Vine
Deloria
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»Vine
Deloria Jr. wurde am 26. März 1933 in der Präriesiedlung
Martin, South Dakota, geboren und wuchs auf dem Reservat der
Standing Rock Sioux auf, wo sein Vater der Episcopalkirche
vorstand. Der Familienname soll von einem französischen
Trapper namens De Lauriers stammen, der von den Sioux Ende des
18. Jahrhunderts in den Stamm aufgenommen worden war. Nach seiner
Militärzeit bei der Marine studierte Vine Jr. Theologie und
Jura und machte sich bald einen Namen als Korrektor der
herrschenden Geschichtsschreibung und Zerstörer von Mythen.
Während er historische und kulturelle Mythen der weißen
Welt zerlegte, widmete er sich mit Sorgfalt jenen seines Volkes.
„Wir haben den Weißen Mann in 500 Jahren ganz schön
weit gebracht, von der kindischen Suche nach Jungbrunnen und
Städten aus Gold bis zu der Einsicht, dass die
Unversehrtheit des Landes Voraussetzung für die menschliche
Existenz ist,“ schrieb er 1976 in der New York Times. –
Wenn er nicht lehrte, schrieb er: Er lehrte an der University of
Arizona in Tucson, später ging er an die University of
Colorado nach Denver; dazwischen schrieb er über 20 Bücher.
In „God is Red“ argumentierte er, dass indianische
Spiritualität mehr auf die Bewahrung der Schöpfung
ausgerichtet sei, als die christlichen Kirchen, in „We
Talk, You Listen“ sieht er eine Rückkehr zu
Stammesstrukturen und deren Werte als einzigen Ausweg für
die Industriegesellschaft. In „Metaphysics of Modern
Existence“ durchleuchtet er unsere aufgeklärte Kultur,
in „Red Earth, White Lies“ stellt er die Archäologie
der dominanten Gesellschaft auf den Kopf. Immer war seine
Provokation in großartigen Sprachstil gewandet und von
Humor durchsetzt.« (Aus einem Nachruf von Claus Biegert) –
Vine Deloria starb am 13. November 2005.
»Vine
Deloria jr. passt in kein Indianerbild: Unscheinbar gekleidet,
der Sprache der Weißen mächtiger als viele Weiße,
agiert er zwischen Hörsaal und Schreibtisch und schockt
jene, die sich an seiner westlichen Erscheinung erfreuen, mit
polemischen Reden und Schriften gegen das System. Als Akademiker
(Jurist und Theologe) und Stammesmensch (Oglala-Lakota) ist er in
beiden Amerikas zuhause und entkam bisher allen Klischees. Obwohl
er darauf bedacht ist, konservativen Historikern und Ethnologen
nicht zu nahe zu kommen, wird er von ihnen zitiert. Über
weiße Wissenschaftsgläubigkeit und gehorsamen Respekt
vor dem Professorenstuhl amüsiert er sich, sobald die
Sprache darauf kommt. Seit Ende der sechziger Jahre nimmt er
schreibend am Widerstandskampf der Ureinwohner teil. Neben
juristischer Hilfestellung bei politischen Prozessen gilt sein
spezielles Interesse den verfassungsrechtlichen Aspekten und
Konsequenzen, die sich für die indianische Seite aus
Vertragsabschlüssen mit der US-Regierung ergeben, vor allem
hinsichtlich einer völkerrechtlichen Anerkennung existenter
und souveräner indianischer Nationen. Kritiker verurteilen
seine Zurückhaltung gegenüber indianischen
Protestaktionen, doch dringt er mit seiner Arbeit in die Medien
und Gerichte und unterstützt die Bewegung so auf seine, eine
nicht minder notwendige und wirkungsvolle Weise.« („Über
den Autor“ in „Gott ist rot“)
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lrgendwann
in der Zukunft, wenn es noch eine Zukunft für die Menschheit
gibt, werden die Historiker vielleicht einmal sagen, daß
der Zweite Weltkrieg der Wendepunkt in der Geschichte war.
Obgleich auch andere Kriege Weltkriege genannt wurden, vor allem
weil die Gegner sich als Mittelpunkt des Weltgeschehens sahen,
war der Zweite Weltkrieg doch der einzige Konflikt, von dem jede
große Nation der Erde betroffen wurde. Als globaler
Konflikt trug er viel dazu bei, den Dünkel und die Anmaßung,
mit denen sich der europäische Imperialismus vier
Jahrhunderte lang ummäntelt hatte, bloßzustellen und
zu beseitigen. War nicht behauptet worden, daß europäische
Kultur und Religion ein Geschenk dieses Teils des Globus an die
weniger glücklichen Mitglieder der Weltfamilie seien? Als
Gegenleistung wollten die Europäer angeblich nur
Handelsbeziehungen und Absatzmärkte für ihre
Erzeugnisse.
Von den nichtweißen Völkern wurde
dieser Mythos vom weißen Mann zum Teil anerkannt, weil
dessen Technik derjenigen der Bewohner anderer Kontinente so
offensichtlich überlegen war. Die farbigen Völker maßen
dem weißen Mann besondere Weisheit und Genialität bei,
weil er Geheimnisse des Universums kannte, die ihnen selbst
verborgen geblieben waren. Nirgends aber waren der kulturelle
Schock und die falsche Einschätzung der Fähigkeiten des
andern tragischer als bei den Ureinwohnern der westlichen
Hemisphäre. Manche Indianer glaubten, einem unbekannten Tier
oder sogar Göttern gegenüberzustehen, als ihnen weiße
auf Pferden begegneten. Als sie allerdings später merkten,
daß es nur Menschen waren und sogar sehr grausame, machten
sie sich einen Spaß daraus, sie in Stücke zu hauen.
Die Azteken sahen in Cortez natürlich den wiedergekehrten
Quetzalcoatl, mußten aber mit Entsetzen feststellen, daß
er nicht die Erfüllung ihres Glaubens brachte, sondern eine
fremde Religion, die den Körper zu vernichten trachtete,
wenn dadurch die Seele gerettet wurde.
Wie bedeutsam der
Zweite Weltkrieg war, zeigt die rasche Folge von Niederlagen der
Amerikaner, Briten, Holländer und Franzosen in Südostasien
und im Südpazifik. Vorher immer für unbesiegbar
gehalten, waren jetzt die Weißen nur Menschen wie andere
auch und durch die eigene Technik in den Händen anderer
genauso ein Opfer, wie es die farbigen Völker in den
Jahrhunderten der Kolonisation gewesen waren. Und diese Erfahrung
trug ihre Früchte. Wer über die entsprechenden
technischen Einrichtungen verfügte, machte sich politisch
und wirtschaftlich unabhängig. Der europäische Mythos
hat sich nie mehr erholt, und es gab seitdem viele Kriege und
Befreiungskämpfe. Sie begannen in Südwestasien und
Indien und setzten sich in Afrika und im Nahen Osten fort, Ende
der sechziger und in den siebziger Jahren auch in der westlichen
Hemisphäre. Die Entstehung der sogenannten Dritten Welt ist
eine direkte Folge der Tatsache, daß die Bedeutung der
westlichen Zivilisation in der Technik liegt und nicht in Kultur
und Religion. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine Ära der
gegenseitigen technischen Abhängigkeit und der kulturellen
und politischen Unabhängigkeit.
Von westeuropäischer
Kultur und Religion sich zu lösen ist für die meisten
nichteuropäischen Völker sehr schwer, denn die Technik,
die sie ja übernehmen wollen, ist mit dieser Weltanschauung
untrennbar verbunden. Die westliche Technik verlangt einen ganz
neuen Sinn für Zeit, sie entheiligt die Natur und setzt an
die Stelle von Großfamilie und Sippe die isolierte
Kleinfamilie. Diese grundlegende Umwandlung der
Gesellschaftsstruktur hat rückwirkend wieder ein wachsendes
Interesse ausgelöst an den kulturellen Werten, religiösen
Vorstellungen und historischen Überlieferungen der Völker,
die dabei sind, die westliche Technologie zu übernehmen. Das
Interesse bleibt allerdings meist auf die Freizeit beschränkt,
denn man hat es fertiggebracht, die Zeit – je nach Gebrauch
– säuberlich in zwei Hälften zu teilen:
Arbeitszeit und Freizeit, und beide haben ihre eigene, gesonderte
Gefühlswelt.
Die Indianer waren nicht immun gegen die
Vorteile der Technik. In den Jahrzehnten nach dem Krieg begannen
sie auf den Reservaten mit umfangreichen Entwicklungsprojekten,
an die sie vorher nie gedacht hätten. In vielen Fällen
degenerierte Stammesland zum bloßen Grundstück, das
des Geldes wegen ausgebeutet wurde. Damit hörte es auf,
traditionsgemäß die Heimat einer bestimmten
Menschengruppe zu sein. Ein stets gegenwärtiges Problem
derjenigen Indianer, die ihr Leben nach amerikanischem Standard
zu modernisieren versuchen, ist inwieweit sie ihre älteren
kulturellen und gesellschaftlichen Formen angesichts der
Forderungen der Technik bewahren können.
Der hierin
erfolgreichste Stamm sind die Lummi im Nordwesten des Staates
Washington. Von alters her Fischer, sind sie jetzt zu Experten
der Aquakultur geworden. Durch Anwendung wissenschaftlich
verbesserter Fischzuchtmethoden gelang es ihnen, ihre auf
Fischfang begründete Kultur zu erhalten. Andere Stämme
hatten nicht solchen Erfolg, und ein großer Teil fiel
einfach der Technik zum Opfer.
Während die Indianer
im Rahmen dieses Anpassungsprozesses die Hand nach der Regierung
und privaten Organisationen ausstreckten, die ihnen bei der
Umstellung helfen sollten, entstand unter den Amerikanern eine
seltsame Gegenbewegung von Leuten, die sich immer mehr von der
Technik und den sozialen Einrichtungen, die sie selbst geschaffen
haben, abwenden. In der amerikanischen Gesellschaft ist eine
fieberhafte Suche nach spirituellen Werten aufgekommen, die sich
auf verschiedene Weise zeigt. Fundamentalistische christliche
Sekten machen im Fernsehen durch attraktive Vertreterinnen auf
sich aufmerksam, die mehr wie Gäste einer Talkshow und nicht
wie religiöse Führungspersönlichkeiten aussehen.
Solche Sekten sind für viele derjenigen Amerikaner zu einem
wichtigen politischen und sozialen Faktor geworden, die die
moralische Autorität einer Religion wollen, der sie die
Entscheidungen überlassen können. Andere Amerikaner
haben sich östlichen Religionen und religiösen
Praktiken zugewandt, die von Reverend Moon bis Yoga, von
Reinkarnation bis Astrologie reichen.
Das Interesse an
exotischen Religionen ließ auch indianische
Stammesreligionen sehr populär werden. Viele Amerikaner
sehen in ihnen Beispiele uralter Weisheit mit menschlichen und
ökologischen Einsichten, die westlichen religiösen
Vorstellungen überlegen sind. Die Ausstattung der
Stammesreligionen mit solch einem neuen Glanz war für die
meisten Indianer eine Überraschung. Nachdem sie über
dreihundert Jahre lang verhöhnt und ausgelacht wurden, weil
sie hartnäckig an ihren Riten und Zeremonien festhielten,
sind sie über die neue Popularität völlig
verblüfft. Manche haben die Situation ausgenutzt und sich
Vorteile bei naiven jungen Weißen verschafft, die in den
Reservaten nach Gurus suchen, aber im allgemeinen haben die
Indianer sich in dieser Lage verantwortungsbewußt
verhalten.
Andererseits aber sind die Erwartungen der
Amerikaner auch kaum zu erfüllen. Viele Weiße messen
den Stammesreligionen Kräfte und Einsichten bei, die diese
oft gar nicht hatten. Gereiftere Weiße suchen Erkenntnisse,
die ihnen bei sozialen und politischen Fragen helfen könnten.
Auch diese Erwartungen beruhen zumeist auf dem typisch
amerikanischen Glauben, daß alle anderen Kulturen,
Religionen und Überlieferungen nur Varianten der Art und
Weise sind, in der die Weißen die Welt sehen: Erkenntnisse,
die sie vielleicht übersehen oder beiseite geschoben haben,
ganz gewiß aber Geheimnisse und Vorstellungen, die leicht
erlangt und konsumiert werden können. Es wird auch vieles in
die indianischen Glaubensvorstellungen und Rituale projiziert,
was in Wirklichkeit anderen Überlieferungen zugehört,
immer in der falschen Überzeugung, daß die Einsichten
aus Stammesreligionen sich Stück für Stück
aneignen und im nichtindianischen Kontext nutzbar machen
lassen.
(…)
Obleich wir die
Gegenüberstellung von Indianern und Nichtindianern auf
diesem Gebiet auch als wirtschaftliches und politisches Problem
sehen können und oft die besessene Suche nach religiöser
Gewißheit in andere Begriffe des praktischen Lebens
übersetzen müssen, ist der eigentliche Hintergrund, vor
dem sich dieser Konflikt abspielt, die theologisch-philosophische
Arena, wo die Einstellung zur Welt davon bestimmt wird, wie man
sie grundsätzlich sieht. Die unterschiedlichen Einstellungen
und Verhaltensweisen rühren nämlich von
grundverschiedenen Wahrnehmungen der Wirklichkeit her, zu deren
Beschreibung eine Reihe von Begriffspaaren vorgeschlagen wurde.
Manche Indianer sehen den Grund für diese philosophische
Divergenz darin, daß die einen glauben, die Welt sei
belebt, während die anderen sie für tot halten, woraus
man eine spirituelle und eine materielle Weltanschauung ableiten
kann. Andere Indianer ziehen zum Vergleich den Unterschied
zwischen Kunst und Wissenschaft heran, wobei die Wissenschaft für
alles einen äußeren Bezugsrahmen sucht, während
die Kunst einer intuitiv erfaßten Substanz von ihrer
inneren Wahrheit her Ausdruck verleiht. Schließlich traf
vor vielen Jahren ein Häuptling der Crow-Indianer noch eine
andere Unterscheidung. Er sagte, die Weißen hätten
Vorstellungen und die Indianer Visionen, und wies damit auf die
Ganzheitlichkeit der indianischen Erfahrung hin im Gegensatz zur
Einstellung der Nichtindianer, die nur das für ihre
Situation Begreifliche und strukturell Nützliche
erkennen.
Aber gleichgültig, wie wir die
unterschiedliche Auffassung von Indianern und Nichtindianern
sehen, jedenfalls trennt sie ein theologisch-philosophischer
Abgrund. Die Trennung ist so grundsätzlich, daß es
sehr schwer ist, Nichtindianern den Unterschied klarzumachen,
weswegen diese unbekümmert der Meinung sind, ihre Art, die
Welt zu sehen, sei die einzig wahre. Wenn wir jedoch beide
Einstellungen auf philosophische Begriffspaare reduzieren,
erkennen wir, wie groß und bedeutsam der Unterschied in
Wahrheit ist. Es ist der zwischen einem Volk, das in der Natur
lebt, und einem anderen, das in der Geschichte lebt. Indianer
sind natürliche Umweltschützer, aber nicht etwa
deshalb, weil sie eine besondere Erleuchtung über den Umgang
mit der Welt von den spirituellen Mächten des Universums
erhielten. Sie haben sich vielmehr von der Natur leiten lassen,
indem sie die Verhaltensweisen der anderen Lebewesen nachahmten
und sich ihrer natürlichen Umwelt anpaßten. Die
Nichtindianer hingegen entdeckten, daß die Struktur der
Welt sich verändern läßt, und richteten ihr
Verhalten nach dem zeitlichen Ablauf von Ereignissen und nicht
nach dem Ort, an dem diese stattfinden.
Der gegenwärtige
theologisch-philosophische Streit in Nordamerika um die Seele des
Kontinents wird zwischen Natur und Geschichte geführt,
zwischen den Befürwortern eines Lebens in der natürlichen
Welt und den Fortschrittsgläubigen, die alles, was sie an
Schwierigkeiten und Hindernissen in der Umwelt sehen, durch noch
mehr Fortschritt überwinden wollen. Wounded Knee, Alcatraz,
Fort Lawton und die Konfrontation in den Black Hills in
Süd-Dakota: alle kreisen um die indianischen Landansprüche,
die viel mehr als nur ein Eigentumsanspruch sind. Es geht dabei
um die holistische indianische Vorstellung, daß die
Beziehung des Menschen zum Land wichtiger ist als alles andere.
Aber als die Indianer regierungseigene Grundstücke
besetzten, sah die Mehrheit der weißen Gesellschaft darin
nur das Begleichen der alten Rechnung und den Wunsch, auch ein
Stück vom Kuchen der amerikanischen Wirtschaft
abzubekommen.
(…)
Das
Schwergewicht der Indianerprobleme liegt also auf dem Land, auf
dessen Rückgabe und Nutzung. Die Amerikaner drängen die
Indianer ständig, das Land in der gleichen Weise und für
die gleichen Zwecke zu nutzen wie sie auch. Aber gleichzeitig
behaupten sie, die indianische Religion enthielte den Keim der
Spiritualität, die sie suchen. Daß die Amerikaner
absolut nicht verstehen können, daß Land für die
Indianer in einem ganz fundamentalen Sinne Grundlage und
Schauplatz aller religiösen Erfahrung ist, zeigt sich in dem
krampfhaften Bemühen, von den Medizinmännern der
verschiedenen Stämme Wörter, Redewendungen und
gedankliche Konzepte zu erfahren, die die Indianer angeblich der
Welt vorenthalten haben und die jeder Weiße, der auf das
Kennenlernen der Stammesreligionen versessen ist, für etwas
hält, das die Welt unbedingt haben muß.
Wenn
wir diese inneramerikanische Erkenntnis auf die große Arena
der Weltgeschichte übertragen, wird uns bald klar daß
in dem gegenwärtigen indianischen Kampf der fundamentale
Zwiespalt enthalten ist, der dem Christentum so lange schon zu
schaffen macht.
(…)
Das
Interesse ehemaliger Anhänger des Christentums an
StammesreIigionen kommt demnach zumindest zum Teil aus der
Einsicht, daß, die Beziehung zu Natur, Land, Ort und Raum
in der heutigen Auffassung des Christentums gestört ist.
(…)
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