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Maja Göpel
Wir können auch anders

Aufbruch in die Welt von morgen


Berlin 2022 (Ullstein); 360 Seiten; ISBN 978-3-550-20161-5






Die Menschheit befindet sich in einem gewaltigen Transformationsprozess. Die Menge dessen, was anzupacken, zu reparieren und neu auszurichten ist, scheint übergroß. Wie finden wir Kompass, Kreativität und Courage, um diese Herausforderungen weniger zu bekämpfen als viel mehr zu gestalten? Und: Wer ist eigentlich wir und warum ist das so wichtig?

Die Art, wie wir leben, wird sich fundamental verändern. Bisherige Selbstverständlichkeiten in Umwelt, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Technologie zerbröseln. Doch dieses Buch macht Mut: Auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse verdeutlicht Maja Göpel, wie wir solche komplexen Entwicklungen verstehen und dieses Wissen für eine bessere Welt nutzen können. Denn in der Geschichte hat es immer wieder Große Transformationen gegeben. Sie wurden von uns Menschen ausgelöst – also können wir sie auch gestalten. Unser Fenster zur Zukunft steht offen wie nie. Mit dieser Haltung ist Strukturwandel keine Zumutung, sondern eine Chance. Es ist Zeit, dass wir – jeder Einzelne von uns, aber auch die Gesellschaft als Ganzes – uns erlauben, neu zu denken, zu träumen und eine radikale Frage stellen: Wer wollen wir sein?


Maja Göpel


Prof. Dr. Maja Göpel, geboren 1976, arbeitet seit 25 Jahren als Politökonomin und Nachhaltigkeitswissenschaftlerin an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Die gefragte Rednerin wurde 2019 zur Honorarprofessorin der Leuphana Universität Lüneburg berufen und war bis Ende 2020 Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Maja Göpel ist Mitglied im Club of Rome, dem World Future Council, der Balaton Group, diverser Beiräte und Aufsichtsräte und Mit-Initiatorin der Initiative »Scientists for Future«. Nachdem ihr Buch Unsere Welt neu denken zum Nr.-1-Bestseller wurde, hat sie sich voll der Wissenschaftskommunikation verschrieben.


Inhaltsverzeichnis


Das größte Abenteuer der Menschheit

Unser Betriebssystem
Die Geschichte von Tanaland
Vernetztheit – Alles ist verbunden
Dynamik – Wie kleine Dinge groß werden
Bestimmung – Worum es eigentlich geht

Wie wir den Betrieb ändern
Was uns Monopoly über Spielregeln lehrt
Verantworten – Anders lernen
Vermögen – Anders wachsen
Vermitteln – Anders Technik einsetzen
Verhalten – Anders organisieren
Verständigen – Anders miteinander umgehen

Wer ist eigentlich wir?
Köpfe zusammenstecken
Held:innen
Du bist wichtig

Dank
Literatur, Anmerkungen, Quellen
Über die Autorin


Leseprobe


Das größte Abenteuer der Menschheit






»Hoffnung gründet auf der Annahme, dass wir nicht wissen, was geschehen wird, und dass in der Weite der Ungewissheit Raum zum Handeln ist. Wenn Sie die Ungewissheit anerkennen, erkennen Sie, dass Sie in der Lage sein könnten, die Ergebnisse zu beeinflussen – Sie allein oder Sie in Zusammenarbeit mit ein paar Dutzend oder mehreren Millionen anderen. Hoffnung ist eine Umarmung des Unbekannten und des Unwissbaren, eine Alternative zur Gewissheit der Optimisten und Pessimisten.«
(Rebecca Solnit, Schriftstellerin)






Die Welt verändert sich, das tut sie immer. Wir alle wissen das. Manche dieser Veränderungen können wir leicht akzeptieren, andere bedauern wir oder sperren uns dagegen. Manche können wir kaum erwarten und arbeiten mit aller Kraft daran, dass sie eintreten. Andere erschüttern und verunsichern uns zutiefst. Aber egal, um welche Veränderungen es geht, wir meinen, wir hätten ein Gefühl dafür, mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Ausmaß sie üblicherweise eintreten. Wir sind daran gewöhnt, dass sich nach einer gewissen Zeit das Bekannte wieder weitgehend herstellen lässt. Wir sind nicht gewohnt, dass wir morgens das Handy einschalten, und die Welt, wie wir sie kennen, ist über Nacht ins Rutschen gekommen. Doch genau das scheint seit einiger Zeit immer häufiger zu passieren.

Auf einmal bedroht die Pleite einer US-amerikanischen Bank die Weltwirtschaft und zeigt die Verletzlichkeit des internationalen Finanzsystems. Flutet ein Tsunami das Kernkraftwerk im japanischen Fukushima und wirft die Frage nach zukunftsfähigen Energiesystemen neu auf. Verlassen die Briten die Europäische Union und stellen die politische Integrationsgeschichte des ganzen Kontinents infrage. Brennen in Brasilien, Australien, Russland ganze Regionen, reißen unkontrollierbare Fluten in Deutschland, Belgien und den Niederlanden Hunderte Menschen in den Tod. Stürmen Anhänger von Donald Trump das Kapitol, um seine Abwahl mit Gewalt zu verhindern. Legt ein Virus, das in China offenbar von einer Fledermaus auf den Menschen übergesprungen ist, die Welt lahm. Überfällt Russland die Ukraine und bringt den Krieg als Mittel der Politik nach Europa zurück.

Aber auch: Schafft es ein unbekanntes Mädchen aus Schweden auf einmal, dass Millionen von Menschen überall auf der Welt für Klimaschutz auf die Straße gehen. Rücken Bewegungen wie Black Lives Matter oder MeToo all das ins Licht, was über Jahre und Jahrzehnte unterdrückt, verschwiegen oder hingenommen wurde. Produzieren Wind und Sonne zum ersten Mal mehr Strom als Kohle und Gas. Werden Verbrennermotoren als schädliche Produkte verboten. Verpflichtet das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung zu mehr Klimaschutz mit der Begründung, dass die Freiheit kommender Generationen nicht weniger zählen darf als unsere Freiheit heute. Wird bei den Vereinten Nationen und internationalen Gerichtshöfen eingefordert, einen Ökozid als Verbrechen anklagen zu können. Nimmt die europäische Bevölkerung Millionen Geflüchtete aus Kriegs- und Krisengebieten auf.

Zwar geschehen Dinge dieser Tragweite nicht jeden Tag und in einigen Regionen der Welt häufiger als in anderen. Wir halten es aber inzwischen nicht mehr für ausgeschlossen, dass Dinge dieser Tragweite jeden Tag geschehen können. Wir sehen in ihnen keine Ausnahme mehr, die wir als Einzelfall ablegen, und ab morgen läuft das Leben wie gewohnt weiter. Unser Glaube daran, dass das, was übermorgen sein wird, sich als kleine Modifikation dessen darstellt, was heute ist, trägt nicht mehr. An manchen Tagen überfordert uns das. Wir wollen so schnell wie möglich zu einer Normalität zurückkehren. Doch das Gefühl dafür, was diese Normalität überhaupt war oder sein soll, kippelt.

Sind nicht all diese Krisen, die sich heute zeigen, Ausdruck davon, dass schon vorher etwas nicht mehr normal gewesen sein kann?

Wachen wir nach solchen Ereignissen tatsächlich in einer anderen Welt auf? Oder doch nur in unserer Welt, deren schleichende Veränderungen wir bisher nur nicht sehen wollten oder ausreichend berücksichtigt haben?

In unserer Welt heute spüren wir fast täglich, dass der Druck für Veränderungen auf viele Bereiche unseres Lebens so zugenommen hat, dass weitermachen wie bisher keine Option mehr ist. Schauen wir ehrlich hin, wirken viele unserer bisherigen Überzeugungen, Routinen und Selbstverständlichkeiten wie aus der Zeit gefallen. Und wir sehen, dass Krisen auch die Chance eröffnen, lange beobachtete Risiken und viel diskutierte Probleme tatsächlich anzugehen. Ein Energiesystem austauschen zum Beispiel, Mobilität neu organisieren, Landwirtschaft anders gestalten, soziale Lasten anders verteilen. Fortschritt nicht mehr mit Wirtschaftswachstum verwechseln. Und eine Weltordnung anstreben, die dem Ziel der gerechten Entwicklung, das allen internationalen Deklarationen und Chartas voransteht, auch gerecht werden könnte. Dass der Status quo ins Wanken geraten ist, darin sehen viele nicht nur eine Bedrohung, sondern auch das Signal für einen Aufbruch. Doch in welche Normalität genau der Aufbruch führt, ist in weltweit vernetzten Gesellschaften schwer zu prognostizieren. Zur Frage, welcher Weg dorthin der beste sei, stehen verschiedene Positionen im Raum: Technologie werde es lösen oder der Konsumverzicht, die Märkte oder der Staat. Oft treten sie gegeneinander an, aber nicht miteinander ins Gespräch.

Wenn die Zukunft so unklar und so weit offen erscheint, ist auch der eigene Platz darin schwer vorauszusehen. Das kann Unsicherheiten und Ängste wecken, manchmal Wut. Ein gängiger Weg, mit diesen Gefühlen umzugehen, ist es, Schuldige dafür zu finden und sich von ihnen abzugrenzen. Von jenen, die sich am System bereichern und sich in den bestehenden Strukturen maximal gewinnbringend eingerichtet haben. Aber auch von jenen, die im Angesicht der sich abzeichnenden Gefahren Strukturen verändern wollen und dabei Privilegien und Bequemlichkeiten infrage stellen. Oder von jenen, die etwas ganz anderes für richtig halten oder vielleicht noch nicht einmal die Sicht darauf teilen, was die drängendsten Probleme sind.

Einerseits leben heute große Teile der Menschheit mit mehr Dingen, mehr Möglichkeiten, mehr Freiheiten als je eine Generation vor uns. Andererseits beuten wir den Planeten schneller aus, als er sich erholen kann. Und gleichzeitig nehmen die gut dokumentierten Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich, Nord und Süd, Schwarz und Weiß, Mann und Frau nicht ab, sie werden zum Teil sogar wieder größer. Je mehr sich die Sorge Bahn bricht, dass wirklich Grenzen des Wachstums erreicht werden könnten, desto schwerer scheint das Teilen zu werden. Stattdessen wächst die Produktion noch mehr, und es bleibt keine Zeit für Regeneration, weder für Mensch noch Umwelt. Die sozialen Unwuchten, die unsere Lebensweise produziert, wirken wie das Spiegelbild der ökologischen Schäden, die sie hinterlässt. Wir kommen nicht ins Gleichgewicht. Wir sind Gefangene eines Systems, von dem wir uns Freiheit versprochen haben und aus dem wir jetzt den Ausgang nicht mehr finden.

Dabei haben wir Ideen, wie wir anders leben, wirtschaften, konsumieren und kooperieren könnten. In meinem letzten Buch habe ich dazu eingeladen, sich diese Ideen genauer anzugucken und dafür ein paar alte Überzeugungen zu verabschieden, die unsere Gesellschaften bis heute prägen. Als diese Überzeugungen vor rund 250 Jahren entstanden, mögen sie zur damaligen Wirklichkeit und ihren Herausforderungen gepasst haben. In unserer heutigen Welt mit fast acht Milliarden Menschen und einem rapide angestiegenen Ressourcenverbrauch verursachen sie viele der Krisen, die wir überall sehen. Deshalb war mir daran gelegen, aufzuzeigen, wie wir unsere Welt neu denken sollten. In diesem Buch geht es mir um das Handeln, das aus diesem neuen Denken folgen kann – und meiner Meinung nach auch muss. Ich möchte den Blick vom Rückspiegel auf den Horizont lenken, die Hoffnung in den Mittelpunkt stellen und den Forscher:innengeist in uns auf Hochtouren bringen, damit wir gemeinsam über uns hinauswachsen. Denn ich habe das Gefühl, dass uns für den Aufbruch in die Welt von morgen weniger die Ideen fehlen als vielmehr die Überzeugung, dass wir sie auch umsetzen können. Womöglich fehlt das Vertrauen, die ersten Schritte zu wagen, und die Zuversicht, dass viele bereit sind, sie mitzugehen. Oder der Mut, an den tiefen Strukturen und großen politischen Rahmenbedingungen unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu drehen. Wir unterschätzen uns selbst. Und übersehen, dass die Dinge längst begonnen haben, sich zu drehen, und wir uns einmischen sollten.

Unsere Gesellschaften stehen inmitten von Veränderungen, wie sie in der Geschichte der Menschheit bisher wohl nur die Erfindung des Ackerbaus oder die Entstehung von Feudalismus, Industrialisierung und Kapitalismus mit sich brachten. Umbrüche dieser Dimensionen werden als Große Transformationen bezeichnet. Sie stehen im Fokus einer Forschungsrichtung, bei der Kolleg:innen aus den unterschiedlichsten Disziplinen Erkenntnisse über frühere Umbrüche dieser Größenordnung zusammentragen, um strategisch versierter auf die heutigen einzuwirken. Ihre Erkenntnisse können uns dabei helfen, dass wir uns von der wachsenden Komplexität nicht erschlagen fühlen und Veränderungen nur reaktiv erdulden, sondern sie besser antizipieren und navigieren lernen. Dass wir weniger nach Wegen suchen, ausgediente Strukturen noch einmal zu flicken, sondern die Kraft für Lösungen aufbringen, die zwar kurzfristig anstrengende Umbauten mit sich bringen, dafür in Zukunft aber besser tragen können.

»Das wahre Kriterium der Reform«, schrieb der Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm, »ist ihr Realismus, ihr echter ›Radikalismus‹. Es geht darum, ob sie an die Wurzeln geht und die Ursachen zu ändern versucht – oder ob sie an der Oberfläche bleibt und sich nur mit den Symptomen befasst.«

Ich habe mich für den radikalen Weg entschieden. Das Buch, das dabei entstanden ist, hat drei Teile, die vom großen Ganzen zum Individuellen führen. Sie sind entlang dreier Leitfragen aufgebaut.

Wie können wir in der komplexen Welt, in der wir heute leben, Dinge wenden? Und wie kann uns die Forschung dabei helfen, Lösungen für das 21. Jahrhundert zu entwickeln?

Wo müssen wir ansetzen, um die Strukturen unserer Gegenwart so zu verändern, dass sie der Erreichung unserer Ziele besser dienen, statt ihnen im Weg zu stehen?

Wer kann diese Veränderungen anschieben? Die Politik? Die Wirtschaft? Die sogenannten Eliten? Wer ist mit diesem Wir gemeint, von dem alle reden, wenn es darum geht, etwas zu verändern?

Eine Große Transformation zu einer besseren Welt für alle ist das größte Abenteuer der Menschheit. Sie wird aus lauter kleinen Schritten bestehen – aber ohne eine klare Orientierung und die unermüdliche Begeisterung für das Mögliche wird sie nicht gelingen. Das habe ich auch aus den vielen Zuschriften, Anregungen und Hinweisen aus allen Bereichen der Gesellschaft gelernt, die ich auf mein vorangegangenes Buch und auf meine Arbeit für die Initiative Scientists4Future erhalten habe. Sie haben mir gezeigt, was real schon alles möglich und wer alles im Aufbruch ist. Dieses Buch ist auch ein Produkt des Austausches mit vielen, vielen Menschen, die ich auf diesem Weg kennenlernen durfte. Keine:r von ihnen behauptet, dass unsere heutige Zeit eine einfache sei oder der gesellschaftliche Wandel leicht. Aber sie haben alle die Überzeugung, dass es Zeitpunkte gibt, an denen man etwas verabschieden muss, damit Raum für Neues entstehen kann. Wir müssen ein paar Dinge anders machen. Wir können das aber auch.


Siehe auch:


Maja Göpel: Unsere Welt neu denkenEine Einladung