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Charles Darwins
Evolutionstheorie hat der modernen Biologie ihr Fundament
gegeben, und doch ist sie in mancher Hinsicht unvollständig.
So steht im Ursprung der Arten nur wenig über eben
den Ursprung neuer Arten. Darwin und seine Nachfolger haben
überzeugend dargelegt, wie vererbte Variationen der
natürlichen Selektion unterliegen, aber die Frage, wie
veränderte Organismenformen überhaupt entstehen, haben
sie unbeantwortet gelassen. Lynn Margulis zufolge ist Symbiose –
das Zusammenleben verschiedener Arten in engstem physischen
Kontakt – von entscheidender Bedeutung für den
Ursprung evolutionärer Innovationen. Über die ganze
Spanne der Lebenserscheinungen hinweg – von den Bakterien,
den kleinsten Lebensformen, bis zur größten, der Erde
selbst – erklärt die Biologin den symbiontischen
Ursprung vieler der bedeutendsten Neuerungen in der Geschichte
des Lebens. Schon die Zellen, aus denen wir bestehen, begannen
als Joint venture verschiedener Bakterienformen. Sexualität
entstand, als vorzeitig beendete Akte des Kannibalismus in
saisonal wiederholte Zusammenschlüsse einiger unserer
winzigsten Vorfahren mündeten. Da alle Lebewesen in
demselben Wasser und derselben Atmosphäre existieren,
gehören letztlich gar sämtliche Bewohner unseres
Planeten einer symbiontischen Union an. Gaia, das fein
abgestimmte größte Ökosystem der Erdoberfläche,
ist nichts anderes als Symbiose vom Weltraum aus gesehen.
Eng
verwoben mit der spannenden Erläuterung dieser etwas anderen
Evolutionssicht ist der persönlich-autobiographische Bericht
einer außergewöhnlichen Forscherin. Lynn Margulis
beschreibt ihren Einstieg in die Welt der Wissenschaft und die
frühen Schritte auf dem Weg zu der gegenwärtigen
Revolution in der Evolutionsbiologie, ferner die große
Bedeutung der Klassifizierung von Arten für unser Denken
über die lebende Welt sowie die Art und Weise, wie eine
„akademische Apartheid“ den wissenschaftlichen
Fortschritt behindern kann. Ein mit Enthusiasmus und Autorität
geschriebenes Buch. (Klappentext)
„Margulis greift
in diesem kleinen, vielseitigen und informellen Bändchen
zahlreiche der großen Fragen der Biologie auf, ... [Sie]
vermittelt ein Gefühl für den erstaunlichen und
verwickelten Ursprung des Lebens.“ (Publishers Weekly)
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Symbiose
– ein System aus Lebewesen verschiedener Arten, die in
engem körperlichen Kontakt leben – erscheint uns als
ein spezielles wissenschaftliches Konzept und als ein
spezifischer biologischer Fachausdruck. Das liegt daran, daß
wir uns ihrer großen Verbreitung nicht bewußt sind.
Nicht nur unser Darm und unsere Augenwimpern sind dicht mit
bakteriellen und tierischen Symbionten besetzt; auch wenn man
sich im eigenen Garten oder im Stadtpark umsieht, sind sie
allgegenwärtig, fallen aber nicht sofort ins Auge. Klee und
Wicken, zwei verbreitete Pflanzen, haben an ihren Wurzeln kleine
Knöllchen. Dort befinden sich die stickstofffixierenden
Bakterien, die für ein gesundes Wachstum in stickstoffarmen
Böden unentbehrlich sind. Schauen wir uns die Bäume an
– den Ahorn oder die Eiche beispielsweise. Bis zu
dreihundert verschiedene symbiontische Pilze, darunter auch
solche, die wir als große Pilze kennen, sind als sogenannte
Mycorrhiza mit den Baumwurzeln eng verwoben. Oder nehmen wir den
Hund, der die in seinem Darm lebenden symbiontischen Würmer
in der Regel nicht bemerkt. Wir sind Symbionten auf einem
symbiontischen Planeten, und wenn wir genau hinschauen, finden
wir überall Symbiose. Für viele verschiedene Arten von
Leben ist dieser körperliche Kontakt unentbehrliche
Lebensbedingung.
Praktisch alles, womit ich mich heute
befasse, wurde bereits von unbekannten Gelehrten oder
Naturforschern vorweggenommen. Einer meiner wichtigsten
wissenschaftlichen Vorgänger verstand und erklärte die
Rolle der Symbiose in der Evolution eingehend. Der Anatom Ivan E.
Wallin (1883-1969) von der University of Colorado legte in einem
ausgezeichneten Buch dar, daß neue Arten durch Symbiose
entstehen. Der evolutionstheoretische Begriff Symbiogenese
bezeichnet den Ursprung neuer Gewebe, Organe, Organismen –
ja sogar Arten – durch das Eingehen langfristiger oder
ständiger Symbiosen. Wallin benutzte das Wort Symbiogenese
nicht, aber die Idee war ihm vollkommen geläufig. Besonderes
Augenmerk richtete er auf die Symbiose von Tieren mit Bakterien,
einen Vorgang, den er als „Entstehung mikrosymbiontischer
Komplexe“ oder „Symbiontizismus“ bezeichnete.
Das ist sehr wichtig. Darwin gab seinem Hauptwerk zwar den Titel
Über die Entstehung der Arten, aber mit dem
Auftauchen neuer Arten befaßt sich sein Buch in
Wirklichkeit kaum.
Symbiose – hier stimme ich völlig
mit Wallin überein – ist von entscheidender Bedeutung,
wenn man Neuentwicklungen in der Evolution und die Entstehung der
Arten verstehen will. Ich bin sogar überzeugt, daß der
Begriff der Art als solcher Symbiose erfordert. Bei Bakterien
gibt es keine Arten. Arten existierten nicht, bevor Bakterien
sich zu größeren Zellen zusammentaten, unter anderem
zu den Vorläufern aller heutigen Pflanzen und Tiere. In
diesem Buch werde ich zeigen, wie langfristige Symbiose zunächst
zur Evolution komplexer Zellen mit einem Zellkern und von dort
zur Entstehung anderer Lebewesen wie Pilzen, Pflanzen und Tieren
führte.
Daß Tier- und Pflanzenzellen
ursprünglich durch Symbiose entstanden sind, ist heute nicht
mehr umstritten. Dieser Aspekt meiner Theorie der Zellsymbiose
wurde durch die Molekularbiologie und insbesondere durch die
Sequenzierung von Genen bestätigt. Daß Bakterien als
Plastiden und Mitochondrien dauerhaft in Pflanzen- und Tierzellen
aufgenommen wurden, ist der Teil meiner seriellen
Endosymbiontentheorie, die sich heute sogar in Schulbüchern
wiederfindet. Aber in vollem Umfang wird die Bedeutung der
symbiontischen Sichtweise für die Evolution noch nicht
gewürdigt. Und die Vorstellung, neue Arten könnten
durch symbiontische Verschmelzung aus den Angehörigen alter
Arten entstehen, wird in Gesellschaft „anständiger“
Wissenschaftler noch nicht einmal diskutiert.
Ein
Beispiel: Einmal fragte ich den beredten, sympathischen
Paläontologen Niles Eldredge, ob ihm ein Fall bekannt sei,
in dem die Bildung einer neuen Art dokumentiert ist. Ich sagte
ihm, sein Beispiel dürfte aus Labor, Freiland oder der
Beobachtung von Fossilfunden abgeleitet sein. Er konnte nur ein
gutes Beispiel anführen: die Experimente von Theodosius
Dobzhansky mit der Taufliege Drosophila. ln jenen
faszinierenden Versuchen kam es bei Taufliegenpopulationen, die
man bei stetig steigenden Temperaturen ausgebrütet hatte, zu
einer genetischen Trennung: Nach etwa zwei Jahren konnten die
Fliegen, die in wärmerer Umgebung herangewachsen waren, mit
ihren Vettern aus dem kälteren Umfeld keine fruchtbaren
Nachkommen mehr zeugen. „Aber“, so fügte
Eldredge schnell hinzu, „es stellte sich heraus, daß
das etwas mit einem Parasiten zu tun hatte!“ Tatsächlich
entdeckte man später, daß den in warmer Umgebung
geschlüpften Fliegen ein in den Zellen lebendes,
symbiontisches Bakterium fehlte, das bei denen in niedrigeren
Temperaturen aufgewachsenen Tieren vorhanden war. Eldredge tat
diese Beobachtung der Artbildung verächtlich ab, weil dabei
die Symbiose mit Mikroorganismen im Spiel war! Er hatte wie wir
alle gelernt, daß Mikroben Keime sind, und wenn Keime
auftreten, hat man keine neue Art, sondern eine Krankheit. Und er
hatte auch gelernt, daß die Evolution durch natürliche
Selektion in der Anhäufung von Mutationen einzelner Gene
über die Erdzeitalter hinweg besteht.
Ironie des
Schicksals: Niles Eldredge ist zusammen mit Stephen Jay Gould
Urheber der Theorie des „unterbrochenen Gleichgewichts"
(punctuated equilibrium). Nach Ansicht beider zeigen Fossilfunde,
daß die Evolution während der meisten Zeit stillsteht
und sich dann plötzlich beschleunigt: In den
Fossilpopulationen spiegeln sich schnelle Veränderungen
während relativ kurzer Zeiträume wider, und danach
tritt für längere Perioden eine „Stasis“
ein. Aus der langfristigen Sicht der erdgeschichtlichen Zeiträume
sind Symbiosen wie Lichtblitze der Evolution. Nach meiner
Überzeugung trägt die Symbiose als Quelle
entwicklungsgeschichtlicher Neuentwicklungen dazu bei, die
Beobachtung des „unterbrochenen Gleichgewichts“, das
heißt der plötzlichen Sprünge in den
Fossilfunden, zu erklären.
Die einzigen anderen
Lebewesen neben den Taufliegen, bei denen man die Entstehung von
Arten im Labor beobachten konnte, gehörten zur Gattung
Amoeba, und auch hier war Symbiose im Spiel. Symbiose ist
eine Art von Lamarckismus. Dieser Begriff erinnert an Jean
Baptiste de Lamarck – er galt in Frankreich als der erste
Evolutionstheoretiker, seine Theorie wird aber heute meist wegen
der“Vererbung erworbener Merkmale“ verächtlich
abgelehnt. Der einfache Lamarckismus besagt: Lebewesen erben
Merkmale, die ihre Eltern durch Umweltbedingungen erworben haben.
Durch Symbiogenese dagegen erwerben die Lebewesen keine
Eigenschaften, sondern ganze Organismen und natürlich auch
deren gesamte Genausstattung! Ich könnte behaupten, was ich
oft von meinen französischen Kollegen gehört habe –
daß Symbiogenese eine Form von Neo-Lamarckismus ist.
Symbiogenese ist entwicklungsgeschichtlicher Wandel durch die
Vererbung erworbener Genausstattungen.
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