen herausgebildet, von denen mal die eine und mal die andere die Oberhand gewonnen hat, aber auch „ketzerische“ Nebenströmungen, die mehr oder weniger ausgegrenzt wurden. Kennzeichnend für die verschiedenen Richtungen der Ökonomie scheint mir bisher gewesen zu sein, daß sie jeweils auf einem Auge sehend, auf dem anderen aber blind waren. Oder anders ausgedrückt, daß ihr Blick für die Realität mehr oder weniger – und auf unterschiedliche Weise – durch verschiedene blinde Flecke getrübt war.






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Nur offene Systeme sind langfristig lebens- und überlebensfähig, geschlossene und starre Systeme gehen an ihrer eigenen Starrheit zugrunde. Das gilt auch für Denksysteme, insbesondere, wenn sie – wie die Ökonomie – den Anspruch haben, die Lebensgrundlagen auf dieser Erde langfristig sichern zu helfen. Denn was sonst sollte gemeint sein mit der „optimalen Allokation der Ressourcen“? Es kann doch eigentlich nur darum gehen, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Geschöpfe dieser Erde möglichst weitgehend in ihr Entfaltungspotential hineinwachsen können, zu möglichst voller Blüte und Reifung sich entwickeln können: Männer wie Frauen, Kinder wie Alte, Schwarze wie Weiße, Rote wie Gelbe, Stämme wie Völker, Tiere wie Pflanzen, Himmel wie Erde. Kurz, daß der lebende Organismus Erde, der in den letzten Jahrhunderten durch die industrielle Entwicklung und verstärkt in den letzten Jahrzehnten immer mehr geschädigt worden ist, in allen seinen Teilen wieder gesunden kann.






Die Schaffung einer insoweit heilsamen, naturverträglichen Ökonomie wird eine wesentliche und notwendige Voraussetzung für einen globalen Heilungsprozeß und für eine Heilung des krank gewordenen sozialen Organismus der Industriegesellschaft sein. Um auf diesem Weg voranzukommen, müssen wir uns auch der blinden Flecken der Ökonomie bewußt werden, damit wir sie überwinden können. Und weil die Lösung dieser Aufgabe am wenigsten von denen zu erwarten ist, die in ihrer eigenen Blindheit gefangen sind, bedarf es vor allem auch der ganz normalen Menschen, der Nicht-Experten, die vielfach noch offener für neue und erweiterte Sichtweisen sind. An sie vor allem richtet sich dieses Buch. Nach nunmehr über dreißig Jahren beruflicher Beschäftigung mit Wirtschaftswissenschaft habe ich nicht nur das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes, sondern auch in die Selbstheilungskräfte der Ökonomie als Wissenschaft gründlich verloren.






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Gefahren der Globalisierung – eine Auswahl kritischer Bücher






Die stürmische Entwicklung der Globalisierung der Märkte wird von großen Teilen der Gesellschaft wie ein unabwendbares Naturereignis hingenommen. Selbst die Gewerkschaften erstarren angesichts der Globalisierungstendenzen und des vom Weltmarkt ausgehenden verschärften Konkurrenzdrucks überwiegend wie das Kaninchen vor der Schlange und sind in ihrer Handlungsfähigkeit wie gelähmt oder passen sich mehr oder weniger kleinlaut den scheinbar unvermeidlichen Zwängen an, die von diesen Entwicklungen ausgehen. Aber auch wenn die globalen Finanzströme mittlerweile wie Orkane über ganze Länder und Erdteile hinwegfegen und Überschwemmungen an den Finanzmärkten herbeiführen, während andere Teile der Welt in finanzielle Dürrekatastrophen stürzen, handelt es sich nicht um Naturkatastrophen, sondern wesentlich um das Ergebnis weltweit durchgesetzter neoliberaler Politik in den letzten 20 Jahren: das Ergebnis einer dadurch immer deutlicher zutage tretenden Dynamik eines entfesselten Kapitalismus, der hemmungslos seinen immanenten Zwang nach exponentiellem Wachstum des Kapitals auslebt, wenn es sein muß auch gegen die vitalen Interessen von Menschen, Völkern und der gesamten Natur. Die „Globalisierung der Märkte“ ist nur ein Deckname für die Globalisierung der Kapitalherrschaft, für die Weltherrschaft des Kapitals.






Erst allmählich beginnt eine öffentliche Diskussion und Bewußtwerdung über die Ungeheuerlichkeit und Destruktivität dieses Prozesses und über die höchst fragwürdige Rolle der Politik der meisten Regierungen in der Ersten, Zweiten und Dritten Welt, die sich zu Erfüllungsgehilfen von Kapitalinteressen haben machen lassen und dabei den sozialen, ökologischen und kulturellen Gestaltungsspielraum von Politik immer mehr preisgegeben haben.






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Siehe auch


Buchbesprechung auf www.berndsenf.de


English


http://portland.indymedia.org/en/2002/10/30654.shtml