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Friedrich Schmidt-Bleek
Nutzen wir die Erde richtig?

Die Leistungen der Natur und die Arbeit des Menschen


Frankfurt a.M. 2007 (Fischer); 256 Seiten; ISBN 978-3-596-17275-7
aus der Schriftenreihe FORUM FÜR VERANTWORTUNG
herausgegeben von Klaus Wiegandt






Mehr als zwei Planeten Erde wären nötig, um allen Menschen einen materiellen Lebensstil zu ermöglichen, wie er heute im Westen mit nur 20 % der Weltbevölkerung üblich ist. Doch schon die Konsequenzen unseres Ressourcenverbrauchs sind Klimaänderung, Wüstenausbreitung, ausgetrocknete Flüsse, Erosionen ungeahnten Ausmaßes und häufige Jahrhunderthochwasser. Die Leistungen der Natur, ohne die es den Menschen nicht gäbe und ohne die er nicht leben kann, werden durch unsere Wirtschaftsweise täglich mehr beschädigt. Seit nunmehr 15 Jahren fordert Schmidt-Bleek deshalb eine Dematerialisierung der Wirtschaft um den Faktor 10. Sie ist technisch möglich, ohne Lebensqualität einzuschränken. Sie wird aber nur dann stattfinden, wenn die falsch gesetzten Preissignale auf dem Markt so angepasst werden, dass sich zukunftgewandtes Verhalten lohnt.


Friedrich Schmidt-Bleek


Professor für Chemie, lehrte viele Jahre an Hochschulen in den USA. Der »Vater des deutschen Chemikaliengesetzes« hat bei der OECD die Testmethoden für gefährliche Chemikalien weltweit eingeführt. Er hat zusammen mit Ernst Ulrich von Weizsäcker dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie die Richtung gegeben und im Jahre 2001 in Japan den hoch dotierten World Environment Award verliehen bekommen. Heute leitet er als Präsident das Factor 10 Institut in Carnoules (Frankreich).




Forum für Verantwortung


Die Stiftung FORUM FÜR VERANTWORTUNG fördert Wissenschaft und Bildung, um Menschen ein Handeln aus Einsicht und Verantwortung zu ermöglichen. Es geht ihr zum einen um die Grundfragen des Lebens, die sich den Menschen stellen, die über die Evolution, den Kosmos, die kulturellen Werte, die Religion und vergleichbare Themen nachdenken. Und es geht zum zweiten um die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Menschheit, von denen eine darin besteht, zu einer nachhaltigen Entwicklung zu finden.


Inhaltsverzeichnis


Vorwort des Herausgebers Klaus Wiegandt, Stiftung Forum für Verantwortung
Handeln – aus Einsicht und Verantwortung






Avant Propos






1. Die Erde In Bewegung



Unser Umgang mit natürlichen Ressourcen – Die Dematerialisierung der Wirtschaft – Die Bewegung der Ressourcen – Die Veränderung des Wirtschaftens – Die Notwendigkeit der Dematerialisierung – Der ökologische Rucksack und ein ökologisches Maß – Die Energie im ökologischen Rucksack – Unser Umgang mit Ressourcen – Von der alten zur neuen Umweltpolitik






2. Der wahre Preis der Dinge



Funktionsorientierung – Zwei neue Konzepte – Ökologische Rucksäcke – Der ökologische, der wahre Preis von Dingen – Material-Input-Faktoren: MIF – Fünf verschiedene Rucksäcke – Der Faktor 10 – Auf den Punkt gebracht






3. Das ökologische Maß



Die Kosten pro Dienstleitung – Der ökologische Preis des Nutzens – MIPS ist offenbar das ökologische Äquivalent zu COPS – Die Dienstleistungseinheit S – Ein Beispiel: Dematerialisierter Stahl – was ist das? – Ressourcenproduktivität: Mehr Nutzen für weniger Umwelt – Ressourcenproduktivität der Produktion – Ressourcenproduktivität der Dienstleistung – »Ökologische Preise« und ihre Kennzeichnung – Ökologische Preise – Sagen die Preise die ökologische Wahrheit?






4. Stoffwechsel der Wirtschaft



Ein Exkurs: Der Turm zu Babylon – Untrennbar: Wirtschaft und Ökosphäre – Stoffstrombilanzen – Die Ressourcenstrategie – Stoffströme in Deutschland – Nahrungsstoffwechsel Deutschland – Stoffströme in der EU – Materialflüsse der Weltwirtschaft – Das Bevölkerungsproblem und der Ressourcenverbrauch – Bumerangeffekte – Nachhaltiger Welthandel?






5. Folgen für die Erde



Die Komplexität der Wirtschaft und der Ökosphäre – Die Verwüstungen durch Wirbelstürme – Frühe Warnungen – Das Kyoto-Protokoll: der Weg in die Zukunft? – Nachhaltige Lösungen?






6. Dienstleistungen und deren Nutzen



Praktische Dienste – Luxus und Ressourcen – Dienstleistungen aus der Maschine – Dienstleistungen der Natur – Der Nutzen des Lebens – Wertewandel? – Fokussierung auf Nutzen hilft, Zukunft mit Zukunft zu schaffen – Den ökologischen Nutzen suchen – Das Beste wählen – Die Qual der Wahl – Die neue Kondratieff-Welle – Wer sind die Macher? – MIPS kleiner machen: Dematerialisierung existierender Produkte – Das Unsichtbare gestalten: Innovationen für morgen – Multifunktionsgeräte – Nachhaltigen Nutzen gestalten






7. Die Erde in unserer Hand



Die Produktivität von Arbeit und Ressourcen – Arbeitslosigkeit ohne Aussicht? – Die Richtung der Kosten stimmt nicht – Energie- und Ressourceneffizienz – Falsche Steuern – Full-Cost-Pricing – Die Realität der Ressourcenverschwendung – Innovationen in die falsche Richtung? – Das Aachen-Szenario – Noch fehlen Informationen – Carnoules-Potenziale – Investitionen für morgen – Europas historische Chance






Glossar



Tabellen: Material Input für ausgewählte Rohmaterialien und Produkte (ohne Transport)



Literaturhinweise


Leseprobe


Avant Propos – Wie der Umweltschutz zur Ökostrategie mutierte






Eine Szene vom 31. Dezember 1988. Wir feierten Silvester in der Nähe von Wien, genauer in einem verschneiten Ort namens Biedermannsdorf, und hatten russische Freunde bei uns, unter ihnen Stash Shatalin, der damals ökonomischer Chefberater von Präsident Gorbatschow war. Er hatte Wodka mitgebracht, und Marie hatte ein französisches Essen mit Wein aus der Provence vorbereitet. Als es später wurde und einige unserer Gäste Lieder auf Mütterchen Russland anstimmten, wandte ich mich Stash mit einer Frage zu, die mir schon länger am Herzen lag. Ich wollte wissen, ob es denn nicht Zeit sei, den so erfolgreichen westlichen Umweltschutz auch in der Sowjetunion zu etablieren. Immerhin hatten wir, auf Wunsch des Kremls bei der IIASA (International Institute for Applied Systems Analyses in Laxenburg bei Wien) eine Reihe von Gesetzesentwürfen für die wirtschaftliche Zukunft Russlands diskutiert und westlichen Vorstellungen angepasst. Wir hatten dabei erfahren, wie schlecht es um den Zustand der Umwelt in der Sowjetunion bestellt war, und mir schien es an der Zeit, dort ebenso mit Maßnahmen zum Umweltschutz zu beginnen, wie es bei uns passiert war. Die Antwort auf meine Frage fiel kühl, knapp und klar aus: »Njet.« Und die Bergründung brachte mich auf den harten Boden der Tatsachen zurück. Stash Shatalin erklärte seine Antwort nämlich mit den Worten: »Erst wenn wir so reich geworden sind wie ihr im Westen mit Marktwirtschaft, können wir auch eure Art Umweltschutz bezahlen. «






Das saß. Offenbar war beim alten Umweltschutz etwas völlig schief gelaufen. Es sah so aus, als ob wir Maßnahmen für den Schutz des Planeten Erde entwickelt hatten, die sich nur die reichen Länder leisten konnten. Wenn Russland schon nicht in der Lage war, sich diesen westlichen Umweltschutz zu leisten, wie sollten dies erst viele andere Länder bewerkstelligen? Wie sollten zum Beispiel China, Indien, Indonesien und Brasilien ihre Umweltprobleme lösen? Und was würde geschehen, wenn es den wohlhabenden OECD-Ländern (Organization for Economic Cooperation and Development) wirtschaftlich einmal weniger gut ginge?






Mir ging die Frage nicht mehr aus dem Kopf, wo der Fehler in unserem Denken und unserem System lag. Wenn es mit kostenintensiven, staatlich verordneten Maßnahmen gerade möglich war, den Umweltschutz in ein oder zwei Dutzend reichen Ländern durchzuführen, dann konnte der Planet Erde kaum zu retten sein. Und selbst wenn wir jahrzehntelang auf den Reichtum der anderen Länder warten – war nicht die Schaffung unserer Lebensart gerade der tiefere Grund für die fortschreitende Umweltmisere? Es war merkwürdig: Ausgerechnet ein der russischen Planwirtschaft verschriebener Wirtschaftswissenschaftler legte seinen Finger auf den Fehler unseres westlichen Systems: Es ist systemisch ausgeschlossen, mit Hilfe reaktiver Einzelmaßnahmen grundlegende Fehlleistungen der Wirtschaft zu beheben. Das wurde mir jetzt klar. Aber wie konnte es weitergehen?






Im Jahr zuvor war die Nachhaltigkeit der menschlichen Gesellschaft als oberstes globales Ziel ausgerufen worden. Die Weltwirtschaft sollte hinfort sozial gerecht und im Frieden mit der Ökosphäre Wohlstand für alle schaffen! So klar das klingt, so klar war auch, dass wohl selten in der Geschichte der Menschheit Ziel und Wirklichkeit so wenig miteinander zu tun hatten!






Die große Frage lautet: Wie können wir so leben, dass dies auch in Zukunft möglich ist? Es geht also um Zukunftsfähigkeit, und dieses Konzept kann man als die Fähigkeit der Wirtschaft umschreiben, Wohlstand für alle zu schaffen und gleichzeitig weltweit die natürlichen, sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen für die Zukunft sicherzustellen, von denen diese Fähigkeit abhängt.






Nach dem Gespräch mit Stash Shatalin begann ich, die Wurzeln für unsere Probleme mit der Umwelt aufzuspüren. Was war denn der Grund für die Unvereinbarkeit unserer Wohlstandsgestaltung mit der Erhaltung einer »gesunden« Umwelt? Wodurch und wie verändern wir die natürlichen bio-geo-chemischen Kreisläufe? Warum müssen wir befürchten, die unbezahlbaren Dienstleistungen der Natur zu beschädigen, ohne die wir weder entstanden wären noch überleben können?






Diese Leistungen schließen zum Beispiel die Verfügbarkeit von gesundem Wasser und reiner Atemluft, die Bildung und Erhaltung fruchtbarer Böden, den Schutz vor gefährlicher Strahlung aus dem All, die Vielfalt der Arten, und die Fortpflanzungskraft von Spermien mit ein. Wenn diese Leistungen der Ökosphäre auf dem Markt gehandelt würden, dann wären sie offenbar unendlich teuer. Und selbst wenn man viel Geld dafür ausgeben wollte, so bliebe alles auf kleine Räume beschränkt und nicht für lange Zeit durch Technik zu ersetzen.






Beim Nachgrübeln über diese Einsicht tauchte blitzartig ein neuer Gedanke in mir auf, der in der Rückschau trivial wirkt: Mir fiel Folgendes auf: je mehr natürliche Ressourcen wir durch unsere Wirtschaft pumpen, je mehr wir von unseren Rohstoffen für die technische Schaffung jedes einzelnen Nutzens verbrauchen, desto mehr verändern wir die unserem Leben verfügbare Basis auf der Erde. Jede Bewegung von Masse durch Technik, jede Entnahme von Ressourcen aus der Natur verändert nämlich das Gewebe ihrer dynamischen Gleichgewichte und beeinflusst so die fortlaufende Evolution der Ökosphäre mit unbekanntem Ausgang.






Und der Gedanke reicht weiter: Denn nicht nur die durch Technik verursachten Ressourcenströme verändern die Dynamik ökologischer Gleichgewichte. Es kommt auch zu einer Denaturierung immer größerer Teile der Erdoberfläche. Die Natur reagiert natürlich auf all diese Milliarden von Menschen gemachten Veränderungen. Sie schafft sich neue Gleichgewichte, sie passt sich der neuen Lage an. Kurz, sie wandelt sich. Und keine Wissenschaft und kein Computerprogramm wird jemals in der Lage sein, die Vielfalt und Intensität dieser Änderungen vorhersagen, erkennen und erklären zu können, geschweige denn, sie wieder ungeschehen zu machen.






Die Schlussfolgerung aus meiner Erkenntnis war ebenso trivial wie die Erkenntnis selbst: Je besser die Materialeffizienz, je weniger Fläche versiegelt wird, je höher also die Ressourcenproduktivität aller Prozesse, Güter und Serviceleistungen wird, desto weniger werden wir die uns tragende Ökosphäre überfordern. Bildlich gesprochen heißt das: Wir sollten die Wirtschaft innerhalb der von der Natur vorgegebenen Leitplanken einrichten. Vorsorgender Umweltschutz und nachhaltige Wirtschaftspolitik bedeuten demnach vor allen anderen Dingen, mit natürlichen Ressourcen viel sparsamer umzugehen, als wir uns dies im Wachstumsrausch der letzten hundert Jahre angewöhnt haben.






Kurz vor dem Ende ihrer Karriere als Umweltministerin im Jahre 1998 hat Angela Merkel einen Kabinettsbeschluss mit dem Ziele erwirkt, bis 2005 solle die Ressourcenproduktivität der deutschen Wirtschaft um den Faktor 2,5 wachsen. Diese Idee verfolgten die Grünen in Berlin nicht weiter, nachdem sie den Schutz der Ökosphäre als Regierungsverantwortung übernommen hatten. Noch etwas zaghaft, aber unübersehbar spielt die Ressourcenproduktivität als strategisches Element im Koalitionsvertrag vom November 2005 eine neue Rolle. Am 9. Januar 2006 sagte der Bundesumweltminister Sigmar Gabriel in der Süddeutschen Zeitung: »Viel spricht dafür, dass die Energie und Rohstoffintelligenz zur Basistechnologie unseres Jahrhundert wird.«






Es muss gelingen, ganzheitliche Politik zur Schaffung von zukunftsfähigem Wohlstand zu betreiben. Noch sind die Konturen nicht erkennbar, wie die verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit zusammengeführt und in ausgewogene politische Entscheidungen münden sollen. Was wir als Bürgerinnen und Bürger zur Gestaltung der Zukunft in Deutschland und Europa beitragen können, will Ihnen das vorliegende Buch näher bringen. Eine zentrale Rolle wird dabei die Mehrung des Nutzens spielen, wie dies im Eid der Bundeskanzlerin beschworen wird.









Auszüge aus
1. Die Erde in Bewegung






Menschen arbeiten für eine bessere Welt, und sie wollen dazu die Natur nutzen. Um dies möglichst effizient und erfolgreich tun zu können, haben sie die Wissenschaft erfunden. Wer die Naturgesetze kennt, wird in der Lage sein, mit ihrer Hilfe »die Bedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern«, wie das Ziel von Forschung und Technik in den Worten formuliert wird, die Bertolt Brecht seinem Galilei in den Mund legt. Und es braucht nicht betont zu werden, dass es viele Menschen in den letzten Jahrhunderten unter dieser Vorgabe zu spürbarem Wohlstand mit umfassender materieller und sozialer Sicherheit gebracht haben – erst in Europa und dann auch an anderen Stellen der Welt.






Wir nutzen die Natur aber nicht nur durch Anwendung ihrer Gesetze. Wir nutzen die Natur eher noch stärker durch den Verbrauch der Ressourcen, die sie uns kostenlos zur Verfügung stellt, zum Beispiel in Form von Öl, Mineralien, Land und Wasser. Und wir wenden ungeheure Mengen an Energie auf, um diese Ressourcen in gigantische Materialströme zu verwandeln, die den Globus umrunden, um dorthin zu gelangen, wo die Menschen leben, die versorgt werden wollen. Wir versetzen schon länger immer mehr die Erde in Bewegung, um unseren Nutzen zu mehren, und merken erst nach und nach und viel zu langsam, dass dieses Verfahren Grenzen hat. Nach übereinstimmender Ansicht vieler Wissenschaftler, die sich mit Fragen der Ökonomie und der Ökologie beschäftigen, reichen die Rohstoffe, die auf unserem Planeten zur Verfügung stehen, nicht einmal annäherungsweise, wenn alle Menschen so viel davon verbrauchen, wie es die derzeitigen Spitzenkonsumenten in Europa und Amerika tun.






Unser Umgang mit natürlichen Ressourcen






Eine Konsequenz aus diesem Tatbestand besteht in der Verpflichtung unserer Gesellschaft, eine Symbiose von Umweltschutz und Marktwirtschaft zu finden. Mit anderen Worten, wir sollten versuchen, aus den Ressourcen, die wir der Umwelt entnehmen, mehr zu machen, als dies bisher geschieht. Wenn wir Produkte und Umweltgüter (Wasser, mineralische Rohstoffe, Böden usw.) effizienter als bisher nutzen würden, dann müssten wir der Natur nicht nur weniger Ressourcen entnehmen. Wir hätten es auch an der Stelle leichter, an der der Umweltschutz historisch gesehen eine entscheidende Aufgabe gesehen hat, nämlich bei den Abfällen, die wir in die Umwelt einleiten und mit denen wir Boden, Luft und Wasser belasten. Denn wenn es gelänge, mit einem geringeren Verbrauch von Ressourcen zumindest einen dem heutigen vergleichbaren Wohlstand zu schaffen – wenn es, mit anderen Worten, möglich würde, die Ressourcenproduktivität gezielt und geplant zu steigern –, dann würde unsere Wirtschaft zuletzt auch weniger Emissionen und Abfälle produzieren, wozu außer nutzlos gewordenen Produkten auch abgerissene Häuser und Infrastruktureinrichtungen wie Straßen, Brücken und Ähnliches zu rechnen sind. Da Ressourcen Geld kosten, könnte bei geeignetem Umgang mit ihnen unter günstigen Verhältnissen sogar ein doppelter Gewinn entstehen, nämlich geringere Kosten für unseren materiellen Wohlstand bei gleichzeitig verminderter Belastung der Ökosphäre.






Wir müssen den Hunger unserer Wirtschaft nach immer mehr Rohstoffen dämpfen. Eine der großen Aufgaben für die Zukunft besteht darin, die Wirtschaft zu dematerialisieren und andere Entwicklungsmöglichkeiten und Wachstumswege für sie zu finden.






Die Dematerialisierung der Wirtschaft






»Daß Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch voneinander abgekoppelt werden müssen«, wie hier dringend empfohlen wird, haben die Präsidenten und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten bereits im Jahre 2001 als notwendige Voraussetzung für das Ziel erkannt, das inzwischen als »nachhaltige Entwicklung« Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hat. Unter einer nachhaltigen Entwicklung versteht man demnach eine Entwicklung, die die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen in Rechnung stellt und so ausgerichtet ist, dass alle Tendenzen vermieden werden, die sich für die Lebensqualität nachfolgender Generationen einschränkend auswirken können.






Nachhaltige Entwicklung meint eine Verbesserung der Lebensumstände mit mehr Zufriedenheit und Wohlbefinden in Sicherheit und Würde für die große Mehrheit der heute lebenden Menschen. Und darum geht es auch in diesem Buch, das keine Einschränkung des zuletzt erreichten Wohlstands predigen, sondern stattdessen Wege aufzeigen will, wie ein zukunftsfähiges Wachstum durch gezielte Einsparung von Ressourcen sogar weltweit gelingen kann und auf diese Weise mehr Menschen an ihm teilhaben lässt.






Als Stichwort haben wir das Konzept der Dematerialisierung genannt. Ist dieses Ziel erst einmal verstanden und akzeptiert, dann wird sich auch die technische und ökonomische Phantasie an ihm und anders als bisher orientieren. Ein völlig neuer Markt für ökointelligente Produkte und Dienstleistungen könnte entstehen, wie noch ausgeführt werden wird. Das Innovationspotenzial wäre enorm, und mit ihm die Chance für aufmerksame Unternehmer und Geschäftsleute, mit größerer Entschlussfreudigkeit und besseren Ideen als die Konkurrenz einen zusätzlichen Gewinn zu machen. Zugleich könnten auch neue Arbeitsplätze entstehen. Diese Herausforderungen und die erfreulichen Chancen für die Wirtschaft sind ein zentrales Thema dieses Buches.






(...)






Der ökologische Rucksack und ein ökologisches Maß






Wenn es richtig ist, dass wir zu viele natürliche Ressourcen verbrauchen, um unseren Wohlstand zu schaffen, um Mausefallen und Musikpaläste, Autos und Autobahnen zu bauen, dann heißt das doch, dass alles, was produziert worden ist, einen großen Ballast mit sich herumschleppt, einen Berg von Natur, der für dieses Produkt in Bewegung gesetzt worden ist – eben einen großen ökologischen Rucksack. Es ist natürlich ein unsichtbarer Rucksack, denn ich kann dem Computer auf meinem Schreibtisch nicht ansehen, dass zu seiner Herstellung mehr als 14 Tonnen solide Natur umgeschaufelt und gründlich verändert wurden. Genauso wenig kann ich sehen, dass der Rucksack noch um mehrere Tonnen schwerer wird, während ich den Computer benutze, denn in dieser Zeit braucht er ebenfalls Ressourcen, Energie zum Beispiel. Mein Fußboden würde einbrechen, wenn dieser Rucksack in meinem Büro gefüllt würde. Doch geschieht dies an ganz anderen Orten, und so bekommen wir ihn nicht zu Gesicht.






Es ergeben sich überraschende Einsichten, aus denen viele Menschen Konsequenzen ziehen werden. Wen kann es kalt lassen, wenn er erfährt, dass – ökologisch gesehen – der Goldring am Finger des Familienvaters mehr wiegt als der Kleinbus, in dem er seine Kinder spazieren fährt? Dies ist aber der Fall, denn Gold ist wegen der aufwendigen Abbaumethoden ein ökologisch besonders »teures« Material. Im Durchschnitt schleppt jedes Kilogramm Industrieprodukt bei uns etwa 30 Kilogramm Natur mit. Das bedeutet, dass heute weniger als 10 % der in der Natur bewegten Materialien letztlich in nutzbringende Industrieprodukte verwandelt werden.






Meine Forderung ist daher klar, und sie lautet in der einfachen Sprache der Medien: Entrümpelt die Dinge gründlich! Nicht mit Materialaufwand klotzen, sondern mit Intelligenz! Mit Intelligenz kann Technik viel besser gemacht werden; und sie muss es auch. Sonst bricht die ganze natürliche Basis unserer Wirtschaft zusammen, und es gibt keinen anderen Boden, auf dem wir stehen können.






Wer fordert, die Wirtschaft müsse dematerialisiert und die dazugehörigen ökologischen Rucksäcke müssten leichter und kleiner werden, der muss auch sagen, wie man den Materialverbrauch und die Größe der Rucksäcke bestimmen und quantifizieren kann. Und dies muss nicht nur möglichst einfach und unzweideutig, sondern auch so geschehen, dass die Ergebnisse schnell und mit der nötigen Zuverlässigkeit vorliegen. In der Praxis ist die Zeit nicht verfügbar, in jedem Einzelfall eine wissenschaftliche Studie über den Ressourcenverbrauch anzustellen. Aber für die praktische Anwendung müssen die Daten auch nicht allen wissenschaftlichen Detailanforderungen genügen; es genügt, dass sie verlässlich und »richtungssicher« sind, also bei aller verbleibenden Unschärfe in der Größenordnung stimmen und die handelnden Personen in die richtige Richtung lenken. Jeder Designer in der Industrie, jeder Manager in den Führungsetagen und jeder Handwerker vor Ort muss in der Lage sein, mit Hilfe eines einfaichen Maßes Alternativen zu erkennen, zwischen ihnen zu entscheiden und zumindest die richtige Richtung einzuschlagen. Dieses Maß muss so konstruiert sein, dass es international akzeptiert werden kann, einerlei, ob für den Vergleich der Ressourceneffizienz von Mausefallen oder den Vergleich der Wirtschaftssysteme von Deutschland und Japan.






Das so genannte MIPS-Konzept erfüllt diese Anforderungen. Die vier Buchstaben MIPS stellen dabei die Abkürzung für »Material-Input pro Einheit Service« dar, wobei das letzte Wort für die Dienstleistungen steht, die schon angesprochen wurden. Der Materialinput (MI) umfasst alles, was an natürlichen Rohmaterialien bewegt und eingesetzt wird, um Sachgüter herzustellen, zu gebrauchen, zu transportieren und auch zu entsorgen: Sand, Wasser, Kohle, Erde, Erze, Raps und Bäume, eben alles, was wir von der Ökosphäre brauchen.


Schriftenreihe


aus dem PROJEKT NACHHALTIGKEIT des FORUMs FÜR VERANTWORTUNG






1.

Jill Jäger: Was verträgt unsere Erde noch?
Wege in die Nachhaltigkeit (ISBN 978-3-596-17270-2)



2.

Klaus Hahlbrock: Kann unsere Erde die Menschen noch ernähren?
Bevölkerungsexplosion – Umwelt – Gentechnik (ISBN 978-3-596-17272-6)



3.

Friedrich-Schmidt-Bleek: Nutzen wir die Erde richtig?
Die Leistungen der Natur und die Arbeit der Menschen (ISBN 978-3596-17275-7)



4.

Mojib Latif: Bringen wir das Klima aus dem Takt?
Hintergründe und Prognosen (ISBN 978-3-596-17276-4)



5.

Wolfram Mauser: Wie lange reicht die Ressource Wasser?
Vom Umgang mit dem blauen Gold (ISBN 978-3-596-17273-3)



6.

Rainer Münz / Albert F.Reiterer: Wie schnell wächst die Zahl der Menschen?
Weltbevölkerung und weltweite Migration (ISBN 978-3-596-17271-9)



7.

Stefan Rahmsdorf / Katherine Richardson: Wie bedroht sind die Ozeane?
Biologische und physikalische Aspekte (ISBN 978-3-596-17277-1)



8.

Hermann-Josef Wagner: Was sind die Energien des 21. Jahrhunderts?
Der Wettlauf um die Lagerstätten (ISBN 978-3-596-17274-0)



9.

Josef H. Reichholf: Ende der Artenvielfalt?
Gefährdung und Vernichtung von Biodiversität (ISBN 978-3-596-17665-6)



10.

Harald Müller: Wie kann eine neue Weltordnung aussehen?
Wege in eine nachhaltige Politik (ISBN 978-3-596-17666-3)



11.

Bernd Meyer: Wie muss die Wirtschaft umgebaut werden?
Perspektiven einer nachhaltigeren Entwicklung (ISBN 978-3-596-17278-8)



12.

Stefan H. E. Kaufmann: Wächst die Seuchengefahr? Globale Epidemien und Armut:
Strategien zur Seucheneindämmung in einer vernetzten Welt (ISBN 978-3-596-17664-9)






»Es wird niemanden überraschen, wenn im Hinblick auf die Bedeutung von wissenschaftlichen Methoden oder die Interpretationsbreite aktueller Messdaten unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Unabhängig davon sind sich aber alle an diesem Projekt Beteiligten darüber einig, dass es keine Alternative zu einem Weg aller Gesellschaften in die Nachhaltigkeit gibt.« (Aus dem Vorwort des Herausgebers)






Hörbuch:




Die Erde hat Fieber
Eine Produktion der Initiative Mut zur Nachhaltigkeit
Autor und Sprecher: Gábor Paál, Laufzeit: 70 Minuten
kann kostenlos als MP3-Datei heruntergeladen werden







Mehr Informationen zu den einzelnen Bänden und eine kostenlose Download-Möglichkeit des Hörbuches als MP3
siehe
PROJEKT NACHHALTIGKEIT


Siehe auch


Die Faktor 10/MIPS-Geschichte




Die globale Lage – Buchempfehlungen
www.langelieder.de