Die Perchten erscheinen zur Wintersonnwende, um dunkle Geister zu bannen und die Wachstumsgeister der Natur zu wecken. In der kritischen, entbehrungsreichen Übergangszeit des Jahreskreises ziehen sie als Aufrüttler und Glücksbringer durch die Gemeinde und verkünden die Wiederkehr der Sonne. So wird der Sinn des Rituals „aus alter Zeit“ überliefert.
In unserer Zeit wird hierzulande der Winter jedoch kaum noch als kritisch erlebt. Heute, im 21. Jahrhundert, treiben uns ganz andere Nöte und Ängste um. Trotzdem behält der Brauch seine Attraktivität. Als Botschafter der dunklen Jahreszeit wirken die Perchten weiterhin auf unsere Gemüter ein und auf das Gemeindeleben. Offenbar wecken sie weiterhin die Lebensgeister zumindest derer, die daran teilnehmen. Dürfen wir die Erzählung von der „dunklen, kritischen Übergangszeit“, in der wir Aufrüttler und Glücksbringer brauchen, etwas weiter fassen, unabhängig von der Jahreszeit? Dürfen wir die alte Erzählung updaten? Und ist es vielleicht sogar an der Zeit, die Botschaft, die wir Perchten in die Gemeinde hinaustragen, zu aktualisieren? Oder verfälschen wir damit die Überlieferung?
Ordnung und Chaos
Als ich in den 1990er Jahren zum ersten Mal den Perchten auf ihrem Zug durch die Gemeinde folgte, aufmerksam für die Empfindungen und Assoziationen, die sie in mir hervorriefen, wusste ich zwar von ihrem jahreszeitlichen Bezug, sah und hörte aber vor allem dies: unheimliche, bedrohliche Gestalten, die von einer zentralen, doppelgesichtigen Figur zu einem Kreistanz bewegt werden, unterstützt von weniger bedrohlichen „Ordnungskräften“, die den Takt und die Musik beisteuern. Wenn diese Musiker aufhörten zu spielen und das Zeichen zum Weiterziehen gaben, löste sich der Kreis auf, die Unholde stoben durcheinander, auch ins Publikum. Ich war froh zu wissen, dass man sich vor den Kirchseeoner Perchten nicht fürchten muss, fühlte mich aber mit voller Wucht daran erinnert, dass die Kräfte und Gestalten der Natur gefährlich werden können, wenn sie aus den eingespielten Kreisläufen entweichen. – Die doppelgesichtige Zentralfigur verkörperte für mich das Energiepotential, durch das die Sonne auf unserer Erde Kreisläufe in Gang setzt, und gleichzeitig den Attraktor [1], der die Kreisläufe immer wieder ausbalanciert.
„Raunacht“ verstand ich nicht mehr im jahreszeitlichen Sinn. Ich wandte diesen Begriff, diese Vorstellung unwillkürlich auf das an, was mich seit Jahren gedanklich umgetrieben hatte: die prekäre globale Lage der Menschheit. Davon erzählte mir auch das teuflische Gesicht der Perchtengestalt: Unsere Zivilisation ist in einem „Teufelskreis“ gefangen, aus dem wir Menschen uns befreien müssen mit einem „neuen Bewusstsein“, und dafür stand vor meinen Augen weiterhin die Lichtmetapher und das sonnig strahlende Gesicht der Frau Percht.
Diese beiden Visionen („Gesichte“) stelle ich jetzt als Titel über meine Erzählung: „Raunacht global“ und „Die Wiederkehr der Göttin“. Sie klingen programmatisch, dramatisch und populistisch – und sind auch so gemeint: als schnell aufrufbare Informationsmuster, als „Meme“, die mit den beiden Gesichtern der Frau Percht korrespondieren.
Raunacht global
Wir Menschen verändern unsere irdische Heimat global und so schnell, dass sie uns fremd wird. Der „Fortschritt“ geht mit immer mehr unerwünschten Nebenwirkungen und gefährlichen Turbulenzen („wilden Jagden“) einher. Wir stören die eingespielten biosphärischen Fließgleichgewichte in einem Ausmaß, dass sie zu ungewohnten, chaotischen Ausschlägen neigen. Mutter Natur wird uns wahrscheinlich immer öfter ihr zorniges Gesicht zeigen.
Die Wiederkehr der Göttin
ist für mich der andere Teil der Perchten-Dramaturgie. Das Bild nimmt Bezug auf die Erzählung vom Auszug der Frau Percht: Die „Heimchenkönigin“ hatte für die Fruchtbarkeit der Erde, für Gedeihen und Glück in einer bestimmten Gegend gesorgt, bis die Menschen sich mit ihr entzweiten, weil „ein ernster Mann aus der Ferne“ kam und sie als Teufelsgespenst verunglimpfte. Daraufhin zog sie mit ihrer ganzen Heimchenschar aus der Gegend fort – und der Landstrich verödete. [2]
Welche „guten Geister“ haben wir Menschen vertrieben, die uns jetzt fehlen? Wir beginnen zu verstehen, dass wir Menschen immer noch Teil der lebendigen Natur sind und nicht ihr Gebieter. Wir sind zu Parasiten geworden am Erd-Organismus, experimentieren mit jenem Attraktor, dem sogar Systemwissenschaftler heute wieder einen sinnbildlichen Namen geben: Gaia [3]. So heißt eine der ältesten griechischen Göttinnen, die als Mutter Erde verstanden wurde.
Mutter Gaia hat uns reich beerbt; wir, die Menschen, leben von und mit diesem Erbe, seit es uns gibt. Nun sieht es so aus, als wären wir hochmütig geworden und maßlos: Wir streiten uns um den Besitz des Erbes – unsere Lebensgrundlagen! – und verjubeln und zertrampeln es dabei.
Lange ließ uns die Mutter gewähren, doch nun lässt sie uns die Grenzen spüren. Sie zeigt sich selbst immer deutlicher mit ihrem hässlichen, zornigen Gesicht, das uns aus vielen bedrückenden und beängstigenden Zuständen auf unserem Planeten entgegenblickt. In Kirchseeon, wo man noch ganz gut lebt, schickt sie die Perchten als Aufrüttler in die Neubausiedlungen.
Doch die eigentliche Wiederkehr der Göttin geschieht in unserem Bewusstsein. Sie kehrt wieder, indem wir sie überhaupt erst sehen lernen und ihr dann mit dem nötigen Respekt begegnen.
Welche Botschaft, welches Glück?
Leider ist die Wiederkehr des Frühlings nach der globalen Raunacht nicht so gewiss wie nach der jahreszeitlichen. Bei letzterer spielen die Perchten auch nur eine symbolische Rolle. In der globalen Raunacht spielen wir Menschen dagegen die ausschlaggebende Rolle: Wir müssen die Wende weitgehend selbst gestalten. Wir müssen uns weltweit zu dieser großen gemeinsamen Aktion zusammentrommeln. So lautet der erste Teil der Botschaft des 21. Jahrhunderts.
Welches Glück bringen die Perchten damit aber in die Häuser? Den zweiten Teil der Botschaft: Es gibt – trotz allem! – gute Gründe für Zuversicht! Die aufbauenden Geister sind weiter am Werk und stark im Kommen! Immer mehr Menschen ziehen mit! Die Frau Percht geht weiter um und sorgt für die Kreisläufe! Sie klopft an unsere Türen und ermutigt uns im eigenen Inneren – wenn wir öffnen!
„Zeittypische Sehnsüchte und Ausdrucksweisen“
Ist das nicht die reine Willkür, womit ich hier dem Perchtenbrauch eine neue Bedeutung aufpfropfe? Darf ich das überhaupt?
Ich tu‘s einfach. [4] Ohne etwas erzwingen zu wollen. Ich kann nicht als einzelner Zeitgenosse sagen, wie ein Brauch ab sofort zu verstehen ist. Ich kann nur sagen, was in mir rumort, wenn ich die Perchten laufen sehe: Ich fühle mich aufgerüttelt durch ein Ritual mit allerhand bildgewaltiger Symbolik, sehe darin die wilden Jagden und eine wesentliche Botschaft des 21. Jahrhunderts – und soll schweigen?!
Ein Brauch steht für Kontinuität. Auch die Erzählung, die ihm seine Bedeutung gibt, sollte immer die selbe alte sein. Andererseits sind Bräuche aber auch etwas belebtes (oder sollten dies sein): sie verändern sich über die Generationen hinweg. Wie alt ist denn unser Perchtenbrauch?
„Die internationale Perchtenforschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass heute nicht mehr von ‚germanischen Kontinuitäten‘ und ‚mystischen Wurzeln‘ gesprochen werden kann. Das Perchtenwesen stellt eine Verquickung von Elementen katholischer Erziehung, historischen Formen des Faschings, wie von zeittypischen Sehnsüchten und Ausdrucksweisen dar.“
— Ulrike Kammerhofer-Aggermann (2002) [5]
Wie aber kommen die „zeittypischen Sehnsüchte und Ausdrucksweisen“ in die Brauch-Erzählungen? Wie wird eine neue Sichtweise implementiert? Vermutlich eben durchs Weitererzählen. Es ist kaum vermeidbar, dass sich da „Mutationen“ ereignen, die für einen neuen Einschlag sorgen. Oder der Brauch „schläft ein“ und wird irgendwo mit neu aufgelegter Geschichte wiedererweckt. Vielleicht ist aber auch das, was ich an mir selbst erlebe, ein typischer Vorgang: Jemand sieht ein Brauchgeschehen plötzlich „mit anderen Augen“, als hätte die innere Wahrnehmung einen Kipppunkt überschritten; die neue Wahrnehmung stellt sich als aufregend aktuell neben die alte, die trotz ihrer scheinbar zeitlosen Gültigkeit nun wirklich „alt aussieht“. Und diese/r Jemand beginnt darüber zu reden.
Die neue Erzählung wird ebenso schnell, wie sie ihrer Quelle entsprungen ist, auch wieder versanden – es sei denn, sie wird weitererzählt, weil sie auf eine empfindliche Stelle des „Zeitgeistes“ trifft, auf zeittypische Sehnsüchte und entsprechende Kipppunkte in den Köpfen vieler Menschen. Dann kann sie „viral gehen“, wie man das heute nennt.
Ich hab also gesagt, was ich mir denke: Ich halte es für möglich, dass die Perchten ihre Rolle als raunächtliche Aufrüttler aktualisieren können mit einer aktualisierten Botschaft. Das ist freilich nur ein Gedankenfaden. Wenn er brauchbar ist, wird er da und dort aufgenommen und weitergesponnen werden. Vielleicht auch im Austausch mit anderen Perchtengruppen. Vielleicht können sogar die Krampusse was dazu sagen.
ANMERKUNGEN / QUELLEN
[1] Attraktor: Begriff aus der Systemtheorie; gemeint ist ein stabiler Zustand, zu dem es ein dynamisches System immer wieder „hinzieht“.
[2] Volkssagen aus dem Orlagau – nebst Belehrungen aus dem Sagenreiche, mitgeteilt von W. Börner (Wilhelm Börner), Altenberg, im Verlag bei Julius Helbig, 1838, Seite 113 ff.
[3] Siehe: Wikipedia > Gaia-Hypothese
[4] Erstmals vorgebracht habe ich meine Version dieser „neuen Erzählung“ 2006 in den beiden letzten Kapiteln des Buches Frau Percht – Göttin im Exil? sowie in den vier Perschtenbladl des Jahres 2009 zum Thema „Mutter Erde“.
[5] Kammerhofer-Aggermann Ulrike, Ein Prozess sinnstiftender Identität, Abschnitt. 5.1.1.3, Absatz 2, in: Im Winter und zur Weihnachtszeit. Bräuche im Salzburger Land 01, CD-ROM, Landesverband Salzburger Volkskultur 2002