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Die
Welt verändert sich, das tut sie immer. Wir alle wissen das.
Manche dieser Veränderungen können wir leicht
akzeptieren, andere bedauern wir oder sperren uns dagegen. Manche
können wir kaum erwarten und arbeiten mit aller Kraft daran,
dass sie eintreten. Andere erschüttern und verunsichern uns
zutiefst. Aber egal, um welche Veränderungen es geht, wir
meinen, wir hätten ein Gefühl dafür, mit welcher
Geschwindigkeit und in welchem Ausmaß sie üblicherweise
eintreten. Wir sind daran gewöhnt, dass sich nach einer
gewissen Zeit das Bekannte wieder weitgehend herstellen lässt.
Wir sind nicht gewohnt, dass wir morgens das Handy einschalten,
und die Welt, wie wir sie kennen, ist über Nacht ins
Rutschen gekommen. Doch genau das scheint seit einiger Zeit immer
häufiger zu passieren.
Auf einmal bedroht die Pleite
einer US-amerikanischen Bank die Weltwirtschaft und zeigt die
Verletzlichkeit des internationalen Finanzsystems. Flutet ein
Tsunami das Kernkraftwerk im japanischen Fukushima und wirft die
Frage nach zukunftsfähigen Energiesystemen neu auf.
Verlassen die Briten die Europäische Union und stellen die
politische Integrationsgeschichte des ganzen Kontinents infrage.
Brennen in Brasilien, Australien, Russland ganze Regionen, reißen
unkontrollierbare Fluten in Deutschland, Belgien und den
Niederlanden Hunderte Menschen in den Tod. Stürmen Anhänger
von Donald Trump das Kapitol, um seine Abwahl mit Gewalt zu
verhindern. Legt ein Virus, das in China offenbar von einer
Fledermaus auf den Menschen übergesprungen ist, die Welt
lahm. Überfällt Russland die Ukraine und bringt den
Krieg als Mittel der Politik nach Europa zurück.
Aber
auch: Schafft es ein unbekanntes Mädchen aus Schweden auf
einmal, dass Millionen von Menschen überall auf der Welt für
Klimaschutz auf die Straße gehen. Rücken Bewegungen
wie Black Lives Matter oder MeToo all das ins
Licht, was über Jahre und Jahrzehnte unterdrückt,
verschwiegen oder hingenommen wurde. Produzieren Wind und Sonne
zum ersten Mal mehr Strom als Kohle und Gas. Werden
Verbrennermotoren als schädliche Produkte verboten.
Verpflichtet das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung zu
mehr Klimaschutz mit der Begründung, dass die Freiheit
kommender Generationen nicht weniger zählen darf als unsere
Freiheit heute. Wird bei den Vereinten Nationen und
internationalen Gerichtshöfen eingefordert, einen Ökozid
als Verbrechen anklagen zu können. Nimmt die europäische
Bevölkerung Millionen Geflüchtete aus Kriegs- und
Krisengebieten auf.
Zwar geschehen Dinge dieser Tragweite
nicht jeden Tag und in einigen Regionen der Welt häufiger
als in anderen. Wir halten es aber inzwischen nicht mehr für
ausgeschlossen, dass Dinge dieser Tragweite jeden Tag geschehen
können. Wir sehen in ihnen keine Ausnahme mehr, die
wir als Einzelfall ablegen, und ab morgen läuft das Leben
wie gewohnt weiter. Unser Glaube daran, dass das, was übermorgen
sein wird, sich als kleine Modifikation dessen darstellt, was
heute ist, trägt nicht mehr. An manchen Tagen überfordert
uns das. Wir wollen so schnell wie möglich zu einer
Normalität zurückkehren. Doch das Gefühl dafür,
was diese Normalität überhaupt war oder sein soll,
kippelt.
Sind nicht all diese Krisen, die sich heute
zeigen, Ausdruck davon, dass schon vorher etwas nicht mehr normal
gewesen sein kann?
Wachen wir nach solchen Ereignissen
tatsächlich in einer anderen Welt auf? Oder doch nur in
unserer Welt, deren schleichende Veränderungen wir bisher
nur nicht sehen wollten oder ausreichend berücksichtigt
haben?
In unserer Welt heute spüren wir fast täglich,
dass der Druck für Veränderungen auf viele Bereiche
unseres Lebens so zugenommen hat, dass weitermachen wie bisher
keine Option mehr ist. Schauen wir ehrlich hin, wirken viele
unserer bisherigen Überzeugungen, Routinen und
Selbstverständlichkeiten wie aus der Zeit gefallen. Und wir
sehen, dass Krisen auch die Chance eröffnen, lange
beobachtete Risiken und viel diskutierte Probleme tatsächlich
anzugehen. Ein Energiesystem austauschen zum Beispiel, Mobilität
neu organisieren, Landwirtschaft anders gestalten, soziale Lasten
anders verteilen. Fortschritt nicht mehr mit Wirtschaftswachstum
verwechseln. Und eine Weltordnung anstreben, die dem Ziel der
gerechten Entwicklung, das allen internationalen Deklarationen
und Chartas voransteht, auch gerecht werden könnte. Dass der
Status quo ins Wanken geraten ist, darin sehen viele nicht nur
eine Bedrohung, sondern auch das Signal für einen Aufbruch.
Doch in welche Normalität genau der Aufbruch führt, ist
in weltweit vernetzten Gesellschaften schwer zu prognostizieren.
Zur Frage, welcher Weg dorthin der beste sei, stehen verschiedene
Positionen im Raum: Technologie werde es lösen oder der
Konsumverzicht, die Märkte oder der Staat. Oft treten sie
gegeneinander an, aber nicht miteinander ins Gespräch.
Wenn
die Zukunft so unklar und so weit offen erscheint, ist auch der
eigene Platz darin schwer vorauszusehen. Das kann Unsicherheiten
und Ängste wecken, manchmal Wut. Ein gängiger Weg, mit
diesen Gefühlen umzugehen, ist es, Schuldige dafür zu
finden und sich von ihnen abzugrenzen. Von jenen, die sich am
System bereichern und sich in den bestehenden Strukturen maximal
gewinnbringend eingerichtet haben. Aber auch von jenen, die im
Angesicht der sich abzeichnenden Gefahren Strukturen verändern
wollen und dabei Privilegien und Bequemlichkeiten infrage
stellen. Oder von jenen, die etwas ganz anderes für richtig
halten oder vielleicht noch nicht einmal die Sicht darauf teilen,
was die drängendsten Probleme sind.
Einerseits leben
heute große Teile der Menschheit mit mehr Dingen, mehr
Möglichkeiten, mehr Freiheiten als je eine Generation vor
uns. Andererseits beuten wir den Planeten schneller aus, als er
sich erholen kann. Und gleichzeitig nehmen die gut dokumentierten
Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich, Nord und Süd,
Schwarz und Weiß, Mann und Frau nicht ab, sie werden zum
Teil sogar wieder größer. Je mehr sich die Sorge Bahn
bricht, dass wirklich Grenzen des Wachstums erreicht werden
könnten, desto schwerer scheint das Teilen zu werden.
Stattdessen wächst die Produktion noch mehr, und es bleibt
keine Zeit für Regeneration, weder für Mensch noch
Umwelt. Die sozialen Unwuchten, die unsere Lebensweise
produziert, wirken wie das Spiegelbild der ökologischen
Schäden, die sie hinterlässt. Wir kommen nicht ins
Gleichgewicht. Wir sind Gefangene eines Systems, von dem wir uns
Freiheit versprochen haben und aus dem wir jetzt den Ausgang
nicht mehr finden.
Dabei haben wir Ideen, wie wir anders
leben, wirtschaften, konsumieren und kooperieren könnten. In
meinem letzten Buch habe ich dazu eingeladen, sich diese Ideen
genauer anzugucken und dafür ein paar alte Überzeugungen
zu verabschieden, die unsere Gesellschaften bis heute prägen.
Als diese Überzeugungen vor rund 250 Jahren entstanden,
mögen sie zur damaligen Wirklichkeit und ihren
Herausforderungen gepasst haben. In unserer heutigen Welt mit
fast acht Milliarden Menschen und einem rapide angestiegenen
Ressourcenverbrauch verursachen sie viele der Krisen, die wir
überall sehen. Deshalb war mir daran gelegen, aufzuzeigen,
wie wir unsere Welt neu denken sollten. In diesem Buch geht es
mir um das Handeln, das aus diesem neuen Denken folgen kann –
und meiner Meinung nach auch muss. Ich möchte den Blick vom
Rückspiegel auf den Horizont lenken, die Hoffnung in den
Mittelpunkt stellen und den Forscher:innengeist in uns auf
Hochtouren bringen, damit wir gemeinsam über uns
hinauswachsen. Denn ich habe das Gefühl, dass uns für
den Aufbruch in die Welt von morgen weniger die Ideen fehlen als
vielmehr die Überzeugung, dass wir sie auch umsetzen können.
Womöglich fehlt das Vertrauen, die ersten Schritte zu wagen,
und die Zuversicht, dass viele bereit sind, sie mitzugehen. Oder
der Mut, an den tiefen Strukturen und großen politischen
Rahmenbedingungen unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu
drehen. Wir unterschätzen uns selbst. Und übersehen,
dass die Dinge längst begonnen haben, sich zu drehen, und
wir uns einmischen sollten.
Unsere Gesellschaften stehen
inmitten von Veränderungen, wie sie in der Geschichte der
Menschheit bisher wohl nur die Erfindung des Ackerbaus oder die
Entstehung von Feudalismus, Industrialisierung und Kapitalismus
mit sich brachten. Umbrüche dieser Dimensionen werden als
Große Transformationen bezeichnet. Sie stehen im Fokus
einer Forschungsrichtung, bei der Kolleg:innen aus den
unterschiedlichsten Disziplinen Erkenntnisse über frühere
Umbrüche dieser Größenordnung zusammentragen, um
strategisch versierter auf die heutigen einzuwirken. Ihre
Erkenntnisse können uns dabei helfen, dass wir uns von der
wachsenden Komplexität nicht erschlagen fühlen und
Veränderungen nur reaktiv erdulden, sondern sie besser
antizipieren und navigieren lernen. Dass wir weniger nach Wegen
suchen, ausgediente Strukturen noch einmal zu flicken, sondern
die Kraft für Lösungen aufbringen, die zwar kurzfristig
anstrengende Umbauten mit sich bringen, dafür in Zukunft
aber besser tragen können.
»Das wahre Kriterium
der Reform«, schrieb der Philosoph und Sozialpsychologe
Erich Fromm, »ist ihr Realismus, ihr echter ›Radikalismus‹.
Es geht darum, ob sie an die Wurzeln geht und die Ursachen zu
ändern versucht – oder ob sie an der Oberfläche
bleibt und sich nur mit den Symptomen befasst.«
Ich
habe mich für den radikalen Weg entschieden. Das Buch, das
dabei entstanden ist, hat drei Teile, die vom großen Ganzen
zum Individuellen führen. Sie sind entlang dreier Leitfragen
aufgebaut.
— Wie können wir in der
komplexen Welt, in der wir heute leben, Dinge wenden? Und wie
kann uns die Forschung dabei helfen, Lösungen für das
21. Jahrhundert zu entwickeln?
— Wo müssen
wir ansetzen, um die Strukturen unserer Gegenwart so zu
verändern, dass sie der Erreichung unserer Ziele besser
dienen, statt ihnen im Weg zu stehen?
— Wer
kann diese Veränderungen anschieben? Die Politik? Die
Wirtschaft? Die sogenannten Eliten? Wer ist mit diesem Wir
gemeint, von dem alle reden, wenn es darum geht, etwas zu
verändern?
Eine Große Transformation zu einer
besseren Welt für alle ist das größte Abenteuer
der Menschheit. Sie wird aus lauter kleinen Schritten bestehen –
aber ohne eine klare Orientierung und die unermüdliche
Begeisterung für das Mögliche wird sie nicht gelingen.
Das habe ich auch aus den vielen Zuschriften, Anregungen und
Hinweisen aus allen Bereichen der Gesellschaft gelernt, die ich
auf mein vorangegangenes Buch und auf meine Arbeit für die
Initiative Scientists4Future erhalten habe. Sie haben mir
gezeigt, was real schon alles möglich und wer alles im
Aufbruch ist. Dieses Buch ist auch ein Produkt des Austausches
mit vielen, vielen Menschen, die ich auf diesem Weg kennenlernen
durfte. Keine:r von ihnen behauptet, dass unsere heutige Zeit
eine einfache sei oder der gesellschaftliche Wandel leicht. Aber
sie haben alle die Überzeugung, dass es Zeitpunkte gibt, an
denen man etwas verabschieden muss, damit Raum für Neues
entstehen kann. Wir müssen ein paar Dinge anders machen. Wir
können das aber auch.
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