Für einen Fortschritt, der dem Leben dient!
Vom Wandel in einer komplexen Welt
Ein Manifest. Von Ernst Weeber
Das Zeitalter des Menschen
…beginnt mit einer globalen Krise
(1) Der Fortschritt unserer menschlichen Zivilisation dient nicht mehr dem Leben. Die Lebensfreundlichkeit der Erde hat abgenommen. Ein großes Artensterben ist im Gange. Dieses Artensterben ist eine Folge unseres Fortschritts. Wir Menschen, vor allem die besonders fortgeschrittenen in den reichen Ländern, sind es, die so viele andere Arten verdrängen und die Lebensfreundlichkeit der Erde verringern.
(2) Vor etwa 12 000 Jahren endete die letzte Eiszeit. Die Erde erwärmte sich innerhalb weniger Jahrtausende um rund fünf Grad Celsius, nicht immer stetig, sondern mit teilweise abrupten Schwankungen von mehreren Grad in wenigen Jahrzehnten. Dann aber blieb das Klima einigermaßen stabil, es schwankte nur noch wenig. Damit begann das Holozän, das »ganz neue« Erdzeitalter. Unsere Vorfahren, als Jäger und Sammler gut an die Eiszeit angepasst, entwickelten sich weiter zu Bauern und Hirten, bildeten immer größere arbeitsteilige Gemeinschaften bis hin zur modernen Industriegesellschaft, wurden immer zahlreicher und bearbeiteten ihre natürlichen Lebensgrundlagen mit immer stärkerer Wirkkraft. Heute staunen wir über die Entwicklung: Alles in allem hat unser Fortschritt in dieser ganzen Zeit immer weiter und immer schneller »aufwärts« geführt.
(3) Doch sogar das »ganz neue« Zeitalter ist alt geworden. Wir leben jetzt im Anthropozän, im Zeitalter des Menschen. Unsere Aktivitäten dominieren, prägen und belasten den gesamten Planeten. Dabei wollten wir Menschen nichts anderes, als unsere Lebensverhältnisse verbessern. Und das taten wir, immer erfolgreicher. Immer raffinierter. Immer kultivierter. Und mit immer mehr Energie. Aus dem Verbessern wurde ein Ausbeuten der Natur, und weil wir immer mehr geworden sind, treten wir uns auch gegenseitig immer mehr auf die Füße. Unsere Rangeleien und Streitereien um Jagdgründe, Weiden, Reviere und Beute, um Rohstoffe und Märkte wurden ebenfalls immer raffinierter und kultivierter, das kriegerische Töten und Zerstören immer effektiver. Unser Fortschritt treibt jetzt so viel Neues hervor wie noch nie, aber auch immer mehr Risiken und unerwünschte Nebenwirkungen. Unsere Gesamtlage wird unsicherer. Der Weg »weiter so« scheint eher »abwärts« zu führen.
(4) Lange Zeit hat der Fortschritt für uns Menschen – genauer: für einen Teil von uns – »aufwärts« geführt zu immer besseren Lebensverhältnissen. Manche Gewinner schwärmen immer noch, dass es uns heute so gut geht wie noch nie in der Geschichte. Das mag in gewisser Weise und für einen Teil von uns im Augenblick noch stimmen, ändert aber nichts an der Gesamtlage: Wir stehen vor einem Abgrund, vor ökologischen und gesellschaftlichen Krisen von beispiellosen Ausmaßen. Das Anthropozän beginnt mit einer globalen Krise.
(5) Krise heißt nicht Untergang. Krise heißt: Entscheidung.
(6) Die Lebensverhältnisse auf der Erde werden sich in den kommenden Jahrhunderten wahrscheinlich deutlich über die Schwankungsbreite der vergangenen 12 000 Jahre hinaus verändern. Die Folgen für die irdische Lebensgemeinschaft, insbesondere auch für die Menschengemeinschaft, sind ungewiss, aber wahrscheinlich eher ungemütlich. Manches scheint jetzt auf der Kippe zu stehen. Das Erdklima könnte in überraschend kurzer Zeit unumkehrbar in einen sehr ungewohnten, neuen Zustand kippen. Denn das Erdklima ist ein komplexes dynamisches System (ein System verflochtener Kreisläufe und Wechselwirkungen), das sich innerhalb gewisser Grenzen selbst organisiert und über lange Zeit stabilisiert, aber in einen anderen Zustand kippen kann, wenn es durch irgend eine Entwicklung über diese Grenzen hinausgedrängt wird. Und das Erdklima ist selbst nur ein Untersystem des gesamten Erdsystems. Die gesamte lebendige Natur ist ein überaus komplexes Kreislaufsystem mit vielen Untersystemen, darunter die menschliche Zivilisation. Und das Klimasystem ist nicht das einzige, das durch die Menschheit zum Kippen gebracht werden könnte. Wir wissen von anderen biogeochemischen Kreisläufen, die wir stark belasten, aber welche Kreisläufe wir insgesamt schon aus ihrem 12 000 Jahre lang bewährten Schwankungsbereich hinausgedrängt haben, wissen wir nicht. Wir können die neuen Ausschläge nicht sicher vorhersagen. Wir können jedoch mit großer Sicherheit annehmen, dass der Einfluss der Menschheit auf das Erdsystem ausschlaggebend ist, also entscheidend.
(7) Wir Menschen sind zu den Anführern der irdischen Evolution geworden, dabei aber offenbar selbst in eine Art Falle geraten, in eine Zwickmühle der Evolution. Nun heißt es, diese Falle zu verstehen, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Entscheidend wird sein, wie wir den Verlauf der Evolution und die Bedingungen für einen wünschenswerten Fortschritt in unserem kollektiven Bewusstsein abbilden. Das Entscheidende geschieht jetzt in unseren Köpfen und Seelen.
(8) Die Einschätzungen der globalen Lage gehen weit auseinander. Manche Zeitgenossinnen und Zeitgenossen halten die Rede von der globalen Krise für unnötige Panikmache, sie sehen gar keine Falle; die auftauchenden Probleme würden vielleicht größer, sagen sie, aber größer würden auch unsere Fähigkeiten, sie nacheinander zu lösen. Andere glauben, dass es gar nichts mehr zu entscheiden gäbe: Das Verhängnis nähme seinen Lauf und sei nicht mehr aufzuhalten. Die meisten von uns hoffen, dass sich das Gute letztlich mit nüchternem Realismus und gesundem Menschenverstand durchsetzen lässt. Manche hoffen auf einen mächtigen Gott, der alles in der Hand hält und allem einen Sinn gibt.
Ökologie, Politik und System-Logik
Drei Komponenten der globalen Krise
(9) Es ist sinnvoll, drei Aspekte oder Komponenten der globalen Krise zu unterscheiden: den ökologischen, den soziologischen und den systemlogischen. Denn jeder dieser Aspekte erfordert einen Paradigmenwechsel und ein Lernziel seiner eigenen Art.
(10) Ökologisch geht es um den Haushalt der Natur, der ein vollkommenes Kreislaufsystem darstellt, in dem als Abfall nur Wärme übrigbleibt, die in den dunklen Weltraum abgestrahlt wird. – Das Problem: Die biologisch überaus erfolgreiche Spezies Mensch überweidet ihr Biotop und richtet es dabei zugrunde. Die Spezies Mensch wird durch malignes Wachstum zum Parasiten am Organismus »Gaia«. – Ursache: Wir sind gewöhnt an eine »unendlich weite Welt«, an die Möglichkeit, immer neue »Weiden« zu erschließen und zu kolonisieren. Jetzt stoßen wir an die Grenzen dieser Welt. – Nötiger Paradigmenwechsel: Wir müssen »Gaia« als einen Organismus und uns selbst als Teil dieses komplexen, aber global begrenzten Kreislaufsystems des Lebens verstehen lernen. – Lernziel: Ein angemessener Umgang mit unseren Lebensgrundlagen.
(11) Soziologisch geht es um die gelingende menschliche Gemeinschaft, die nie ganz fertig, sondern immer in Entwicklung ist, weil auch sie einer Evolution unterliegt. Sie muss immerzu nachgebessert werden durch Bemühungen, die wir »Politik« nennen; so gesehen könnten wir diesen Krisenaspekt auch den politischen nennen. – Das Problem: Die sozialen Kompetenzen der Menschen genügen nicht den neuen Anforderungen einer globalen Gemeinschaft. Gruppeninteressen verhindern die Lösung gemeinsamer Probleme. – Ursache: Wir sind gewöhnt an kleine, überschaubare Gemeinschaften, die sich voneinander abgrenzen und miteinander konkurrieren. – Nötiger Paradigmenwechsel: Wir müssen uns als Teil einer globalen Menschengesellschaft verstehen lernen. – Lernziel: Ein angemessener Umgang mit unseresgleichen.
(12) Systemlogisch geht es um die Komplexität der Problemlage, die uns offensichtlich zunehmend über den Kopf wächst. – Das Problem: Die ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, mit denen wir weltweit konfrontiert sind, nehmen an Zahl und im Ausmaß immer weiter zu und wir kommen ihnen mit unseren Problemlösungen immer weniger hinterher. – Verdacht: Unsere Problemlösungsstrategien sind nicht angemessen. Sie werden selbst immer mehr zum Problem. Unsere gewohnte Art der Problembewältigung, ja unsere ganze Art, Fortschritt zu betreiben, verstößt gegen wesentliche logische Bedingungen für einen dauerhaft »aufwärts« führenden Fortschritt innerhalb des komplexen Kreislaufsystems des irdischen Lebens. Wir sind dieser Art des Fortschritts gefolgt, weil uns das allerlei kurzfristige Vorteile einbrachte. Jetzt stellt sich heraus, dass diese Art des Fortschritts langfristig in eine Krise führt. Jetzt sieht es so aus, als hätte die Evolution uns in eine Falle laufen lassen. – Der nötige Paradigmenwechsel wird somit darin bestehen, von den kurzfristigen Erfolgsbedingungen auf die langfristigen umzuschalten. Dazu müssen wir diese langfristigen Bedingungen aber erst einmal identifizieren. Dazu wiederum müssen wir uns mit einigen Eigenschaften komplexer dynamischer (sich selbst organisierender und weiterentwickelnder) Systeme vertraut machen. – Lernziel: Ein angemessener Umgang mit Komplexität.
Irgendwie wird alles immer komplizierter
Komplexität, Kompliziertheit und das Zeitproblem
(13) Die globale Krise wird in der öffentlichen Wahrnehmung hauptsächlich als ein Raum- und Ressourcenproblem gesehen: Wir Menschen sind sehr viele geworden und überlasten unser irdisches Biotop – der Platz reicht nicht mehr für alle, zumindest nicht für alle Ansprüche, die wir an unseren Lebensraum stellen. Wir betreiben Raubbau an unseren Lebensgrundlagen und wissen nicht mehr, wohin mit unseren zahllosen Ausscheidungs- und Abfallprodukten, die nicht in die natürlichen Kreisläufe passen. Wir haben ein ökologisches Problem, weil wir die planetaren Belastungsgrenzen überschreiten, und wir haben ein soziales Problem, weil die hohe Bevölkerungsdichte, also der mangelnde Lebensraum, unsere eigene Gemeinschaftsfähigkeit überlastet. Der systemlogische Aspekt der Krise enthält aber auch ein Zeitproblem. Dem wird jedoch bis dato viel zu wenig Bedeutung zugemessen.
(14) Ein Zeitproblem ist uns allen zwar irgendwie bekannt, aber gewöhnlich wird es als ein psychologisches angesehen, als ein Problem der individuellen Lebensführung, das durch »Anti-Stress-Strategien« und durch ein besseres »Zeitmanagement« zu lösen ist, oder als ein Problem älterer Menschen, die im modernen Leben nicht mehr mitkommen. Tatsächlich geht es hier aber um ein viel umfassenderes, nämlich um ein systemisches Problem sowohl der menschlichen Gesellschaft als auch der irdischen Lebensgemeinschaft.
(15) Das Zeitproblem entsteht aus der hohen globalen Innovationsgeschwindigkeit. Unser Fortschritt, vor allem der technische, verändert unsere Welt im Ganzen so schnell, dass wir die Folgen immer weniger kontrollieren können, weil uns immer weniger Zeit bleibt, aus unseren Fehlern zu lernen. So verwickeln und verheddern wir Menschen uns durch den beschleunigten globalen Fortschritt immer mehr in der Komplexität der Wirklichkeit, wodurch diese für uns immer komplizierter wird.
(16) Geklagt wird häufig über die zunehmende Komplexität der Zusammenhänge. Es ist im wesentlichen aber gar nicht die Komplexität, unter der wir leiden, sondern die Kompliziertheit. Diesen Unterschied gilt es zu verstehen.
(17) Das Komplexitätsniveau der Biosphäre ist durch die menschliche Weltgesellschaft zwar erheblich angewachsen, doch unüberschaubar komplex war das Kreislaufsystem des Lebens schon lange bevor die Spezies Mensch so folgenreich eingegriffen hat. Als wir Menschen erschienen und uns daran machten, unsere Lebensbedingungen zu verbessern, war die Komplexität der Biosphäre überhaupt kein Problem für uns. Das war Gaia, die unsere Lebensgrundlagen bereitstellte, die Mutter Erde, die für uns sorgte. Das war das Netz, das uns trug. Da funktionierte alles auch ohne uns. Die Regeln, nach denen alles funktionierte, waren eingespielt und bewährt über Jahrmillionen. Jetzt, im Anthropozän, stellen wir Menschen ganz neue Regeln auf und setzen sie durch mit großer Energie. Aber gut eingespielt sind immer weniger dieser Neuerungen, weil für den Bewährungsprozess immer weniger Zeit bleibt. Und so verwickeln wir uns in dem Netz, das uns bisher getragen hat.
(18) Wir sind also auf eine doppelte Weise in eine evolutionären Falle geraten: (a) Durch unsere große Zahl und unseren Raubbau an den Ressourcen sind wir zu Parasiten an unserem Wirtsorganismus Erde geworden; (b) durch die hohe Geschwindigkeit des globalen Fortschritts drängen wir die bisher gut funktionierende Komplexität unseres irdischen Daseins immer weiter aus den eingespielten Kreisläufen und Fließgleichgewichten, so dass der Fortschritt immer instabilere Verhältnisse erzeugt. Die Grenzen des Wachstums sind also nicht nur quantitativ nach den irdischen »Vorräten« zu bemessen. Wir müssen auch über die Komplexität der Welt reden und über die Dynamik des Fortschritts.
Die neue Ernüchterung
Drei beachtenswerte Binsenweisheiten
(19) Die Wirklichkeit ist überaus komplex – die ihr innewohnenden Zusammenhänge und Möglichkeiten sind nicht überschaubar. Komplexität bedeutet, dass »in Wirklichkeit« alles sehr verflochten ist. »Alles«, das sind die unzähligen Gestalten und Wechselwirkungen, diese unzähligen »Realitäten«, deren Gesamtheit wir »Wirklichkeit« nennen. Realitäten kennen wir aus Erfahrungen, eigenen oder berichteten. Davon können wir erzählen. Und aus unseren Erzählungen bilden wir unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit als ganzer, von ihrer Ordnung und ihrem tieferen Sinn. Tatsächlich ist es aber unmöglich, die ganze Wirklichkeit zu überschauen, weil die Realitäten, aus denen sie besteht, zahllos sind. Deshalb ist es auch unmöglich für uns, die gesamte Wirklichkeit in unserem Bewusstsein abzubilden oder gar zu berechnen.
(20) Als »nüchterne Realisten« kennen wir sehr viele reale Gegebenheiten und Zusammenhänge und wissen daraus gut begründete Schlüsse zu ziehen. Wir nennen dieses Vorgehen intelligent und rational. Es hat sich erstaunlich gut bewährt und uns die Vorstellung vermittelt, wir könnten mit Hilfe unserer Intelligenz die Wirklichkeit unter Kontrolle bringen, wenn wir die Analyse der Gegebenheiten und Zusammenhänge nur weit genug trieben. Da haben wir uns aber offenbar verrannt: Dieser Realismus bedarf einer neuen Ernüchterung, der Einsicht nämlich, dass die Analyse niemals vollständig sein kann und das Gewusste immer nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit ist – und gewiss nicht der allein ausschlaggebende.
(21) Die Wirklichkeit ist eine Werdende – voller Dynamik. Warum? Weil sie voller Energie ist. Nach unserem bisherigen Wissen über das Universum ging dieses hervor aus einem singulären Zustand, in dem alles Eins war und voller Energie. Daraus entstand jener Prozess, den wir jetzt als kosmische Evolution von Energie und Materie in Raum und Zeit erleben. Die Welt ist ein Energiefluss, sie zappelt im Raum der Möglichkeiten und muss sich weiter entwickeln, bis alle Energie zerstreut ist (oder sich vielleicht alles aufs neue zusammenballt). In einem Energiefluss entstand und entwickelt sich auch die belebte Natur auf unserer Erde.
(22) Dadurch, dass das System Gaia immerzu mit Energie versorgt wird und seine Entropie an den Weltraum abgeben kann, ist es in der Lage, sein eigenes Komplexitätsniveau zu steigern. Darin besteht die Wertschöpfung der Evolution. Das System lernt, indem es sehr vieles ausprobiert und das behält, was sich bewährt. Das ist logisch: Was sich nicht bewährt, kann sich nicht halten. Übrig bleiben neben starren statischen Gebilden auch dauerhafte, sich selbst erhaltende, fehlerfreundliche dynamische Gestalten, die bis zu einem gewissen Grad in der Lage sind, Störungen zu kompensieren: Lebewesen.
(23) Die Wirklichkeit ist voller Überraschungen – wie das Wetter. Die Algorithmen, mit denen die Meteorologen das Wetter vorausberechnen, liefern schon nach wenigen Durchläufen stark abweichende Ergebnisse, wenn die eingegebenen Daten nur geringfügig voneinander abweichen. Deshalb ist die Prognose nur für wenige Tage im Voraus einigermaßen zuverlässig. Und dies gilt ganz allgemein für das Verhalten eines komplexen dynamischen Systems. Sehr kleine Einflüsse, nicht erfassbare Unwägbarkeiten, können überraschend schnell große Auswirkungen haben und ausschlaggebend werden – z.B. durch Aufschaukelung (positive Rückkopplung) oder an Kipp-Punkten. Der Zusammenhang zwischen der Stärke eines Impulses und der Größe seiner Auswirkungen ist in einem komplexen dynamischen System nicht linear. Das Verhalten eines Systems und seine Weiterentwicklung kann daher jederzeit eine überraschende Wendung nehmen.
(24) Ernüchterndes Fazit: Wenn wir versuchen wollen, die Zukunft auf wünschenswerte Weise mitzugestalten, reicht es nicht, Daten zu sammeln und Algorithmen damit zu füttern. Wir müssen die Komplexität in unser Kalkül mit aufnehmen. Wir müssen mit dem nicht-berechenbaren rechnen. Das heißt: fehlerfreundlich bleiben.
Das Wunder der Schöpfung
Vier logische Prinzipien der natürlichen Wertschöpfung
(25) Nichts bleibt auf Dauer wie‘s ist. Alles ist vergänglich. Sogar Gebirge werden aufgeworfen und abgetragen. Nicht einmal die Kontinente bleiben, wo sie sind, nicht einmal die Sonne wird bleiben. Trotzdem empfinden wir die Welt meist als beständig, verlässlich und heimatgebend. Zwei Gründe dafür liegen auf der Hand. Erstens: Die unterschiedlichen Zeitskalen. Vieles verändert sich so langsam, dass wir es auf unserer menschlichen Zeitskala gar nicht mitkriegen. Zweitens: Viele Veränderungen, die wir mitkriegen, verlaufen in Zyklen, wie etwa die Tageszeit, die Jahreszeit oder das Werden und Vergehen von Lebewesen. Zyklisches Geschehen ist weitgehend vorhersehbar, wir erleben eine stabile, verstehbare Ordnung darin, auch wenn diese Ordnung kleinen Schwankungen unterliegt und sich durchaus allmählich – auf einer größerer Zeitskala – verändert. Zyklisches Geschehen ist es, womit auch das Leben auf der Erde beginnt.
(26) Der Kreislauf – Alle lebenden Organismen sind Kreislaufsysteme, also zyklisch organisierte Gestalten. Materie und Energie werden aufgenommen und in Kreisläufen verarbeitet; umgewandelte Materie und Entropie werden wieder ausgeschieden. Bereits in einer lebenden Zelle hat die zyklische Organisation einen hohen Komplexitätsgrad erreicht. Die Logik, nach der sich das zyklische Geschehen bewährt, ist aber einfach: Ein Zyklus kann ja immer wieder von vorne beginnen. Wenn er sich durch geeignete Regelkreise selbst aufrecht erhalten kann, wird er zur Urgestalt des Dauerhaften.
(27) Um sich selbst aufrecht zu erhalten, ist ein lebendiges Kreislaufsystem auf stetige Stoff- und Energiezufuhr angewiesen und auch darauf, dass entwertete Stoffwechselprodukte wieder ausgeschieden werden. Ein dynamisches System, das sich selbst aus einem Stoff- und Energiedurchlauf organisiert und im Fließgleichgewicht hält, nennen wir ein dissipatives System. Einfachste Systeme solcher Art sind der Wasserstrudel oder die Kerzenflamme. Ein lebender Organismus ist ein sehr komplexes dissipatives System. Die Biosphäre als ganze ist ein dissipatives System: Sie nimmt verwertbare Energie überwiegend aus der Sonneneinstrahlung auf und gibt Entropie in Form von Wärme an den Weltraum ab. Ihr Stoffwechsel garantierte bis vor kurzem, dass alle Ausscheidungen eines Organismus durch andere Organismen verwertet werden konnten. Wir moderne Menschen stören diese Kreislaufwirtschaft nicht nur durch einen zu hohen Ressourcenverbrauch, sondern auch durch ein Zuviel bestimmter Produkte, die nicht schnell genug rezykliert werden können, wie beispielsweise Treibhausgase, oder neuartige künstliche Stoffe, die als schwer abbaubare Fremdkörper die eingespielten Kreisläufe belasten.
(28) Kreislaufsysteme werden zu »Gestalten« und »Kreaturen«, wenn sie sich selbst aufrechterhalten können. Dazu ist ein Geflecht von Regelkreisen notwendig, die (a) eine Abgrenzung des Systems gegen seine »Umwelt« ermöglichen und (b) die »Fehlerfreundlichkeit« oder Resilienz des Systems erhöhen, indem sie Störungen kompensieren können.
(29) Konkurrenz und Kooperation – Immerzu angetrieben von der Energie der Sonne »zappelt« die Wirklichkeit im Raum der irdischen Möglichkeiten. Sie kann nicht anders. Sie muss alle naheliegenden »neuen« Möglichkeiten ausprobieren. So findet sie das Stabilere, Dauerhaftere und Lebensfähigere. Lebensfähigeres ist lebensfähiger, weil es sich selbst dauerhafter lebendig erhalten kann. Weil seine Stoff- und Regelkreise noch raffinierter ineinandergreifen und noch besser mit der Mit- und Umwelt zusammenpassen.
(30) Der Auswahlprozess des Besseren aus der Menge des Neuen wird oft als blutiger Konkurrenzkampf dargestellt. Zweifellos findet auch der statt. Lebewesen konkurrieren um Lebensgrundlagen, und Tiere sind sogar darauf angewiesen, sich andere Lebewesen, Pflanzen oder Tiere, einzuverleiben. Ein Lebewesen hat einen selektiven Vorteil, wenn es kräftig zupacken kann. Aggressive Konkurrenz könnte ein vorwärtstreibendes Prinzip der Evolution sein. Sie allein führt aber nicht aufwärts.
(31) Komplexere Gestalten zeichnen sich ja durch noch raffiniertere Wechselwirkungen und Kreisläufe aus. Um aufwärts zu führen zu höherer Komplexität, braucht die Evolution also noch ein anderes, konsolidierendes Prinzip: das der Kooperation, das Prinzip des Zusammenwirkens der Zyklen und der Gestalten, um die Lebensfähigkeit gemeinsam zu erhöhen. Natürlich konkurrieren auch größere Verbände wieder untereinander. Andererseits fressen Tiere der selben Art sich in der Regel nicht gegenseitig auf. Das ist vielleicht die Urform des Wir, das sich später in Brutpflege und größeren Gemeinschaften manifestiert. Das kooperative Wir muss einen selektiven Vorteil haben, sonst hätte es sich nicht entwickelt.
(32) Konkurrenz und Kooperation wirken also ineinander. Sie ergänzen sich zu einem Wettbewerb um die besten Ideen für noch besser funktionierendes Zusammenwirken.
(33) Vielfalt und Gemächlichkeit – In einer komplexen Welt ist das einzige zuverlässige Kriterium, nach dem das »Bessere« aus der Menge des Neuen ausgewählt wird: die Bewährung. Bewährung braucht aber Zeit. Evolution »aufwärts« geht nicht beliebig schnell. Viel Zeit – ist die eine Grundbedingung für eine aufwärts führende Evolution.
(34) Die andere Grundbedingung ist die große Vielfalt an Möglichkeiten, die ausprobiert werden können. Das wenigste, was im Lauf der Zeit ausprobiert wird, bringt eine dauerhafte Verbesserung. Um etwas Besseres zu finden, müssen sehr viele Versuche gemacht werden.Die Evolution führt wahrscheinlich dort am ehesten aufwärts zu höherer, dauerhaft funktionierender Komplexität, wo sehr viele verschiedene Versuche möglich sind.
(35) Vielfalt und Gemächlichkeit sind also Grundbedingungen für eine Wertschöpfung in einer komplexen dynamischen, sich selbst organisierenden Wirklichkeit. Die Evolution tendiert zwar von sich aus zu höherer Komplexität, kann diese jedoch nur verwirklichen, wo sie sehr viele verschiedene Möglichkeiten des Ausprobierens hat und sich damit viel Zeit lassen kann.
(36) Hierarchische Organisation und immer schwächere Wechselwirkungen – Systeme höherer Komplexität entstehen durch den Verbund von Subsystemen. Die Evolution führt also aufwärts zu höherer und lebensfähigerer Komplexität, indem kleine, stabile Einheiten sich auf stabile Weise zu einem Verband zusammentun, der wiederum zum Subsystem eines noch größeren Verbands werden kann.
(37) Die Stabilität von Verbundsystemen beruht auf einer Hierarchie der Wechselwirkungen: Höhere Verbundebenen werden durch schwächere Wechselwirkungen zusammengehalten als die darunterliegenden. Der Zusammenhalt der Subsysteme, die das Fundament bilden, darf nicht durch die Wechselwirkungen der höheren Verbundebenen wieder zerrissen werden. Das beginnt schon bei den Atomen: Die Kräfte, die Atome zu Molekülen verbinden, dürfen nicht so stark sein, dass sie Atomkerne zerreißen können. Wichtig für unsere zukünftige Weltgesellschaft: Eine große Gesellschaft darf, wenn sie stabil bleiben soll, nicht die kleineren Gemeinschaften zerstören, aus denen sie sich zusammensetzt.
Wie wir in die Falle geraten sind
Ein logischer Widerspruch und die zweifache Grenzüberschreitung im Anthropozän
(38) Vielfalt und Gemächlichkeit sind Voraussetzungen dafür, dass die Evolution aufwärts führen kann zu höherer Komplexität. Im Widerspruch dazu haben Vergrößerung und Beschleunigung – zumindest kurzfristig – selektive Vorteile: Größeres verdrängt Kleineres, Schnelleres überholt Langsameres. Es besteht also ein selektiver Druck, größer (mächtiger, einflussreicher) und schneller (erfinderischer) zu werden. Die Folgen: (a) Der Drang zur Vergrößerung führt allmählich zur Vorherrschaft mächtiger Monokulturen und zum Abbau der Vielfalt; (b) die Innovationsgeschwindigkeit steigt, der Fortschritt wird immer schneller. Doch sowohl für die Größe eines Akteurs wie für die Innovationsgeschwindigkeit gibt es Obergrenzen.
(39) Die Obergrenze der Größe ist durch die Globalität definiert. Mehr als die bewohnbare Oberfläche des Planeten steht uns nicht zur Verfügung. Wenn immer weniger, aber immer größere Monokulturen sich über ihn ausbreiten, geht immer mehr Vielfalt verloren.
(40) Die Obergrenze für die Innovationsgeschwindigkeit ist durch unsere Eigenzeit definiert. Wenn die Lebensverhältnisse des Planeten sich, gemessen an unserer menschlichen Zeitskala (also innerhalb einer menschlichen Lebensdauer), stark verändern, bekommen wir dies als überwältigenden Anpassungsdruck und als Destabilisierung unserer Daseinsgrundlagen zu spüren.
(41) Lokale Raserei und allmähliche Globalisierung bedrohen, jeweils für sich gesehen, nicht das Ganze. Lokale Zusammenbrüche durch zu hektische und unbewährte Neuerungen können aus der intakten Umgebung heraus regeneriert werden – da kann »Gras drüber wachsen«. Auch eine Neuerung, die sich allmählich immer weiter ausbreitet und globalisiert, ist ungefährlich, denn sie unterliegt ja einem stetigen Bewährungsprozess. Gefährlich wird’s, wenn beide Grenzen gleichzeitig überschritten werden. Dann kann kein Gras mehr drüber wachsen. Dann kommt es zur globalen Beschleunigungskrise.
(42) Genau das geschieht in unserem Zeitalter.
(43) Die dominierende Art Homo sapiens ist jetzt so zahlreich und ressourcenaufwändig geworden, dass die Erde zu klein dafür wird. Gleichzeitig verändern wir die irdischen Lebensverhältnisse so schnell, dass sich das Neue nicht mehr bewähren kann. Neues baut auf Unbewährtem auf. Fehler und Instabilitäten vermehren sich schneller als wir sie beheben können, die Wahrscheinlichkeit für einen aufwärts führenden Fortschritt geht gegen Null. Die Komplexität wird kompliziert.
(44) Der Fortschritt wird turbulent und taumelt abwärts. Er lässt alles Hergebrachte, alles Gewohnte, alle Normen und damit jede Ethik veralten. Für normal halten wir ja, womit wir als Kinder aufgewachsen sind. Es gibt keine Normalität mehr, wenn sich die Welt innerhalb einer einzigen Generation im Großen verändert.
Wie wir der Falle entkommen
Drei Parolen für einen Paradigmenwechsel
(45) Die nötigen Paradigmenwechsel sind in der Theorie leicht einzusehen, in der Praxis aber schwer umzusetzen. Alles ist ja kompliziert, und viele Teufel sitzen in vielen Details. Doch um die tausend Sachzwänge zu bewältigen, müssen wir uns immer wieder auf die großen Parolen besinnen.
(46) Das Wir erweitern! – Kein Individuum kann ohne eine funktionierende Lebensgemeinschaft überleben, wir sind auf das Miteinander angewiesen, auf das gelingende Zusammenwirken, auf Kooperation. Im Zeitalter der Globalisierung muss die Lebensgemeinschaft global funktionieren. Wir dürfen nicht mehr um unsere Lebensgrundlagen konkurrieren, sondern müssen sie weltweit als Gemeingut sichern. Auch das individuelle Auskommen jedes Menschen sollte bewusst gemeinschaftlich abgesichert sein. Wetteifern müssen wir jetzt um die besten Ideen fürs Teilen und Zusammenarbeiten, für Kooperation weltweit! Anders als gemeinsam werden wir die globalen Probleme nicht auf eine humane Art überwinden können.
(47) Wir müssen also unsere Vorstellung vom Wir über unsere gewohnten Gemeinschaften hinaus erweitern, auch wenn das schwierig, fast unmöglich erscheint, weil es angeborenen Verhaltensprogrammen, Jahrtausende alten Sitten oder dem lebenslang gewohnten »Normalen« widerspricht. Andrerseits darf dieses Wir natürlich nicht zu einer Gleichmacherei und zentralistischen Gleichschaltung führen. Es muss sich in einem bewussten Zusammenwirken vielfältigster kleiner und weitgehend sich selbst erhalten könnender (»subsistenter«) Gemeinschaften verwirklichen, koordiniert durch demokratisch legitimierte und kontrollierte Institutionen auf den jeweils übergeordneten Ebenen. Die übergeordneten Instanzen dürfen nicht die Subsistenz der kleineren Gemeinschaften in Frage stellen und ihre Kompetenzen nur beschränken, wo es für ein höheres Gemeinwohl erforderlich ist.
(48) Und wir müssen dieses Wir auch noch über die Menschengemeinschaft hinaus erweitern. Es muss alle Mitgeschöpfe miteinbeziehen. Wir Menschen sind ein Untersystem im großen Kreislaufsystem des irdischen Lebens, das wir ja gerne auch »Mutter Erde« nennen. Trotzdem sind wir gerade dabei, dieses System durch ein parasitäres Dasein aus dem Fließgleichgewicht zu bringen. Wenn wir es gesund erhalten wollen, müssen wir es eben wie einen lebenden Organismus behandeln: Wir dürfen ihm nicht zu viel zumuten und müssen seine Kreisläufe achten. Manche Menschen lehnen es ab, die Biosphäre als einen lebenden Gesamtorganismus aufzufassen. Aber diese Vorstellung richtet sich an unser tief verwurzeltes, »intuitives« Wissen, wie man mit Komplexität umgeht: Nicht wie mit einer Maschine, sondern wie mit einem lebenden Organismus.
(49) Teufelskreise beenden: Das Große und das Schnelle behindern! – Die Bedingungen Vielfalt und Gemächlichkeit, die wir Menschen jetzt global beseitigen, zu retten, erscheint aussichtslos. Trotzdem muss uns genau dies gelingen: Der Teufelskreis, der uns in die globale Beschleunigungskrise treibt, muss gebremst werden, auch wenn dabei einige »Reibungshitze« entsteht. Denn andernfalls dürfte es auf dem Boden dieser Erde ausgesprochen ungemütlich werden.
(50) Der Wachstumszwang, der Zwang also, größer, mächtiger, einflussreicher und schneller zu werden, ist nicht nur in viele Seelen, sondern vor allem in unser Wirtschaftssystem eingeschrieben. Die Konkurrenz um Lebensgrundlagen, der Wettbewerbsvorteil des Kapitals gegenüber der Arbeit und die positive Rückkopplung Kapital erzeugt noch mehr Kapital bewirken einen systemischen ökonomischen Wachstumszwang und eine Akkumulation von Kapital und Macht in immer weniger Händen. Wir brauchen jetzt bessere Verteilungsregeln, Regeln für eine Rückverteilung, die zwar immer noch Leistung belohnen, aber keine übermäßige Akkumulation mehr zulassen. Es darf nicht mehr lukrativ sein, Kapital über einen begrenzten Reichtum hinaus anzusammeln. Wir brauchen neue Regeln für Privateigentum sowie Größenbegrenzungssteuern. Auch unser Konsumverhalten sollte durch entsprechende Konsumsteuern gelenkt werden.
(51) Das global Große und das global Schnelle müssen organisatorisch begrenzt werden. Auch hier muss es heißen: Kleinere Akteure und Gemeinschaften sind zu unterstützen; größere Zusammenschlüsse dürfen, auch wenn sie in vieler Hinsicht notwendig oder wünschenswert sind, nicht zu viele Kompetenzen erhalten und nicht zu vieles vereinheitlichen. Wo politische und ökonomische Strukturen zu zentralistisch geworden sind, bedarf es einer demokratie-konformen föderalen Dezentralisierung, am besten in kleinen, gut vermittelbaren Schritten mit vielen positiven Anreizen. Übermäßige Akkumulation von ökonomischer Macht muss unterbunden werden, die politischen Gewalten müssen geteilt bleiben.
(52) Auch zu große technische Projekte sollten vermieden werden, denn sie bringen immer ungeahnte Risiken und Nebenwirkungen mit sich, insbesondere, wenn sie sich schnell global auswirken. Ökologisches und gemeinnütziges Verhalten und Wirtschaften im kleinen, im alltäglichen Leben, muss sich lohnen und auszahlen.
(53) Die Dringlichkeit mancher Probleme steht im Widerspruch zur Forderung nach systemischer Entschleunigung. Beispiel: Der CO2-Ausstoß unserer Gesellschaft muss schnellstmöglich stark reduziert werden. Der dazu nötige beschleunigte wirtschaftliche Umbau gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und verschärft so die Krise. Für die Auflösung dieses Widerspruchs gibt es keine einfache Lösung, aber viele konkrete Möglichkeiten, die erfasst werden müssen. Entschlossener politischer Gestaltungswille aller Mitgestalter – vom Individuum bis zu global agierenden Instanzen – ist unerlässlich.
(54) Kreisläufe schließen – ökologisch und ökonomisch! – Unsere Verwertung von Ressourcen muss mehr und mehr in Kreisläufen geschehen. Alles, was wir selbst nicht mehr in unseren industriellen Kreisläufen verwerten können, muss problemlos in ökologische Kreisläufe rückführbar sein, also in den Haushalt der Natur. Sich darum zu bemühen, sollte sich für Produzenten und Konsumenten lohnen. Unsere Anreiz-, Subventions- und Steuersysteme benötigen einen ökologischen Umbau, sehr bald, damit sie »enkeltauglich« werden. Ökologisch schädliches muss jetzt sehr bald teuer werden.
(55) Auch ökonomisch müssen wir uns konsequenter am Kreislaufmodell orientieren. Das betrifft insbesondere unser Geldsystem, das vor allem den ökonomischen Austauschprozessen zu dienen hat und nicht den privaten Aneignungsprozessen. Geld muss bewusster als Gemeingut geschützt und in seiner Funktion als Tauschmittel für Dienstleistungen und Waren gestärkt werden. Dass Geld selbst in großen Mengen zur Ware gemacht wird, dass es als Privateigentum angehäuft wird und Riesen heranwachsen lässt, muss verhindert werden. Der Liquiditätsvorteil, der Geld als privates Eigentum so lukrativ macht, muss begrenzt werden.
(56) Die Selbstorganisation freier Märkte mag einer lebendigen Vielfalt dienen, wenn sie überwiegend regional beschränkt bleibt und nicht die Politik des Gemeinwohls überwuchert. Die Reichweite der »unsichtbaren Hand des Marktes« ist aber nicht groß genug, um die ökologischen und gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit regeln zu können, bevor diese uns überwältigen. Die Eigendynamik der Märkte darf nicht dem Wohl der Weltgemeinschaft hohnsprechen. Die Preise für Lebensmittel, Luxus und Entropie dürfen sich nicht mehr nur nach Angebot und Nachfrage richten. Sie müssen die ökologische Wahrheit abbilden. Mit Lebensgrundlagen darf nicht spekuliert werden. Ihr Wert übersteigt jeden Marktwert. Gaia kann nicht »diskontiert« werden.
Chancen für einen wünschenswerten Wandel
Zwölf Gründe für Zuversicht
(57) Zuversicht ist eine Frage des Wollens. Kann man noch zuversichtlich sein, wenn man »realistisch« bleiben möchte? Die Aussichten sind düster, doch entschieden ist nichts. Die Zuversicht bewahren wird immer schwieriger. Zuversicht ist jedoch immer weniger eine Frage des Könnens, immer mehr eine Frage des bewussten Wollens und der Entschlossenheit, an den besseren, weiterführenden Ideen festzuhalten und danach zu handeln, auch wenn sie bis dato noch utopisch anmuten.
(58) Die Komplexität verhindert »Zementierung«. Viele »reale Verhältnisse«, insbesondere Machtverhältnisse in der globalen Menschengesellschaft, erscheinen uns »zementiert«, weil die Nutznießer dieser Verhältnisse in der Regel die Macht haben, sie genau so zu erhalten oder sogar noch auszubauen. Aus diesem Grund müssen wir auch befürchten, dass in den zunehmend chaotischen Verhältnissen zunehmend das Recht des Stärkeren zur Geltung kommt und totalitäre Bestrebungen erstarken. Da viele Menschen sich nach einer starken Ordnungsmacht sehnen, besteht die Gefahr, dass solche Bestrebungen sich zumindest vorübergehend durchsetzen und der Welt »neue Weltordnungen« aufnötigen, die sehr viel mehr Leid als Lebensqualität mit sich bringen. Selbst wenn es keiner »Verschwörerbande« mächtiger Menschen gelingt, die Geschicke der Menschheit zu lenken, reichen ja schon die herrschenden Verhältnisse, um immer noch größeres Unheil heraufzubeschwören. Doch die Härte des »Zements« täuscht. Wir wissen, dass sich in den Ritzen kompakter und scheinbar lebloser Massen fruchtbarer Staub fängt und allmählich sich auch wieder Pflanzen ansiedeln. Wir wissen, dass die Witterung im Lauf der Zeit Asphaltdecken erodiert und zarten Gewächsen zum Durchbruch verhilft. Ebenso zerrüttet die zunehmend turbulente Fortschrittsdynamik der globalen Beschleunigungskrise starre, »zementierte« Strukturen. Die beängstigende Macht der Umstände beginnt zu bröckeln. Die Macht der Gewohnheiten oder der totalitären Ordnung wird durch zunehmend chaotische Ereignisse destabilisiert. Um diese Tendenz zur heilsamen Selbstorganisation zu unterdrücken, die Strukturen »hart« und alle Freiheitsgrade unter Kontrolle zu halten, muss eine künstliche Ordnungsmacht immer mehr Energie aufwenden. Im Zeitalter der globalen Krise wird dies immer schwieriger. Mit dem Bröckeln der alten Strukturen nimmt auch die Hektik der Ausbesserungsarbeiten zu. Vermutlich werden noch einige der alten Gebäude – der alten Hierarchien und Weltbilder – einstürzen müssen, bevor die notwendige Sanierung der Fundamente in die Wege geleitet werden kann. Es ist jedoch gar nicht so unwahrscheinlich, dass das zunehmende kreative Chaos der Menschengesellschaft die schlimmsten Ausbeutungssysteme zusammenbrechen lässt, bevor alle Ressourcen aufgebraucht und Gaias Menschenfreundlichkeit restlos überlastet ist.
(59) Gaias Resilienz ist groß. Die singuläre Gefahr des Anthropozäns liegt darin, dass wir Menschen Gaias Belastungsgrenzen überschreiten und dadurch ihre Lebens- und Menschenfreundlichkeit vermindern. Wir sehen jetzt wesentliche natürliche Fließgleichgewichte gestört, große Entwicklungslinien drohen in eine gefährliche Richtung zu kippen. Das muss uns erschrecken und uns dazu bringen, Aktivitäten, die wir als falsch erkannt haben, zu unterlassen. Trotzdem haben wir wahrscheinlich auch keine richtige Vorstellung von der Komplexität und Fehlerfreundlichkeit des irdischen Regelkreissystems. Deshalb dürfen wir uns auch die Hoffnung erlauben, dass Gaia »geduldig« genug ist, uns die nötigen Lernprozesse zu ermöglichen.
(60) Die Lernfähigkeit der Menschen ist groß – andernfalls wären sie nicht so erfolgreich gewesen. Es sind hauptsächlich die Großhirnfähigkeiten der Menschen, die sie so erfolgreich werden ließen, dass sie sogar die Resilienz des gesamten Erdsystems bedrohen. Wenn das Lernpotenzial der Menschheit ihrer Fähigkeit, Entropie zu erzeugen, entspricht, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass am Rande der eigenen Vernichtung die rettenden Ideen nicht nur gefunden, sondern auch verwirklicht werden können.
(61) Die Zukunft hält mehr gangbare Wege bereit, als wir sehen können. Sie enthält eine viel größere Zahl an Möglichkeiten, als wir uns auch nur im Entferntesten vorstellen können. Die Zukunft ist wahrscheinlich offener, als es uns vorkommt. Beunruhigende Szenarien erregen unsere Aufmerksamkeit viel stärker als beruhigende. Das beeinflusst auch die Themenwahl unserer Nachrichtenmedien. Dadurch erscheint die Lage möglicherweise aussichtsloser als sie ist.
(62) Die Krise eröffnet neue Freiheitsgrade. Die Krise konfrontiert uns mit Möglichkeiten des Absturzes, die erschreckend wahrscheinlich werden. Der Schrecken und die emotionale Aufruhr korrodieren unsere Denkzwänge und Gewohnheiten. Die globale Beschleunigungskrise zeigt sich in einer Vielfalt von Krisenerscheinungen, die immer mehr von uns dazu nötigen, Denk- und Handlungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, die wir bis dahin gemieden, geschmäht, verboten oder gar nicht gesehen haben. Somit eröffnet die Krise neue Freiheitsgrade – zunächst in unseren Köpfen, dann im Handeln. Alte »Sachzwänge« erweisen sich als Papiertiger, können überwunden werden und behindern nicht länger das Umsetzen besserer Ideen.
(63) Gute Ideen sind ansteckend. Sogar Visionen (»bessere Ideen« in der Vorstellung) sind real wirksam – weil sich das Denken sehr stark auf das Handeln auswirkt. Es ist nicht nur das Sein der Menschen, das ihr Bewusstsein prägt; das Bewusstsein kann neben den Umständen des Seins auch Möglichkeiten erwägen und wirkt damit verändernd auf das Sein zurück. Insbesondere wenn das Sein in eine kritische Instabilität gerät, können die Bewegungen des Bewusstseins im Denken ausschlaggebend werden. In dieser Situation ist es also von Bedeutung, bessere Ideen wenigstens zu denken, auch wenn sie noch utopisch erscheinen. Aus dem Denken entsteht Handeln. Der Zusammenhang zwischen Kopf, Herz, Bauch, Händen und äußeren Umständen ist ein komplexer!
(64) Konstruktive Prozesse sind vielerorts bereits am Werk. In der Krise werden utopische Ideen realistisch und von Pionieren in »Keimzellen« erprobt. Es gibt schon sehr viele solcher »Keimzellen«. Zahllose Initiativen, die an der Verwirklichung von »besseren Ideen« arbeiten, sind weltweit entstanden und weiter am Entstehen. Diese Initiativen wirken zunehmend vernetzt, also sich gegenseitig verstärkend, und ihre Lernprozesse wirken sich mehr und mehr auf den kulturellen und politischen Mainstream aus.
(65) Große Veränderungen bahnen sich im Kleinen an. In einem komplexen dynamischen System entstehen große Veränderungen oft aus unscheinbaren Keimen, aus kleinen Ansätzen im »richtigen Moment«; das »richtig« kann dabei nicht vorausberechnet werden, es kann sich nur in einer großen Vielfalt von Versuchen zeigen, es fällt uns gewissermaßen zu. Es ist also sinnvoll, vieles im Kleinen zu versuchen – der Wandel kommt dann möglicherweise schneller und gründlicher als gedacht.
(66) Große Veränderungen können überraschend schnell eintreten. Unsere Welt ist kein titanisches, schweres Schiff, das seinen unheilvollen Kurs nicht mehr schnell genug ändern kann, weil es der Gefahr schon zu nahe ist und es keine Kraft mehr gibt, die groß genug wäre, um die träge Masse in eine andere Richtung zu lenken. Wir erschrecken vor Gefahren, die bedrohlich in Sichtweite kommen und Unannehmlichkeiten so wahrscheinlich werden lassen, dass sie uns als unvermeidlich erscheinen. Doch die Welt ist ein komplexes Geschehen, und das ist nicht mit einer trägen Masse zu vergleichen. Phasenübergänge verlaufen nicht linear. Veränderungen verlaufen häufig positiv-rückgekoppelt-exponentiell. Schon das Erschrecken bewirkt etwas.
(67) Die öffentliche Meinung ist ein schwingendes System. Was heute noch undenkbar erscheint, ist morgen plötzlich in allen Köpfen. Die Einsicht, die ich mir selbst zutraue, darf ich auch anderen zutrauen; das, was ich als »meine« Einsicht erfahre, besteht überwiegend aus Gedanken, die ich von anderen übernommen habe. Einsicht ist etwas Diffundierendes und Ansteckendes. Es ist daher möglich, dass eine entscheidende Mehrheit der Menschen – auch in den noch wohlhabenden bürgerlichen Demokratien! – über die Absurdität der Systemzwänge des business as usual so weit aufgeklärt und so politisch aktiv wird, dass die Macht der Besitzenden überwunden und die Rahmenbedingungen der Wirtschaft auf dem friedlichen Wege politischer Mehrheitsentscheidung geändert werden können – auch wenn dies gegenwärtig unrealistisch erscheint. Die Wirklichkeit ist emergent – sie geht über das faktisch und real Existierende hinaus, bringt immerzu neue Möglichkeiten hervor und eröffnet neue Chancen, erst recht, wenn die Lage kritisch und chaotisch wird. Wer sich mit seinem »besseren Wissen« alleine fühlt, weil er den »breiten Massen« mangelndes Interesse unterstellt, übersieht in der Regel, dass er selbst Teil dieser Masse ist und sein eigenes Interesse Teil des schwingenden Systems »Zeitgeist«. Wenn mir ein »besseres Wissen« aufleuchtet, darf ich getrost davon ausgehen, dass mich so etwas wie eine feinere Schwingung dieses Zeitgeistes erreicht hat und dass ich wahrscheinlich nicht allein bleibe, wenn ich mich mitteile. Wahrscheinlich sind viele andere Leute auch so gescheit wie ich.
(68) Der Gemeinschaftssinn der Menschen ist groß. Soziales Verhalten ist tief in uns verankert. Die meisten von uns sind kooperativ und sehnen sich nach funktionierenden Gemeinschaften. Wir sind gemeinschaftshungrig, wir möchten uns zusammengehörig fühlen. Das zeigt sich an den vielen gemeinschaftlichen Aktivitäten und Traditionen, an unserem »Herdenverhalten« und auch an chauvinistischen, faschistischen und rassistischen Entgleisungen dieser Veranlagung, bei denen das Bedürfnis nach Abgrenzung pervertiert. Doch der organische Zusammenhang zwischen der Einheit (Gemeinschaft), die anzustreben ist, und der Vielfalt (von Untereinheiten), die zu erhalten ist, wird von immer mehr Menschen erkannt.
Was ICH tun kann, um die Chancen zu erhöhen
Acht Merksätze für den Alltag
(69) Ich autorisiere mich. Ich bin ein politisches Wirkungsquantum. Es ist nicht gleichgültig, was ich tue oder nicht tue. Wenn die Wirklichkeit auf den Flügelschlag eines Schmetterlings reagieren kann, dann ist es auch nicht unerheblich, wie ICH mich in der Wirklichkeit einrichte oder mich ein- oder ausrichten lasse; wie ICH bei all dem Fortschreiten mitwirke; was ICH in die Zukunft mit einflechte. Wenn ICH sehe, dass WIR uns in einer anderen Weise in dieser Wirklichkeit ein- und ausrichten sollten, dann beginne ICH damit bei mir. Und wenn ICH sehe, dass es auf ein gelingendes WIR ankommt, beginne ICH mich als ein eigenwilliges politisches Wirkungsquantum im Dienste einer Gemeinschaft zu begreifen.
(70) Ich entdecke mich im Zuschauerraum – und verlasse ihn. Ich fühle mich zuständig und ergreife selbst die Initiative. Es kommt nicht darauf an, auf alles zu antworten und Großes zu leisten – es kommt darauf an, meinen Möglichkeiten entsprechend zu antworten und zu handeln. Es kommt darauf an, wenigstens einen kleinen Teil dessen, was ich im Rahmen meiner Möglichkeiten tun kann, auch wirklich zu tun, weil ICH es will! Das heißt: mein eigenes Wollen – meinen Eigenwillen – an dem üben, was ICH als richtig, relevant und realisierbar erkannt habe, und damit nicht warten, bis jemand anderes die Initiative ergreift oder bis mich die nackte, panische Angst ums Überleben zu irgendeinem Wollen treibt.
(71) Ich widersage den Argumenten der Ergebenheit. Beispiele: (a) Es kommt, wie es kommt. Da kann man nichts machen. – Wer jetzt sagt, dass nichts mehr zumachen sei, sagt das meistens aus seiner Komfortzone heraus; falls Unannehmlichkeiten tatsächlich spürbar werden, heißt es schnell: Da muss unbedingt etwas gemacht werden! (b) Das Spiel wird von den Mächtigen gespielt. Wir kleinen Leute sind ohnmächtig! – Auch die Mächtigen halten dem zunehmenden Chaos der immer komplizierter werdenden Verhältnisse immer weniger stand. (c) Die Leute sind dumm und wollen vor allem ihre Ruhe und ihr Vergnügen haben! – Wer sind denn »die Leute«? Es sind offenbar immer die Nichtanwesenden. Also die erschlagende Mehrheit der »anderen«. Seltsam, dass sich die so Argumentierenden nie selbst zu den »Leuten« zählen und den »anderen« nie die eigenen Einsichten zutrauen. (d) Das Bewusstsein der Leute ist von den Massenmedien beherrscht, und die sind Sprachrohre der politisch Herrschenden, lenken vom Wesentlichen ab und verhindern somit ein kritisches Bewusstwerden. – Es gibt sehr viele aufrechte Journalistinnen und Journalisten. Auch Massenmedien werden von Menschen gemacht, die sich nicht ohne weiteres kaufen oder zwingen lassen, gegen ihre eigene Wahrhaftigkeit zu verstoßen. (e) Von unseren Volksvertretern ist auch nichts zu erwarten! – Ich kann nicht alle politische Verantwortung auf »die Politiker« abladen. Politik verlangt auch meine eigene Stellungnahme.
(72) Ich kultiviere meinen Zorn. Meine Parole lautet: Depression in Zorn und Zorn in konstruktive Aggression verwandeln! Ich verwende die Energie des Zorns für zupackende konstruktive Aktivität. Aggression (lat. aggredi »herangehen, angreifen«) bedeutet zunächst nichts anderes als »anpacken« und kann destruktiv oder konstruktiv sein, je nachdem, ob ich Personen (oder personifizierte Gegenstände) »angreife« und »erledige« oder eine Arbeit, eine Aufgabe, ein Problem »in Angriff nehme« und zum Nutzen der beteiligten Personen »erledige«. Ich greife Probleme an statt Personen.
(73) Ich erlaube mir, einer Vision zu folgen. Meine Vision ist meine Antwort auf die Frage nach meinem politischen Eigenwillen: Ich mache mir klar, was ich positiv will. Die Vision betrifft Sinn und Ziel. Das Ziel mag in weiter Ferne liegen und vielleicht nicht endgültig erreichbar sein. Aber die Vision weist mir die Richtung, in der ich unterwegs sein möchte, sie motiviert mich von innen heraus. Sie weist mir die Richtung, die ich aufrecht gehen kann. Sie schickt mich auf meinen »Weg mit Herz«. Der Weg ist weit und wartet mit desillusionierenden Hindernissen auf. Streckenweise muss ich ihn selbst erst bahnen, weil ihn noch niemand vor mir gegangen ist. Ohne pragmatischen Realismus würde ich scheitern. Aber ohne eine Vision würde ich mich nicht immer wieder aufraffen. Ich würde wahrscheinlich resignieren. Daher erlaube ich mir, meiner gewachsenen und gepflegten Vision zu folgen. Sie belebt mich. Es wird sich zeigen, wie viel Belastung sie aushält und wie weit ich mit ihr komme.
(74) Ich überprüfe meine Gewohnheiten. Wie gut stimmen sie mit meinen eigenen Ansprüchen überein? Viele meiner Gewohnheiten sind kollektive Verhaltensmuster, die ich mir individuell angeeignet habe, überwiegend unfreiwillig und unbedacht. Sie dienen einem bestimmten Lebensstandard, aber nicht unbedingt einem tieferen Sinn. Einige meiner Gewohnheiten, zum Beispiel solche, die meinen ökologischen Fußabdruck groß werden lassen, habe ich als »ungut« erkannt und bemühe mich, sie durch bessere zu ersetzen. Manche meiner schlechten Gewohnheiten lassen sich leicht verändern, andere nur schwer, je nachdem, wie tief sie sitzen. Alles in allem lassen die Fortschritte, die ich bei meiner eigenen Umerziehung erziele, noch zu wünschen übrig. Vieles verläuft in eingefahrenen Gleisen, die zu verlassen mir schwerfällt. Mein erlebter Alltag drängt mich nicht zu Veränderungen, im Gegenteil, es geht mir, alles in allem, sehr gut. Nachrichten vom Alltag in anderen Erdgegenden rütteln gelegentlich an mir, lassen sich aber leicht wieder abschütteln. Persönlich fühle ich mich meistens geborgen. Die Motivation, ein besserer Erdenbürger zu werden, stammt bis jetzt ja überwiegend aus dem Nachdenken über die überörtlichen Folgen meiner Lebensart, nicht aus dem unmittelbaren Erleben derselben. Auch wenn die Einsicht logisch zwingend ist – sie zwingt mich doch nicht zum Handeln. Der mahnend erhobene Zeigefinger in mir ist schnell in einem blinden Fleck oder einem toten Winkel verschwunden, die Bedenken sind leicht ausgeblendet und zerstreut. Allerdings nur noch vorübergehend. Das Verdrängen und Vergessen klappt immer weniger. Motivierend wirken eigene Fortschritts- und Erfolgserlebnisse, auch ganz kleine, die mir sagen: Sieh an, es geht doch! – und auch die zahlreichen Bemühungen und Erfolge anderer, die ich mitkriege und die mir sagen: Sieh an, es sind schon ganz schön viele, die sich vorwärtsbewegen! Wünschenswerte Trends sind bereits stark, verstärken sich weiter und nehmen mich mit, wenn ich nur dabei sein will!
(75) Ich verbünde mich mit Gleichgesinnten. Das häufig vorgebrachte (bequeme) Argument, dass ich als Einzelne/r machtlos sei, ist schnell widerlegt: Dann schließe ich mich eben einer Vereinigung an, einer Partei oder einer der immer zahlreicher und aktiver werdenden außerparlamentarischen Interessenvertretungen (Non-Governmental Organisations, NGOs), die eine konstruktive Gegenbewegung, wie ich sie für wünschenswert halte, organisieren. Damit gehe ich über die Veränderung meiner privaten Gepflogenheiten hinaus und beteilige mich an der Veränderung der kollektiv organisierten schlechten Gewohnheiten, an der Überwindung von pervertierten Strukturen und Pseudo-Sachzwängen in Politik und Wirtschaft, an der Erneuerung der Leitlinien des Zusammenlebens in der Gemeinde, in der Region, im Staat und auf dem ganzen Planeten. Selbst wenn ich nicht Mitglied einer Organisation bin, kann ich mich doch als Mitglied einer unorganisierten weltgesellschaftlichen Strömung verstehen, die sehr locker sehr viele Menschen vereint, deren Ideen und Absichten den meinen ähneln. Die Verbindung entsteht durch den Diskurs, durchs Miteinander-Reden und Voneinander-Hören. Um in dieser chaotischen Bewegung mitzuwirken, muss ich vor allem bereit sein, meine Ideen und Absichten mit anderen zu besprechen und gemeinsam weiterzudenken. Nicht nur mit den Gleichgesinnten, auch mit den Nicht-Gleichgesinnten.
(76) Ich würdige die Nicht-Gleichgesinnten. Schon im Bündnis der Gleichgesinnten merke ich, dass die Gesinnungen so gut wie nie ganz gleich sind und dass an allen Ecken und Enden immer wieder neuer Streit, neue Diskussionen entstehen. Es gilt, die Kommunikation aufrecht zu erhalten – innerhalb meines Bündnisses und dann auch noch zwischen gegnerischen Bündnissen – und der Härte entgegenzuwirken, die immer häufiger unsere Diskurse erschwert. Ich übe mich also in jener »Weichheit« der Kommunikation, die einen aufrichtigen und würdigen Austausch auf gleicher Augenhöhe ermöglicht – wobei freilich mein eigenes Rückgrat nicht zu weich sein darf, um »aufrecht« bleiben zu können. Konkret heißt das für mich: Ich suche das politische Gespräch in meiner Umgebung, live und persönlich, auch mit Nicht-Gleichgesinnten. Wem immer ich im Gespräch begegne: ich begegne einer Persönlichkeit, die eine eigene geistige Welt mit sich bringt. Ich unterstütze diese Persönlichkeit darin, ihre Sicht der Lage plausibel darzustellen. Ich stelle Fragen und lasse mein Gegenüber antworten, bevor ich selbst Antworten gebe. Ich formuliere Fragen, die uns verbinden, und benenne die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede in unseren jeweiligen Antworten. Ich achte die dabei sich zeigenden Emotionen, Stimmungen und Gemütslagen und widersage jeder entwürdigenden Rhetorik.
Dieses Manifest ist eine Zusammenfassung des Buches »Weiter gegen den Untergang. Eine Auffrischung«, das ich zur Erinnerung an meinen wissenschaftlichen Mentor Peter Kafka (1933-2000, Astrophysiker) verfasst habe und das 2015 bei oekom, München, erschienen ist. — Ernst Weeber, im Mai 2021