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Lynn Margulis
Die andere Evolution



Heidelberg Berlin 1999 (Spektrum Akademischer verlag); 180 Seiten; ISBN 3-8274-0294-8






Charles Darwins Evolutionstheorie hat der modernen Biologie ihr Fundament gegeben, und doch ist sie in mancher Hinsicht unvollständig. So steht im Ursprung der Arten nur wenig über eben den Ursprung neuer Arten. Darwin und seine Nachfolger haben überzeugend dargelegt, wie vererbte Variationen der natürlichen Selektion unterliegen, aber die Frage, wie veränderte Organismenformen überhaupt entstehen, haben sie unbeantwortet gelassen. Lynn Margulis zufolge ist Symbiose – das Zusammenleben verschiedener Arten in engstem physischen Kontakt – von entscheidender Bedeutung für den Ursprung evolutionärer Innovationen. Über die ganze Spanne der Lebenserscheinungen hinweg – von den Bakterien, den kleinsten Lebensformen, bis zur größten, der Erde selbst – erklärt die Biologin den symbiontischen Ursprung vieler der bedeutendsten Neuerungen in der Geschichte des Lebens. Schon die Zellen, aus denen wir bestehen, begannen als Joint venture verschiedener Bakterienformen. Sexualität entstand, als vorzeitig beendete Akte des Kannibalismus in saisonal wiederholte Zusammenschlüsse einiger unserer winzigsten Vorfahren mündeten. Da alle Lebewesen in demselben Wasser und derselben Atmosphäre existieren, gehören letztlich gar sämtliche Bewohner unseres Planeten einer symbiontischen Union an. Gaia, das fein abgestimmte größte Ökosystem der Erdoberfläche, ist nichts anderes als Symbiose vom Weltraum aus gesehen.

Eng verwoben mit der spannenden Erläuterung dieser etwas anderen Evolutionssicht ist der persönlich-autobiographische Bericht einer außergewöhnlichen Forscherin. Lynn Margulis beschreibt ihren Einstieg in die Welt der Wissenschaft und die frühen Schritte auf dem Weg zu der gegenwärtigen Revolution in der Evolutionsbiologie, ferner die große Bedeutung der Klassifizierung von Arten für unser Denken über die lebende Welt sowie die Art und Weise, wie eine „akademische Apartheid“ den wissenschaftlichen Fortschritt behindern kann. Ein mit Enthusiasmus und Autorität geschriebenes Buch. (Klappentext)

„Margulis greift in diesem kleinen, vielseitigen und informellen Bändchen zahlreiche der großen Fragen der Biologie auf, ... [Sie] vermittelt ein Gefühl für den erstaunlichen und verwickelten Ursprung des Lebens.“ (Publishers Weekly)


Lynn Margulis


1938-2011; Klappentext 1999: Lynn Margulis ist Professorin für Biologie an der University of Massachusetts in Amherst und derzeit Co-Direktorin des Planetary Biology Internship der NASA. Sie gehört seit 1983 der National Academy of Sciences der USA an und hat zahlreiche wissenschaftliche Auszeichnungen erhalten.

Die renommierte Biologin hat zeit ihres Lebens den Mut bewiesen, gegen den wissenschaftlichen Strom zu schwimmen. Ihre „Endosymbiontentheorie“ – derzufolge die Zellen aller tierischen wie pflanzlichen Organismen einst aus dem Zusammenschluß verschiedener Bakterienarten hervorgegangen sind – stieß lange Jahre auf heftige Ablehnung, zählt jedoch heute zum Standard-Lehrbuchwissen, und auch ihr überzeugter Eintritt für die ,,Gaia-Theorie" – in der die Erde als ein umfassendes selbstregulierendes Geflecht aus Ökosystemen angesehen wird – hat ihr keineswegs nur Freunde verschafft. Die Brücke zwischen beiden schlägt sie im vorliegenden Band.

Lynn Margulis hat zuvor bereits mehr als zehn Bücher veröffentlicht, darunter das richtungweisende Werk Symbiosis and Cell Evolution und den in deutscher Übersetzung ebenfalls bei Spektrum Akademischer Verlag erschienenen Titel Die fünf Reiche der Organismen (mit Karlene Schwartz). Ihr voriges, gemeinsam mit Dorion Sagan verfaßtes Buch Leben. Vom Ursprung zur Vielfalt ist hoch gelobt worden. Gegenwärtig widmet sie sich der weiteren Erforschung und filmischen Dokumentation der „Protoctisten und anderer Wesen des Mikrokosmos, mit denen wir unseren Planeten teilen“.


Inhaltsverzeichnis


Prolog






1. Symbiose überall



2. Entgegen der Lehrmeinung



3. Einzigartigkeit durch Einverleibung



4. Der Name der Rebe



5. Aus Schaum geboren



6. Vermächtnis Sex



7. An Land



8. Gaia






Anhang
Anmerkungen
Index


Leseprobe


Aus Kapitel 1: Symbiose überall






Symbiose – ein System aus Lebewesen verschiedener Arten, die in engem körperlichen Kontakt leben – erscheint uns als ein spezielles wissenschaftliches Konzept und als ein spezifischer biologischer Fachausdruck. Das liegt daran, daß wir uns ihrer großen Verbreitung nicht bewußt sind. Nicht nur unser Darm und unsere Augenwimpern sind dicht mit bakteriellen und tierischen Symbionten besetzt; auch wenn man sich im eigenen Garten oder im Stadtpark umsieht, sind sie allgegenwärtig, fallen aber nicht sofort ins Auge. Klee und Wicken, zwei verbreitete Pflanzen, haben an ihren Wurzeln kleine Knöllchen. Dort befinden sich die stickstofffixierenden Bakterien, die für ein gesundes Wachstum in stickstoffarmen Böden unentbehrlich sind. Schauen wir uns die Bäume an – den Ahorn oder die Eiche beispielsweise. Bis zu dreihundert verschiedene symbiontische Pilze, darunter auch solche, die wir als große Pilze kennen, sind als sogenannte Mycorrhiza mit den Baumwurzeln eng verwoben. Oder nehmen wir den Hund, der die in seinem Darm lebenden symbiontischen Würmer in der Regel nicht bemerkt. Wir sind Symbionten auf einem symbiontischen Planeten, und wenn wir genau hinschauen, finden wir überall Symbiose. Für viele verschiedene Arten von Leben ist dieser körperliche Kontakt unentbehrliche Lebensbedingung.

Praktisch alles, womit ich mich heute befasse, wurde bereits von unbekannten Gelehrten oder Naturforschern vorweggenommen. Einer meiner wichtigsten wissenschaftlichen Vorgänger verstand und erklärte die Rolle der Symbiose in der Evolution eingehend. Der Anatom Ivan E. Wallin (1883-1969) von der University of Colorado legte in einem ausgezeichneten Buch dar, daß neue Arten durch Symbiose entstehen. Der evolutionstheoretische Begriff Symbiogenese bezeichnet den Ursprung neuer Gewebe, Organe, Organismen – ja sogar Arten – durch das Eingehen langfristiger oder ständiger Symbiosen. Wallin benutzte das Wort Symbiogenese nicht, aber die Idee war ihm vollkommen geläufig. Besonderes Augenmerk richtete er auf die Symbiose von Tieren mit Bakterien, einen Vorgang, den er als „Entstehung mikrosymbiontischer Komplexe“ oder „Symbiontizismus“ bezeichnete. Das ist sehr wichtig. Darwin gab seinem Hauptwerk zwar den Titel Über die Entstehung der Arten, aber mit dem Auftauchen neuer Arten befaßt sich sein Buch in Wirklichkeit kaum.

Symbiose – hier stimme ich völlig mit Wallin überein – ist von entscheidender Bedeutung, wenn man Neuentwicklungen in der Evolution und die Entstehung der Arten verstehen will. Ich bin sogar überzeugt, daß der Begriff der Art als solcher Symbiose erfordert. Bei Bakterien gibt es keine Arten. Arten existierten nicht, bevor Bakterien sich zu größeren Zellen zusammentaten, unter anderem zu den Vorläufern aller heutigen Pflanzen und Tiere. In diesem Buch werde ich zeigen, wie langfristige Symbiose zunächst zur Evolution komplexer Zellen mit einem Zellkern und von dort zur Entstehung anderer Lebewesen wie Pilzen, Pflanzen und Tieren führte.

Daß Tier- und Pflanzenzellen ursprünglich durch Symbiose entstanden sind, ist heute nicht mehr umstritten. Dieser Aspekt meiner Theorie der Zellsymbiose wurde durch die Molekularbiologie und insbesondere durch die Sequenzierung von Genen bestätigt. Daß Bakterien als Plastiden und Mitochondrien dauerhaft in Pflanzen- und Tierzellen aufgenommen wurden, ist der Teil meiner seriellen Endosymbiontentheorie, die sich heute sogar in Schulbüchern wiederfindet. Aber in vollem Umfang wird die Bedeutung der symbiontischen Sichtweise für die Evolution noch nicht gewürdigt. Und die Vorstellung, neue Arten könnten durch symbiontische Verschmelzung aus den Angehörigen alter Arten entstehen, wird in Gesellschaft „anständiger“ Wissenschaftler noch nicht einmal diskutiert.

Ein Beispiel: Einmal fragte ich den beredten, sympathischen Paläontologen Niles Eldredge, ob ihm ein Fall bekannt sei, in dem die Bildung einer neuen Art dokumentiert ist. Ich sagte ihm, sein Beispiel dürfte aus Labor, Freiland oder der Beobachtung von Fossilfunden abgeleitet sein. Er konnte nur ein gutes Beispiel anführen: die Experimente von Theodosius Dobzhansky mit der Taufliege Drosophila. ln jenen faszinierenden Versuchen kam es bei Taufliegenpopulationen, die man bei stetig steigenden Temperaturen ausgebrütet hatte, zu einer genetischen Trennung: Nach etwa zwei Jahren konnten die Fliegen, die in wärmerer Umgebung herangewachsen waren, mit ihren Vettern aus dem kälteren Umfeld keine fruchtbaren Nachkommen mehr zeugen. „Aber“, so fügte Eldredge schnell hinzu, „es stellte sich heraus, daß das etwas mit einem Parasiten zu tun hatte!“ Tatsächlich entdeckte man später, daß den in warmer Umgebung geschlüpften Fliegen ein in den Zellen lebendes, symbiontisches Bakterium fehlte, das bei denen in niedrigeren Temperaturen aufgewachsenen Tieren vorhanden war. Eldredge tat diese Beobachtung der Artbildung verächtlich ab, weil dabei die Symbiose mit Mikroorganismen im Spiel war! Er hatte wie wir alle gelernt, daß Mikroben Keime sind, und wenn Keime auftreten, hat man keine neue Art, sondern eine Krankheit. Und er hatte auch gelernt, daß die Evolution durch natürliche Selektion in der Anhäufung von Mutationen einzelner Gene über die Erdzeitalter hinweg besteht.

Ironie des Schicksals: Niles Eldredge ist zusammen mit Stephen Jay Gould Urheber der Theorie des „unterbrochenen Gleichgewichts" (punctuated equilibrium). Nach Ansicht beider zeigen Fossilfunde, daß die Evolution während der meisten Zeit stillsteht und sich dann plötzlich beschleunigt: In den Fossilpopulationen spiegeln sich schnelle Veränderungen während relativ kurzer Zeiträume wider, und danach tritt für längere Perioden eine „Stasis“ ein. Aus der langfristigen Sicht der erdgeschichtlichen Zeiträume sind Symbiosen wie Lichtblitze der Evolution. Nach meiner Überzeugung trägt die Symbiose als Quelle entwicklungsgeschichtlicher Neuentwicklungen dazu bei, die Beobachtung des „unterbrochenen Gleichgewichts“, das heißt der plötzlichen Sprünge in den Fossilfunden, zu erklären.

Die einzigen anderen Lebewesen neben den Taufliegen, bei denen man die Entstehung von Arten im Labor beobachten konnte, gehörten zur Gattung Amoeba, und auch hier war Symbiose im Spiel. Symbiose ist eine Art von Lamarckismus. Dieser Begriff erinnert an Jean Baptiste de Lamarck – er galt in Frankreich als der erste Evolutionstheoretiker, seine Theorie wird aber heute meist wegen der“Vererbung erworbener Merkmale“ verächtlich abgelehnt. Der einfache Lamarckismus besagt: Lebewesen erben Merkmale, die ihre Eltern durch Umweltbedingungen erworben haben. Durch Symbiogenese dagegen erwerben die Lebewesen keine Eigenschaften, sondern ganze Organismen und natürlich auch deren gesamte Genausstattung! Ich könnte behaupten, was ich oft von meinen französischen Kollegen gehört habe – daß Symbiogenese eine Form von Neo-Lamarckismus ist. Symbiogenese ist entwicklungsgeschichtlicher Wandel durch die Vererbung erworbener Genausstattungen.

(…)


Siehe auch


Lynn Margulis, Dorion Sagan: Leben – Vom Ursprung zur Vielfalt