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Jean Ziegler
Trotz alledem
Warum ich die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufgebe

München 2025 (Bertelsmann); 206 Seiten; ISBN: 978-3-570-10580-1
Titel der französischen Originalausgabe (2024):
Où est l'espoir?

In einer Zeit, die von verheerenden Kriegen in Gaza und der Ukraine, von einer drohenden Klimakatastrophe, von Flüchtlingselend und dem Erstarken autoritärer Regime geprägt ist, erinnert Jean Ziegler, langjähriger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, daran, dass im globalen Süden seit Jahrzehnten ein Vernichtungskrieg gegen die Schwächsten der Menschheit wütet, immer und schlimmer noch, mit allein im Jahr 2023 über sechzig Millionen Todesopfern. Gestorben an Hunger, Durst, Epidemien oder durch Verteilungskonflikte, hinterlassen sie ein so stummes wie beredtes Zeugnis von den Auswirkungen des Raubtierkapitalismus: Heute besitzen 50 Einzelpersonen so viel wie die abgehängte Hälfte der Menschheit, erwirtschaften die 500 größten transkontinentalen Unternehmen mehr als die Hälfte des Bruttoweltprodukts.

Müssen wir diese kannibalische Weltordnung wirklich weiterhin ertragen, in der die Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals über Hunderte von Millionen im Elend lebender Menschen herrschen? Die Hoffnung jedenfalls lässt sich nicht unterdrücken, dass sich doch noch eine planetarische Zivilgesellschaft entwickelt, in der die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker gewahrt und Gerechtigkeit und Solidarität mit den Armen und Schwachen geübt wird. Jean Ziegler, der unermüdliche Kämpfer gegen Elend und Unterdrückung, plädiert für einen machtvollen Aufstand des Gewissens und stellt uns die intellektuellen Waffen dafür zur Verfügung.

Jean Ziegler, geboren 1934 im schweizerischen Thun, lehrte bis zu seiner 2002 erfolgten Emeritierung Soziologie an der Universität Genf und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne/Paris. Bis 1999 war Jean Ziegler Nationalrat im Parlament der Schweizer Eidgenossenschaft, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und von 2009 bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, als dessen Berater er heute noch tätig ist. Seine Publikationen wie »Die Schweiz wäscht weißer« (1992) und »Die Schweiz, das Gold und die Toten« (1998) haben erbitterte Kontroversen ausgelöst. Als Kritiker von Globalisierung und Raubtierkapitalismus ist er mit Bestsellern wie »Das Imperium der Schande« (2005), »Der Hass auf den Westen« (2007), »Wir lassen sie verhungern« (2012), »Ändere die Welt!« (2015) »Der schmale Grat der Hoffnung« (2017) und »Die Schande Europas« (2020) hervorgetreten.

INHALTSVERZEICHNIS
I. Die kannibalische Weltordnung
II. Der Hunger
III. Der Untergang der Vereinten Nationen
IV. Die Beseitigung ds Asylrechts
V. Entfremdung
VI. Die Verweigerung der sozialen Gerechtigkeit
VII. Die Ungleichheiten
VIII. Die Hoffnung

Dank

LESEPROBE
Seite1–21 siehe Verlagsseite > LESEPROBE

Aus Kapitel V: Entfremdung (Seite 119 ff):

Als ich Sonder­bericht­erstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung war, wurde ich mehrfach zu Seminaren der Weltbank eingeladen. Damals war der Australier James Wolfensohn der Präsident der Bank. 1933 geboren und 2020 gestorben, hat er nach und nach verschiedene Berufe ausgeübt: Wirtschafts­wissenschaftler, Anwalt, Justiziar, Politiker und Bankier. Von 1995 bis 2005 war er der neunte Präsident der Weltbank. Ein brillianter Mann, angenehm, kultiviert, begabter Pianist, sympathisch. Unermüdlich wiederholte er: »Das Ziel der Geschichte ist die
stateless global governance.« Also eine wirksame globale Entscheidungs­findung ohne Beteiligung von Staaten, das heißt eine Selbst­regulierung des Marktes. Die Anhänger dieser Theorie meinen, das Kapital dürfe durch keinerlei Normativität eingeschränkt werden, durch keine Vorschrift, kein Gesetz, damit es sich so schnell bewegen könne, wie es ihm möglich sei oder wie es möchte, dorthin, wo es den größt­möglichen Profit in der kürzest­möglichen Zeit erzielen könne. Daraus ergäbe sich dann das größte Glück der größten Zahl ganz von selbst.

Die Ideologie dieser Herren trägt den harmlosen Namen: »Konsens von Washington«. Den hat der Wirtschafts­wissen­schaftler John Williamson 1990 in einem Artikel geprägt, in dem er die Ergebnisse einer Konferenz von Wirtschafts­wissen­schaftlern in Washington zusammen­fasste, die nach neo­liberalen Rezepten suchten, um die latein­amerika­nischen Schwellen­länder aus der tiefen Krise (verheerende Hyper­inflation, Auslands­schulden, gesellschaft­licher Verfall, politische Instabilität) heraus­zu­helfen, in der sie sich befanden.

Der Konsens von Washington besteht aus einer Reihe von
gentlemen's agreements, einer Reihe von informellen Über­ein­künften, die im Laufe der Jahre 1970, 1980 und 1990 zwischen den Bankern der Wall Street, den Chefs der großen trans­kontinen­talen Unter­nehmen, den Verant­wort­lichen des amerika­nischen Finanz­ministeriums, der US-Noten­bank und den wichtigsten interna­tionalen Finanz­organisa­tionen (Weltbank, Interna­tionaler Währungs­fonds, Welt­handel­sorgani­sation usw.) getroffen wurden. Darin sind die Grund­sätze zusammen­gefasst, auf denen die verschie­denen gentlement's agreements beruhen.

Diese Grund­sätze lassen sich auf jeden beliebigen Kontinent und jede beliebige Volks­wirt­schaft anwenden. Dabei hat der Konsens nur ein einziges Ziel: die Privatisierung der Welt zum Wohle der Oligarchien des Finanz­kapitals. Zu diesem Zweck ist er darauf angelegt, jede normative Instanz, jede staatliche oder halb­staatliche (etwa gewerk­schaftliche) Regulierungs­macht so schnell wie möglich auszu­schalten, die größt­mögliche Befreiung aller Märkte (für Güter, Kapital, Dienst­leistungen, Patente etc.) durch­zu­setzen und die Schaffung eines welt­weiten gemein­samen und voll­kommen selbst­regulierten Marktes.

Ich fasse hier die wichtigsten konkreten Maß­nahmen zusammen, die von dem Konsens empfohlen werden:

● In jedem Schuldner­land muss eine Reform des Steuer­wesens anhand zweier Kriterien durch­ge­führt werden: einerseits eine Senkung des Steuer­satzes für die höchsten Einkommen, um die Reichen zu produktiven Investitionen zu veranlassen: andererseits die Erweiterung der Steuer­basis, im Klartext: die Streichung der Steuer­vergünsti­gungen für die Ärmsten, um das Steuer­volumen zu erhöhen.

● Liberalisierung der Finanz­märkte so schnell und so voll­ständig wie möglich.

● Garantierte Gleichbehandlung einheimischer und ausländischer Investitionen, um die Sicherheit und damit das Volumen Letzterer zu erhöhen.

● Abbau des öffentlichen Sektors. Vor allem müssen die Unter­nehmen in staatlichem oder halb­staatlichem Besitz privatisiert werden.

● Erhöhter Schutz des Privateigentums.

● Schnellstmögliche Handels­liberali­sierung mit dem Ziel einer Senkung der Zolltarife um 10 Prozent pro Jahr.

● Den freien Handel durch Exporte fördern, es gilt, vorrangig jene Wirtschafts­sektoren zu fördern, die ihre Güter exportieren können.

● Begrenzung des Haushalts­defizits.

● Für eine Transparenz des Marktes sorgen: Die staatlichen Subven­tionen für private Akteure müssen überall beseitigt werden. Die Drittwelt­staaten, die die Preise der Grund­nahrungs­mittel subventio­nieren, um sie niedrig zu halten, müssen auf diese Politik verzichten. Bei den Staats­ausgaben sind jene zu bevor­zugen, die für die Verbesserung der Infras­truktur bestimmt sind.

Die britische Zeitschrift
The Economist gilt nicht unbedingt als revolutio­närer Brand­stifter. Trotzdem ist ihr Kommentar zum Konsens von Washington voller Ironie: »Anti-globalists see the Washington Consensus as a conspiracy to enrich bankers. They are not entirely wrong.« (»Die Globalisie­rungs­kritiker halten den Konsens von Washington für eine Ver­schwörung zur Bereicherung von Bankern. Sie haben damit nicht so ganz unrecht.«)

SIEHE AUCH:
Jean Ziegler: Die Schande Europas
Von Flüchtlingen und Menschenrechten (2020)


Jean Ziegler: Was ist so schlimm am Kapitalismus?
Antworten auf die Fragen meiner Enkelin (2019)


Jean Ziegler: Der schmale Grat der Hoffnung
Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden (2017)


Jean Ziegler: Ändere die Welt!
Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen (2015)


Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern
Die Massenvernichtung in der Dritten Welt (2012)


Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen
Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren (2009)


Jean Ziegler: Das Imperium der Schande
Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung (2005)


Jean Ziegler: Die neuen Herrscher der Welt
und ihre globalen Widersacher (2003)


Jean Ziegler: Wie kommt der Hunger in die Welt?
Ein Gespräch mit meinem Sohn (1999)