Autoren
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Thea
Bauriedl, geb. 1938, Priv. Doz., Dr. phil.,
Diplom-Psychologin; psychoanalytische Beiträge zur Friedens-
und Konfliktforschung; Herbert Begemann,
geb. 1917, Prof., Dr. med; Mitbegründer der deutschen
Sektion der „Internationalen Ärzte für die
Verhinderung des Atomkriegs (IPPNW)“ und der Münchner
Ärtzteinitiative „Medizin und öffentliche
Verantwortung“; Willi Butollo,
geb. 1944, Prof., Dr.; Psychologe, Vorstand des Instituts für
Psychosomatik und Somatopsychologie in München;
Hans-Peter Dürr,
geb. 1929, Prof., Dr.; Physiker, Direktor am
Werner-Heisenberg-Institut für Physik des
Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik in München;
Heiner Dürr, geb. 1940, Prof. am Geographischen
Institut der Technischen Universität München;
Helga Einsele,
geb. 1910, Leiterin der Frauenstrafanstalt in Frankfurt/Main,
Honorarprofessur, Auszeichnung für Bemühungen um die
Humanisierung des Strafvollzugs; Rainer Fuchs, geb.
1915, Prof., Dr.; Fachrichtungen: Psychologie, Pädagogik,
pädagogische Soziologie; Wilhelm Hankel,
geb. 1929, Prof., Dr.; Fachrichtung: Entwicklungs- und
Währungspolitik, Präsident der Hessischen Landesbank;
Peter Kafka,
geb. 1933, Diplom-Physiker am Münchener Max-Planck-Institut
für Physik und Astrophysik; Dietrich Krusche,
geb. 1935, Prof., Dr.; Fachrichtungen: Germanistik, klassische
Philologie; Horst-Eberhard Richter,
geb. 1923, Prof., Dr.; Fachrichtung: Psychosomatische Medizin;
Dieter Senghaas,
geb. 1940, Prof., Dr.; Fachrichtungen: Politikwissenschaft,
Soziologie, Geschichte, Philosophie; Dorothee Sölle,
geb. 1929, Prof., Dr.; Fachrichtungen: Klassische Philologie,
Philosophie, Theologie, Germanistik; Jürgen Wertheimer,
geb. 1949, Dr. phil. habil.; Fachrichtung: Neuere deutsche
Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft;
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Von
welchem Bezugspunkt aus ließe sich das wachsende Engament
vieler Wissenschaftler deuten, das sich gegen den
Wettrüstungswahnsinn, den Schwachsinn einer exzessiven
NaturVernutzung richtet und für eine friedliche, angstfreie,
vom Konsum- und Technologie-Mythos befreite Welt streitet? Diese
Frage stellte sich dem Herausgeber, als er nach einer
inhaltlichen Klammer für die ausgewählten Beiträge
aus der interdisziplinären Vorlesungsreihe »Wissenschaft
und Friedenssicherung« suchte. Zwar bekümmern sich die
unter Federführung von Hans-Peter Dürr an der Münchener
Universität öffentlich Vortragenden in erster Linie um
die Bedingungen des Friedens und bringen die Erkenntnisse ihrer
Fachdisziplin in die Debatte ein. Sichtbar wurde aber dabei, daß
eine befriedete menschliche Weltgesellschaft einen tiefgreifenden
Bewußtseinswandel, eine radikale Umkehr und auch
Rückbesinnung des Denkens voraussetzt, weil sonst der
vorherrschende »Wille zum Willen« in einem atomaren
Lichtblitz oder einem ökologischen Desaster zu enden
droht.
Damit also das Erbe der Menschheit nicht verspielt
wird, ist radikales, das heißt an die Wurzeln gehendes
Denken gefragt, dessen abendländische Tradition rund
zweieinhalb Jahrtausende zurückreicht und mit Sokrates
ihren Anfang nahm, als dieser den bis dahin gültigen
Bewußtseinsrahmen sprengte.
Sokrates ging es nicht
um technisch verwertbares, instrumentelles Wissen, sondern um
eine kompromißlose Ethik des menschlichen Verhaltens als
Voraussetzung eines gewaltfreien, guten, gerechten und schönen
Lebens. Dieses Erbe des Sokrates, nämlich Mäßigung
als Basis friedlichen Lebens, kann hier als Schlüsselbegriff
gelten, um die Intentionen der abgedruckten Beiträge aus dem
interdisziplinären Dialog zu charakterisieren.
So
schwierig die Abgrenzung zwischen dem authentischen Sokrates und
den Interpretationen und Aussagen Platons, der wichtigsten
Sokrates-Quelle, auch ist, die Wirkung dieses Geistesheroen
bleibt davon unberührt. Seine Gestalt gewinnt angesichts
globaler Katastrophen eine neue und dramatische
Dimension.
Sokrates, der in den Zeugnissen seiner
Zeitgenossen und Schüler, vor allem aber in den von Platon
verfaßten Dialogen, fortlebt, stellte ungewöhnliche,
bis zu diesem Zeitpunkt in dieser Form noch nie gehörte
Fragen. Er rief den Menschen ins Bewußtsein, was sie
wußten, und vor allem, was sie nicht wußten. Mit
seinem radikalen Fragen »Was ist dies?«, seinem
Suchen nach einer schlüssig begründeten Antwort, ist er
Ursprung einer Idee der Wissenschaft als Wissenschaft, wie sie
dann von Platon und Aristoteles ausformuliert und
weiterentwickelt worden ist.
Getrieben von der Kraft des
Logos, suchte Sokrates nach dem erkennbaren Sinn des Guten, den
es zu erfassen und zu befolgen gilt. Dabei scherte er sich weder
um vorherrschende Meinungen noch um Bedenken seiner engsten
Freunde und zog in seiner unbequemen Art den tödlichen Haß
entlarvter Bürger und Obrigkeiten auf sich. Es war nahezu
zwangsläufig, daß der Machtapparat sich zur Wehr
setzte und auch vor einem Justizmord nicht zurückschreckte.
Sokrates wird im Alter von 70 Jahren als »Volksverführer«
angeklagt (kriminalisiert) und schließlich zum Tode
verurteilt. Eine Konsequenz, die er in keinem Augenblick
fürchtet. Er findet sogar noch positive Argumente für
das Sterben an sich und erkennt, daß der Tod so
fürchterlich nicht sein kann, wie dies – auch heute
noch – viele Menschen behaupten.
Angesichts des
Todes verrät der Verurteilte seine Überzeugung nicht.
Es gibt für ihn kein Opportunitätsdenken, keine Liaison
mit der Macht. Er unterwirft sich keinem Befehl und läßt
sich nur von seinem Logos leiten. Wenn der Tod als Drohung die
Münze der Macht ist (Elias Canetti in seinem Werk ›Masse
und Macht‹), dann sammelt Sokrates in diesem
Gesellschaftsspiel kein Kapital, sondern nimmt der Macht ihren
giftigen Stachel.
Heute, 2500 Jahre später, hat das
Fortschreiten der Menschen in der Wissenschaft zu einer
zerstörerischen Verstrickung zwischen Macht und Wissen
geführt. Rainer Fuchs zeigt in seinem Beitrag, wie
schwierig es für nach Frieden suchende Forscher selbst in
einer historisch günstigen Situation gewesen ist, der
herrschenden Macht das erworbene Wissen vorzuenthalten oder nur
bedingt verfügbar zu machen. Inzwischen ist bekannt, wie
vergeblich alle derartige Versuche bisher geblieben sind. Die
Bomben und Raketen sind da, und ihr vernichtendes Potential wird
täglich erhöht.
Den Ernst der Lage verdeutlicht
der Physiker Hans-Peter Dürr. Obgleich der
gefährliche Unsinn des von US-Präsident Reagan
gewollten SDI-Konzeptes (Strategic Defence Initiative) leicht
erkennbar ist, sind dafür bereits riesige Geldsummen
mobilisiert worden, damit sich viele hochqualifizierte
Wissenschaftler an diesem Rüstungsprojekt verschwenden. Die
verheerenden Folgen dieses Handelns werden verdrängt. »Was
ist das Gute, was ist das Wahre?« Diese zwei einfachen und
wesentlichen Fragen, von Sokrates erstmals gestellt, müßten
genügen, um derartige Hybris aufzudecken und zu stoppen –
wenn die Rüstungsforscher dies wollten,und bereit wären,
ihren bequemen Weg zu verlassen.
Von der korrumpierenden
Wirkung der Macht bleibt offenbar kaum jemand verschont. In ihr
Intrigenspiel sind auch die Ärzte eingesponnen, wie Herbert
Begemann aufzeigt. Sie müssen um Rückbesinnung auf
eine Ethik kämpfen, die ihnen das Mitmachen bei der
Militarisierung der Medizin verwehrt. Wie konnte es zu dieser
unfriedlichen Entwicklung kommen?
Bei Sokrates ist der
Frieden, wie wir ihn innerhalb und außerhalb von uns selber
so dringend herbeisehnen, in jeder Wortsilbe präsent.
Ausdrücklich bekennt er sich zum Prinzip der Gewaltlosigkeit
und zur Feindesliebe (›Kriton‹). Seine Zeitgenossen
rühmen die Anspruchslosigkeit, den Konsumverzicht und die
kontemplative Haltung (›Gastmahl‹, ›Memorabilien‹)
des Denkers, der seine Kräfte durch Enthaltsamkeit
regeneriert.
Macht- und Konsumverzicht sind auch
unabdingbare Voraussetzungen zur Befriedung der Dritten Welt,
worauf Heiner Dürr deutlich aufmerksam macht. Ohne
ethische Besinnung und die radikalen Fragen »Was ist das
Gute, was ist das Wahre?« wird es früher oder später
auf der ganzen Welt kaum noch befriedete Räume geben. Auch
eine Weltfriedenssicherung mit Hilfe einer Reform des
Weltwährungssystems, wie sie Wilhelm Hankel in seinem
Vortrag entwickelt, wird ohne ein Um-Denken (auch Um-Verteilen)
nicht zu verwirklichen sein. Wie sehr die Machtfrage die Politik
des 20. Jahrhunderts bestimmt – und damit die Chancen des
Friedens –, ist der Analyse von Dieter Senghaas
unschwer zu entnehmen.
Woher also kann Rettung kommen? Von
den Machteliten wohl kaum. Den Politikern als exponierten
Machthabern oder -kontrolleuren traute schon Sokrates nicht über
den Weg. Er entlarvte sie als gefährliche Ignoranten, die
zwar vielen Menschen – und am meisten sich selber –
Weisheit zuschreiben, die sie jedoch keineswegs besitzen. Die
rhetorischen Klimmzüge der Staatsmänner enttarnt er als
Show, die dem Volk gefallen soll.
Selbst auf die Literatur
ist kaum zu zählen, wenn es um den inneren und äußeren
Frieden geht, worauf Jürgen Wertheimer warnend
hinweist. Die Ästhetik der Gewalt läßt sich
zunehmend besser vermarkten, während die Ästhetik des
Widerstandes und des aufrechten Ganges in den Bücherregalen
und Erinnerungen verblaßt. Dietrich Krusche schlägt
vor, den Frieden als das Fremdeste zu suchen – ein gewagter
Versuch, angesichts der Angst allzu vieler Menschen vor allem
Fremden und Neuem, also vor Veränderung.
Die
Angstlösung, wie sie Willi Butollo als Modell für
den inneren und äußeren Frieden vorschlägt,
berührt daher ein Kernproblem. Wie setzen wir uns in den
Stand, daß wir tatsächlich friedensfähig werden –
wie entschärft jeder einzelne seinen eigenen ›Spreng-Kopf‹?
Folgerichtig greift Horst-Eberhard Richter den
Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und politischem
Bewußtsein auf. Denn ohne inneren Frieden wird es keinen
äußeren geben! Deshalb ist auch die Frage, die Thea
Bauriedl aufwirft, ob der einzelne die Gesellschaft verändern
kann, in jeder Hinsicht von zentraler Bedeutung. Die Antwort ist
eindeutig: Der einzelne kann verändern, wenn er sich
ändert, und Änderungshilfen bietet die Psychotherapie,
insbesondere deren prozeßhafte Betrachtungsweise.
Es
gibt Beispiele, wie einzelne die Gesellschaft verändert
haben. Helga Einsele hebt die Beiträge von Frauen zur
Friedenssicherung hervor. Dorothee Sölle bringt den
Friedensbeitrag von Jesus Christus in die Debatte ein, der durch
den römischen ›Gewaltfrieden‹ bis heute
pervertiert worden ist.
Ein Vergleich drängt sich auf
zwischen Sokrates und Christus. Beide starben für ihre
Wahrheit, beide stifteten Unruhe in der Gesellschaft, und beide
sind auch heute noch in der Menschheitsgeschichte präsent.
Ohne Scheu begreift sich Sokrates als Werkzeug Gottes. Sowohl an
dem Athener als auch am Nazarener entzündeten sich die
Menschen, und beide verlangten radikale Einsichten. Griechische
Kirchenväter und italienische Humanisten sehen beide
Heils-Botschafter gar in einer Person. Woher kommt heute das
Heil?
Der Athener Sokrates richtet eine ›christologische‹
Aufforderung an alle Menschen, die hören können und
guten Willens sind: Die Wahrheit wird euch frei machen! Die
Heils-Gewißheit kommt also aus dem Menschen selber. Die
heute von vielen besorgten Wissenschaftlern geforderte Änderung
des Bewußtseins – sie ist bereits vor 2500 Jahren
beispielhaft geworden; Weisheit und Mäßigung kommen
aus dem Logos: »Was ist das Gute, was ist das Wahre?«
Die
Freiheit des Menschen besteht in seiner Wahlmöglichkeit
zwischen der Freiheit der Verantwortung und der Unmündigkeit
des verantwortungslosen Bösen (Erich Fromm). Der bequemen
Flucht aus der Verantwortung zu entgehen (auch der Verantwortung
für die Folgen), den Mut zu haben, sich seines eigenen
Verstandes zu bedienen (»Sapere aude«), eine
Revolution der schöpferischen Vernunft zu wagen, dies
beschreibt einen grundlegenden Bewußtseinswandel, wie ihn
bereits zu seiner Zeit Sokrates vorweggenommen hat und der dann,
im Zuge der schier unbegrenzten Manipulierbarkeit der Natur,
untergegangen ist – so wie die Pax Christi in der Pax
Romana unterging.
Sokrates, der Monotheist, wendete seinen
Logos gegen den Götterglauben und brachte damit den
griechischen Olymp zum Einsturz. Aber er glaubte an Gott und an
den Menschen als Individuum. Für die derzeit grassierende
apokalyptische Verzerrung des Endzeitdenkens hätte er kein
Verständnis gehabt. Die Suche nach dem verlorenen Paradies
ist auch für den Athener die Suche nach dem göttlichen
Selbst im Menschen, für das es keines atomaren Infernos,
keiner Öko-Katastrophe und keiner Gurus oder Heilsführer
bedarf, sondern der Wahrheit durch Erkenntnis, zu der jeder
Mensch fähig ist.
Zur Beantwortung der Frage, ob sich
Frieden organisieren läßt, schlägt Peter Kafka
vor, die soziale Organisation in kleine, überschaubare
Einheiten zu überführen. In diesem Vorschlag stecken
sokratische Elemente, weil dieses Konzept notwendigerweise auf
mündige Menschen baut. Auch hier erweist sich das Erbe des
Sokrates einmal mehr als nichteingelöste Verpflichtung.
Warum blieben wir von der Hellskraft des Logos so unberührt,
so wenig entflammt?
»Unergründlich bin ich und
bringe es dahin, daß die Menschen nicht mehr weiter
wissen«, sagt Sokrates von sich selber. Er bringt die
Menschen dahin, daß sie sich selber ent-täuschen und
sehen können, so daß sie sich aus der tödlichen
Falle befreien, in der sie sich gegenseitig – durch alte
und moderne Täuschungen und Selbsttäuschungen –
gefangenhalten.
Der über-lebensnotwendige
Bewußtseinswandel, der große Friede: Dies bedeutet
auch ein Zusammenspiel der Menschen, ein Zusammenführen
abgetrennter Einzelwissenschaften in Versöhnung und Toleranz
und dem Wissen darum, daß jedes neue Wissen mit Fehlern
behaftet und somit nur vorläufig ist und revidierbar sein
muß. Wie könnte dem Erbe des Sokrates besser
entsprochen werden, als in einem interdisziplinären Dialog,
wie er seit dem Wintersemester 1983/84 an der Münchener
Ludwig,-Maximilians-Universität versucht wird. Die in diesem
Band abgedruckten Gedanken aus dieser öffentlichen
Vorlesungsreihe »Wissenschaft und Friedenssicherung«
sind aus Platzgründen nur eine sehr begrenzte Auswahl, die
versucht, den Charakter dieses Dialogs widerzuspiegeln. Es soll
alle Beteiligte und Betroffene ermutigen, die Frage nach dem
Wahren und Guten erneut aufzugreifen und genauer, konsequenter zu
beantworten, als dies bisher geleistet worden ist. Dem
interdisziplinären Dialog ist einschneidende Wirkung zu
wünschen, damit das Erbe – unser aller Erbe –
nicht verschleudert wird.
Frühjahr 1986, Rudolf
Steinmetz
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