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Claudia Kemfert, Julien Gupta, Manuel Kronenberg (Hrsg)
Unlearn CO2
Zeit für ein Klima ohne Krise

Berlin 2024 (Ullstein); 332 Seiten; ISBN 978-3-550-20298-8

Das fossile System bröckelt. Ein Klima ohne Krise ist in Reichweite. Was es jetzt braucht: dass wir endlich unsere Abhängigkeit von CO2 verlernen – und zwar in allen Bereichen unseres Lebens. Denn das Treibhausgas steckt nicht nur in Gasheizungen und den Tanks unserer Autos. Es hat sich fest in unseren Vorstellungen von einem guten Leben eingenistet und bestimmt unseren Alltag: was wir morgens anziehen, warum wir arbeiten und wie wir abends essen. Die gute Nachricht: Die Lösungen für ein Zusammenleben ohne Ausbeutung von Mensch und Planet liegen längst auf dem Tisch, darunter: kürzere Arbeitszeiten, Klagen gegen fossile Konzerne, Empowerment von Frauen und das Zulassen von Klimagefühlen.

In diesem prominent besetzten Sammelband präsentieren Beitragende aus Wissenschaft und Praxis, Journalismus und Aktivismus vielfältige Lösungen, mit denen wir das fossile System überwinden können. In konstruktiven und fachlich fundierten Essays zeigen sie Wege in eine klimagerechte Zukunft. (Verlagstext)

HERAUSGEBER
Claudia Kemfert ist die wichtigste deutsche Wissenschaftlerin für Energie- und Klimaökonomie. Seit 2004 leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit. Sie ist eine mehrfach ausgezeichnete Spitzenforscherin, gefragte Expertin für Politik und Medien und Bestsellerautorin.

Julien Gupta lebt und arbeitet in Berlin als Autor und Journalist. Mit Team Zukunft rief er den ersten publizistischen Newsletter der taz ins Leben.

Manuel Kronenberg arbeitet als Autor und freier Reporter für Medien wie Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und DATUM. 2021 gründete er zusammen mit Julien Gupta den Newsletter Treibhauspost.

INHALTSVERZEICHNIS
intro

unlearn verdrängung – Katharina van Bronswijk
Was steckt hinter Klimaleugnung? • Wozu all die Gefühle? • Was unsere Gefühle mit der Klimakrise zu tun haben • Krisenmüdigkeit • Unlearn Krisenmüdigkeit

unlearn ernährung – Sophia Hoffmann
Was Essen mit Empathie zu tun hat • Pflanzliche Alternativen zu klimaschädlichen Tierprodukten • Pflanzen für alle • Luxusbananen und faire Bohnen • »Privilege comes with the duty to lift others up« • Wertschätzung statt Überfluss • Low waste in der Gastronomie • Lasst uns empathisch sein

unlearn ableismus – Andrea Schöne
Wie die Klimakrise in mein Leben trat • Was bedeutet Öko-Ableismus? • Barrierefreiheit und der öffentliche Nahverkehr • Innovation statt Verbote • Politische Beteiligung behinderter Menschen • Warum die Flutkatastrophe im Ahrtal menschengemacht war • Inklusiver Katastrophenschutz • Mehr behinderte Menschen in der Forschung nötig • Inklusive Forschung muss auch den globalen Süden berücksichtigen

unlearn medien – Julien Gupta & Manuel Kronenberg
Zwischen Leugnung und Klimaangst • Die fünf großen Missverständnisse in der Klimaberichterstattung • Es war einmal: Fossile Märchen • Das, dessen Name nicht genannt werden kann • Geschichten ohne Helden • Vorbei am Klima-Türsteher

unlearn recht – Alexandra Endres & Roda Verheyen
Die planetaren Grenzen respektieren • Eine Grenze, die die Freiheit schützt • Ein juristisches Vakuum tut sich auf • Vorrang für das Wirtschaftswachstum • Neue Ideen für ein klimafestes Rechtssystem • Wie das Recht CO
2 heute schon verlernt

unlearn automobilität – Katja Diehl
Ist das Auto das richtige Symbol für Freiheit? • Wir brauchen eine neue Definition für Freiheit • Das Auto ist im Emissionsranking ganz vorn • Autosubvention versus Mobilitätsgerechtigkeit • Milliardenschwere falsche Anreize • Antriebswende ist nicht gleich Verkehrswende • Wie viel kostet uns das Auto wirklich? • Urbane Zentren – Lebensqualität ohne Autos • Suburbane Räume – mit dem Fahrrad erschließen • Ländlicher Raum – auch ohne Auto mobil • Freiheit vom Auto – Traum oder Wirklichkeit?

unlearn wachstum – Claudia Kemfert
Wirtschaftswachstum – ist das nicht etwas Gutes? • Effizienz – einfach dasselbe in Grün? • Suffizienz – oder doch besser schrumpfen? • Konsistenz – und was, wenn sich alles im Kreis dreht? • Effizienz, Suffizienz, Konsistenz – das visionäre Kombipaket • BIP – wie messen wir eigentlich wirtschaftliches Wachstum? • Trotz aller Kritik – das BIP kann bleiben, nur nicht ganz allein • Woran wir Wohlstand und Wohlfahrt festmachen könnten • Der Markt regelt das – wenn wir den Marktrahmen regeln

unlearn mode – Nina Lorenzen
Fast Fashion killt das Klima • Mode und Klima • Die Auswirkungen der Klimakatastrophe auf die Produktionsländer • Wie Greenwashing echte Klimamaßnahmen verhindert • Die Entstehung von Fast Fashion und Ultra Fast Fashion • Die Demokratisierung der Mode • Mit Individualkonsum die Welt retten? • Systematisches Outsourcing von Verantwortung • Wie fair kann Mode wirklich sein? • Mode als Vehikel für positive Transformation • Unsere Forderung: Verantwortung per Gesetz • Fast Fashion is out of fashion • Die Kraft der Mode nutzen

unlearn desinformation – Stefan Rahmstorf
Die Erderwärmung durch Treibhausgase ist unumstrittene Physik • Die Erwärmung im Kontext der Erdgeschichte • Was könnte Entwarnung bedeuten? • Die ExxonMobil-Kampagne • Zweifel als Produkt • Kampf gegen die »Hockeyschläger-Kurve« • Gefälschte Paläoklima-Grafiken • Kleine Typologie der Wissenschaftsleugnung • Die Rolle der Medien • Vom Leugnen zur Verzögerungstaktik • Was wir tun können

unlearn arbeit – Sara Weber
Schluss mit der Hustle-Kultur • Weniger arbeiten fürs Klima • Wie nachhaltig ist Remote Work? • Wen die Klimakrise besonders trifft • Gemeinsam für mehr Klimagerechtigkeit • Jeder Job wird zum Klimajob • Was jetzt?

unlearn wetter – Özden Terli
Extremes Wetter für Zehntausende Jahre • Kommen wir zum Wetter • Gefährliches Wetter ist harte Realität • Meteorologie und ihre Kritiker • Können wir uns vor den Klimafolgen schützen? • In welcher Welt wir leben werden

unlearn patriarchat – Sheena Anderson & Kristina Lunz
Patriarchat – die Beherrschung von Frau und Natur • Klimawandel als Verstärker von Ungerechtigkeit • Die Klimakrise betrifft nicht alle gleich • Unzureichende Lösungsansätze • Sicherheitspolitik funktioniert nicht ohne Klimapolitik • Macht und Sicherheit • Klimapolitik international – die Weltklimakonferenz • Eine Frage von Klimagerechtigkeit • Die Lösung: Feministische Politik auf allen Ebenen

unlearn energie – Andreas Schmitz
Alles fing an mit fünf Watt • Umzug ins Haus – Energiesorgen ade • Kraftwerke auf dem Balkon • Die Petition • Brücken bauen

unlearn gesundheit – Eckart von Hirschhausen
Wir müssen Umwelt und Gesundheit zusammendenken • Von persönlicher zu planetarer Gesundheit • Die Überhitzung wirkt sich konkret auf unsere Gesundheit aus • Warum es jetzt richtungsweisende politische Entscheidungen braucht • Die Planetary Health Diet • Dem Ruf der Natur folgen • Gesunde Erde, gesunde Menschen

anmerkungen
die autor*innen

LESEPROBE
intro

Vielleicht kennst du dieses Gefühl der Frustration – darüber, dass die Menschen es schon seit Jahrzehnten besser wissen, aber noch immer den Planeten aufheizen, indem sie Kohle, Öl und Gas verbrennen und Wälder abholzen. Wir kennen es nur zu gut. Manchmal scheint es, als würden wir beim Klimaschutz auf der Stelle treten oder sogar rückwärtsgehen. Doch der Schein trügt. Klar, der Wandel geht oft noch viel zu langsam voran. Gleichzeitig wird aber schon heute in vielen Bereichen an Lösungen gearbeitet. Uns macht es immer wieder Hoffnung, zu sehen, wie viele Menschen mit Leidenschaft und Know-how anpacken und Tag für Tag an einer besseren Zukunft arbeiten. Denn dann wird deutlich, dass eine klimagerechte Welt zum Greifen nah ist.

Genau darum geht es in diesem Buch. Es zeigt, dass Veränderung nicht nur möglich ist, sondern längst passiert. Wir sind davon überzeugt, dass wir uns alle, wann immer möglich, diese Geschichten des Wandel erzählen müssen. Denn dann erscheinen die Aufgaben, die vor uns liegen, plötzlich viel leichter. Auch deswegen bringen wir dieses Buch heraus. Es ist, wenn du so willst, dein Kompass für den Weg aus der Frustration.

Mit diesem Sammelband wollen wir zeigen, in wie vielen Bereichen effektive Klimalösungen heute schon umgesetzt werden – von Mobilität über Mode und Psychologie bis hin zu Gleichberechtigung. Dafür haben wir einige der spannendsten Autor*innen aus Aktivismus, Wissenschaft und Journalismus gewinnen können. Sie alle teilen ihr Wissen, ihre Erkenntnisse und Erfahrungen und machen deutlich, wie wir alte fossile Gewohnheiten durchbrechen und unsere Abhängigkeit von CO2 endlich verlernen und aufgeben können. Die Autor*innen zeigen, dass zu einer klimagerechten Welt neben erneuerbaren Energien noch ganz andere, oft überraschende Lösungen gehören, zum Beispiel eine Reduzierung der Arbeitszeit, der Kampf gegen Desinformation oder ein Rechtssystem, in dem wir Konzerne für ihre Emissionen per Gerichtsurteil zur Kasse bitten können.

In ihren konstruktiven Beiträgen verdeutlichen die Autor*innen, dass Klimaschutz kein großer Berg an Aufgaben ist, den wir alle einzeln mit nachhaltigem Konsum und viel Disziplin erklimmen müssen. Der Weg führt vielmehr über kollektive und systemische Ansätze. Die Texte machen Lust auf Veränderung und führen uns vor Augen, wie viel heute schon getan wird, um die Welt zu einem lebenswerteren und gesünderen Ort zu machen.

Aber warum
Unlearn CO2? Was meinen wir mit diesem Titel? Das „CO2“ ist ein Sinnbild für die Klimakrise. Denn CO2 ist der weltweite Maßstab für die Klimawirkung aller Treibhausgase, von Methan über Lachgas bis zu den F-Gasen. Sie sind der menschengemachte Auslöser der Erderhitzung. Das „Unlearn“ knüpft an das Konzept eines erfolgreichen Sammelbands an, der ebenfalls im Ullsteinverlag erschienen ist: Unlearn Patriarchy. Darin wird deutlich, dass das Patriarchat nicht nur ein einzelnes Phänomen ist, ein gesondertes Thema neben anderen. Es betrifft vielmehr unsere gesamte Gesellschaft und unser aller Leben: Familie, Sprache, Arbeit, Politik.

Genauso verhält es sich mit der Klimakrise. Auch sie durchzieht alle Bereiche unseres Lebens. Das bedeutet, dass wir uns in allen Bereichen für den Wandel einsetzen können und müssen. Die gute Nachricht: Die Ideen und Lösungen dafür liegen längst auf dem Tisch. Wirklich jede*r von uns kann jetzt schon Teil des Wandels werden und sich einbringen.

Der Weg zu einem Klima ohne Krise erfordert eine radikale Kohlendioxid-Kur, ein Herunterfahren aller CO
2-Emissionen auf Netto-Null. Das alleine genügt jedoch nicht, denn die Wurzeln der Klimakrise liegen tiefer: in globalen Ungerechtigkeiten, in der Naturzerstörung, im Wachstumszwang unseres Wirtschaftssystems. Es geht um viel mehr als um weniger CO2. Die Bandbreite der Beiträge in diesem Buch führt uns das vor Augen. „CO2 verlernen“ bedeutet also auch, die planetaren und sozialen Krisen ganzheitlich zu betrachten – und unsere Gesellschaft nicht nur klimaneutral zu machen, sondern gleichzeitig nachhaltiger, gerechter und gesünder. Auch und insbesondere für Kinder, Frauen, Alte, queere Personen, Menschen mit Behinderung und aus dem globalen Süden – all jene, die besonders von den Folgen der Erderhitzung betroffen sind.

Unlearn CO2 heißt, zu verstehen, wie wir das fossile System überwinden können. Um dann individuell, kollektiv und politisch für eine postfossile, klimagerechte Zukunft einzustehen. Wir sind überzeugt: Die Beiträge in diesem Buch werden dich und viele andere genau dazu inspirieren.

Berlin im Mai 2024
Claudia Kemfert, Julien Gupra, Manuel Kronenberg


Kleine Typologie der Wissenschaftsleugnung
aus dem Kapitel
unlearn desinformation von Stefan Rahmstorf

Als die Coronapandemie begann, haben wir Klimaforschende uns am wenigsten über die vielen „Kreuz- und Querdenkenden“ gewundert. Wir kannten längst die immer gleichen Muster der Wissenschaftsleugnung. Man kann die Methoden in fünf Gruppen einteilen:

1.
Pseudo-Experten: Es werden angebliche „Expert*innen“ präsentiert, die nichts Nennenswertes in diesem Forschungsgebiet geleistet haben und nur wegen ihrer abweichenden Meinung interessant sind. Das ist so, als wenn zu jedem TV-Bericht über einen Satellitenstart jemand von der Flat-Earth-Society eingeladen würde, um eine andere Perspektive zu präsentieren.

2.
Logikfehler: Ein klassisches Beispiel für einen logischen Fehlschluss ist die Behauptung: Wenn es früher mal einen natürlichen Klimawandel gab, dann ist der Mensch nicht für den aktuellen verantwortlich. Das ist, als würde ein überführter Mörder sich damit herausreden, dass Menschen auch eines natürlichen Todes sterben können.

3.
Unerfüllbare Erwartungen: Es wird ein eindeutiger Beweis für CO2 als Ursache des Klimawandels gefordert. Beweise gibt es freilich nur in der Mathematik. In der Physik gibt es empirische Belege, und die sind erdrückend.

4.
Rosinenpickerei: Evidenz wird hochselektiv präsentiert, zum Beispiel, indem aus einer langen Datenreihe kleine Stückchen herausgepickt werden, um ein bestimmtes Narrativ zu stützen. Etwa um zu behaupten, die globale Temperatur (oder wahlweise der Meeresspiegel) würde sinken! Da sich bei der Erderwärmung natürliche Schwankungen überlagern, ist das natürlich immer wieder der Fall, vor allem nach El-Niño-Ereignissen. Ein besonders absurdes Beispiel dafür ist die Verkündung einer „Rekordzunahme des Polareises!“ zu einem Zeitpunkt, an dem nach einem Rekordminimum der Eisdecke das Polarmeer in der Polarnacht wieder ganz zufriert.

5.
Verschwörungsmythen: Manche Mythen werden hartnäckig gestreut, etwa: Die Klimaforschung verbreitet Klimahysterie, um mehr Forschungsgelder zu bekommen! Dass das große Geld jedoch nicht für Klimaforschende im öffentlichen Dienst zu holen ist, sondern aufseiten der Fossilwirtschaft und ihrer Lobby, wird dabei nicht bedacht. Manchmal lese ich auch die These, akademische Forschende würden das sagen, was die Regierung gerne hören möchte – als ob Regierungen heiß auf Klimaschutz wären. Das Gegenteil trifft zu.

Vergleiche dazu:

Das Klima hat sich schon immer geändert. Was folgern Sie?

Wissenschaftsleugnung in Zeiten von Corona

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