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Frederic Vester
Die Kunst vernetzt zu denken

Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität
Der neue Bericht an den Club of Rome

München 2002 (dtv); 372 Seiten; ISBN 3-423-33077-5






Strukturelle Arbeitslosigkeit, alarmierende Umweltveränderungen, wiederkehrende Anzeichen eines Börsencrashs, die Verstrickung in kriegerische Auseinandersetzungen: Angesichts einer immer komplexeren Welt wird die Unzulänglichkeit herkömmlicher Denkweisen immer deutlicher. Für sich perfekt geplant, können die Folgen jedes Eingriffs in vielschichtige Gefüge fatale Konsequenzen haben: Rückkopplungen, Zeitverzögerungen, Spätfolgen.




Über zwanzijährige Erfahrung des Autors mit solchen Fragen ist hier zusammengefasst zu einem Praxisbuch für Politiker, Manager und alle anderen, die in solchen Zusammenhängen denken müssen und wollen.


Frederic Vester


Jahrgang 1925, leitet die „Studiengruppe für Biologie und Umwelt“ in München, ist Fachmann für Umweltfragen und gilt als „Vater des vernetzten Denkens“. Er ist Mitglied des Club of Rome, vielfach ausgezeichnet und einer der profiliertesten Sachbuchautoren im deutschsprachigen Raum. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen gehören: „Denken, Lernen, Vergessen“, „Neuland des Denkens“ und „Crashtest Mobilität“.



Siehe auch : Wikipedia: Frederic Vester


Inhaltsverzeichnis


Geleitwort von Ricardo Díez Hochleitner



Vorwort






Teil 1: Was es zu vermeiden gilt



1. Die Angst vor Komplexität



2. Fehler im Umgang mit komplexen Systemen



3. Unsystematische Zielsetzung, Methodik und Strategie



4. Wachstumsparadigma als Zielbeschreibung



5. Die Fallen der Hochrechnung






Teil 2: Was unsere Situation verlangt



6. Eine neue Sicht der Wirklichkeit



7. Der biokybernetische Denkansatz



8. Komplexität erkennen



9. Systemgerechtes Planen und Handeln



10. Vom Klassifizierungs-Universum zum Relations-Universum






Teil 3: Das Sensitivitätsmodell



11. Arbeitshilfen für ein vernetztes Vorgehen



12. Systembeschreibung



13. Der systemrelevante Variablensatz



14. Die inhärenten Wirkungen des Systems



15. Wirkungsgefüge, Teilszenarien und Regelkreise



16. Simulationen und Policy-Tests






Teil 4: Der neue Weg zu nachhaltigen Strategien



17. Methodische Besonderheiten und Dialogführung



18. Strategien und Maßnahmen der Systembewertung



19. Ein universeller Planungsansatz



20. Ausblick






Danksagung



Bibliografie



Register


Leseprobe


Vorwort






Wir leben in einer Welt, deren ineinander greifende Abläufe für unseren menschlichen Geist schon immer schwer zu begreifen waren – seien es die Nahrungsnetze lebender Organismen, das komplexe Spiel der Naturkräfte oder die weit greifende wirtschaftliche Vernetzung. Die exponentiell angestiegene Menschendichte und in ihrem Gefolge die als Fortschritt deklarierten immer stärkeren Eingriffe in den Naturhaushalt und in die menschliche Lebensqualität durch technologische Entwicklungen haben diese Wechselwirkungen so verdichtet, dass sie zu verstehen trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse mit jedem Tag schwieriger zu werden scheint. In einer solchen Situation wächst natürlich die Hemmschwelle, sich überhaupt mit komplexen Abläufen zu befassen.






Die zunehmenden Krisen und Umweltkatastrophen zeigen aber, dass es höchste Zeit ist Fortschritt nicht länger nur auf der materiellen oder gar technokratischen Ebene zu sehen, sondern in einer neuen Ebene unseres Denkens, das dem veränderten Zustand unserer dicht bevölkerten Erde adäquat ist.






An der Schwelle zum dritten Jahrtausend und angesichts der von uns innerhalb weniger Jahrzehnte geschaffenen globalen Situation dürfte es somit an der Zeit sein einmal innezuhalten und uns auf ein neues Paradigma einzustellen, das sich an den auf unserem Planeten herrschenden Systemgesetzmäßigkeiten orientiert. Denn ehe wir uns und unseren Lebensraum einer immer unkontrollierteren Entwicklung aussetzen, sollten wir versuchen unsere Welt in ihrer tatsächlichen Vernetzung zu sehen, um mit den technologischen Möglichkeiten, die wir entwickelt haben, nicht weiterhin unbekümmert zu hantieren, sondern sie ab jetzt mit Systemverständnis einzusetzen.






Was wir dazu brauchen, ist eine neue Sicht der Wirklichkeit: die Einsicht, dass vieles zusammenhängt, was wir getrennt sehen, dass die sie verbindenden unsichtbaren Fäden hinter den Dingen für das Geschehen in der Welt oft wichtiger sind als die Dinge selbst. Denn wo immer wir auch eingreifen, pflanzt sich die Wirkung fort, verliert sich, taucht irgendwo anders wieder auf oder wirkt auf Umwegen zurück: Die Eigendynamik des Systems hat das Geschehen in die Hand genommen. Eine Korrektur am Ausgangspunkt ist nicht mehr möglich. Um zu erfassen, was unsere Eingriffe in einem komplexen System bewirken, kommen wir nicht umhin, das Muster seiner vernetzten Dynamik verstehen zu lernen.






Meine Beschäftigung mit diesem Ansatz des vernetzten Denkens und dem darauf beruhenden Planen und Handeln, das sich an der Kybernetik überlebensfähiger Systeme, ihren Steuer- und Regelprinzipien orientiert, erstreckt sich über drei Jahrzehnte. Die während dieser Zeit publizierte wissenschaftliche und schriftstellerische Arbeit war seither durchgehend der Anwendung und Propagierung dieser Erkenntnisse sowie der Entwicklung strategisch einsetzbarer Hilfsmittel gewidmet.






Bereits mit der Studie »Systemzusammenhang in der Umweltproblematik« (1970) für die Stadt München und der UNESCO -Studie »Urban Systems in Crisis« (1976) versuchte ich, Leitlinien für einen neuen Umgang mit Komplexität zu erarbeiten und zu vermitteln. In meinen Hauptwerken »Das kybernetische Zeitalter« (1976) und »Neuland des Denkens« (1980) habe ich diesen Ansatz auf die globale Entwicklung ausgedehnt und erstmals den Versuch unternommen, die verschiedenen Gebiete unserer Zivilisation auf ihre Stellung im Gesamtzusammenhang zu untersuchen und sie gleichzeitig auf bestehende Ansätze einer kybernetischen Neuorientierung zu durchforsten. Die Einsicht in »Unsere Welt als vernetztes System« sollte auch meine Wanderausstellung gleichen Namens vermitteln. Weitere Ausstellungen, Bücher und Strategiespiele hatten alle dasselbe Anliegen.






Gleichzeitig erhielt die Bedeutung der Systemdynamik Auftrieb durch MEADOWS' »Grenzen des Wachstums« und die weiteren Berichte an den Club of Rome bis zu Ernst Ulrich V.WEIZSÄCIKERs Buch »Faktor Vier«. Die St.Gallener Schule um Hans ULRICH, die von Matthias HA LLER angeregten Arbeiten des dortigen Instituts für Versicherungswirtschaft unter Einsatz des von mir entwickelten Sensitivitätsmodells und viele weitere Mitstreiter wie der Chefplaner des Umlandverbandes Frankfurt, Alexander von HESLER, bestätigten mich zunehmend in meinem Bestreben, das vernetzte Denken und das Paradigma der Systemverträglichkeit über den akademischen Bereich hinaus in die Öffentlichkeit zu tragen.






Inzwischen scheint es – zumindest im europäisch-amerikanischen Kulturraum – nicht mehr nötig zu sein, für ein allgemeines Umweltbewusstsein zu kämpfen. Francis BACONS paradoxe Aussage: »Wer die Natur beherrschen will, muss ihr gehorchen« leuchtet nach dem immer häufigeren Zurückschlagen der Natur in den letzten Jahrzehnten nicht nur den direkt Betroffenen ein. Die Bedeutung einer intakten Umwelt als unsere wichtigste wirtschaftliche Grundlage wird – zumindest in öffentlichen Bekenntnissen – nicht länger in Zweifel gezogen. All das spiegelt einen gewissen Umdenkungsprozess wider. In der Praxis sieht es allerdings nach wie vor anders aus. Unter dem Druck kurzfristiger Entscheidungen ist bei unseren politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern wenig davon zu spüren, vernetzte Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen oder gar in ihr Planen und Handeln einzubeziehen. Meist mangelt es dabei weniger am guten Willen als schlicht und einfach am nötigen Wissen, so dass man oft den Ast absägt, auf dem man sitzt.






Die dringende Notwendigkeit einer Umsetzung des vernetzten Denkens in die planerische Praxis mit der Vorgabe, die zunehmende Komplexität nicht zu meiden, sondern sie zu nutzen, hat mich daher immer stärker beschäftigt. Dabei war mir bewusst, dass die darauf beruhenden Planungs- und Entwicklungsmethoden andere sein müssten, als sie für das unvernetzte Vorgehen mit seinen oft kontraproduktiven Strategien eingesetzt wurden. Denn die sich häufenden Fehlschläge in den vergangenen Jahren zeigten, dass die klassischen Planungsansätze, sei es im Unternehmensbereich, in der Regionalplanung, in der Entwicklungshilfe oder in der Umweltpolitik an den immer komplexeren Wirkungen und Rückwirkungen, die damit nicht erfasst werden, scheiterten, ja scheitern mussten.






Hier Besserung zu erzielen, war Anlass für mich, mit dem Sensitivitätsmodell ein anwenderfreundliches Verfahren zu entwickeln, mit dem es gelingen würde, den Sprung von deterministischen Hochrechnungen, immensen Datensammlungen und geschlossenen Simulationsmodellen hin zu einer biokybernetischen Interpretation und Bewertung des Systemverhaltens zu vollziehen. »Die Kunst vernetzt zu denken« soll helfen, diesen Sprung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklungsstrategie, die nicht nur theoretisch, sondern auch für den praktischen Gebrauch umsetzbar ist, plausibel und nachvollziehbar zu machen.






Dazu werde ich in einem ersten Teil unter dem Titel »Was es zu vermeiden gilt« die Probleme wachsender Komplexität deutlich machen und die weittragenden Folgen aufzeigen, die ein nicht-adäquater Umgang mit komplexen Systemen für unseren Lebensraum und die auf ihm basierende Wirtschaft hat. Die typischen Ängste und Fehler in Zielsetzung, Methodik und Strategie werden aufgedeckt, die es in Zukunft zu vermeiden gilt. Im zweiten Teil »Was unsere Situation verlangt« wird erläutert, welche neue Sichtweise nötig ist, um überhaupt Komplexität zu erfassen, und welche Hilfen wir aus der organisatorischen Bionik und der Biokybernetik in Anspruch nehmen können, um besser mit komplexen Systemen umzugehen. Der dritte Teil »Das Sensitivitätsmodell« stellt die dafür entwickelten neuen Werkzeuge und Vorgehensweisen vor. Hier wird der Zugang zum vernetzten Ansatz und seinen neuartigen Arbeitshilfen aufgezeigt und an Beispielen erläutert, wie seine Umsetzung zu bewerkstelligen ist. Die Kapitel des vierten Teils »Der neue Weg zu nachhaltigen Strategien« befassen sich damit, welche Lösungsstrategien für ein systemverträgliches Planen und Handeln aus einem Sensitivitätsmodell gewonnen und wie sie wirksam in die Praxis umgesetzt werden können.






So werden in den 20 Kapiteln des Buches nicht nur die Fehlerquellen des heute noch üblichen – die Vernetzung von Systemzusammenhängen missachtenden – Planens und Wirtschaftens aufgespürt und aus kybernetischer Sicht analysiert, sondern es wird auch ein praktikabler und von jedem Entscheidungsgremium gangbarer Weg beschrieben, die tief greifenden Möglichkeiten einer auf dem vernetzten Denken basierenden Planung und Entscheidungsfindung, nicht zuletzt im Sinne der Agenda 21, für den politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Bereich zu nutzen.


Siehe auch:


Fernsehinterview im Bayerischen Rundfunk am 23.4.1999