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Rupert Riedl
Der Wiederaufbau des Menschlichen

Wir brauchen Verträge zwischen Natur und Gesellschaft


München 1988 (Piper); 228 Seiten; ISBN 3-492-03195-1








Mit diesem sehr persönlich und engagiert geschriebenen Buch will Rupert Riedl erreichen, daß wissenschaftliche Erkenntnis mehr als bisher auf die Lebenspraxis in unserer Gesellschaft angewandt wird. Bewußt schließt er sich – auch im Titel – an Konrad Lorenz' vieldiskutiertes Buch »Der Abbau des Menschlichen« an.




Diesem Abbau ging der Aufbau voraus. Er erfolgte unter den strengen Prüfungen von hunderttausenden von Jahren und schuf ein offensichtlich lebensfähiges Sozialwesen. Den Abbau hat die Moderne eingeleitet. Nach Lorenz kann die technokratische Massenzivilisation, die uns »passiert« ist, unser Überleben gefährden: Zum Beispiel können die unübersichtlich gewordenen Institutionen unsere lebenserhaltenden Anlagen – zu lieben, vorzusorgen, dazuzugehören, mitzuteilen, zu verstehen, zu verantworten, flink und tätig zu sein, zu schützen und Schutz zu suchen – unbemerkt gegen uns selbst wenden. Ein besonders plastisches Beispiel ist die Ausschaltung der angeborenen, optisch kontrollierten Tötungshemmung durch Fernwaffen. Oder: es fällt uns durch die immer größer werdende Vernetzung von Ursachen, Wirkungen und Folgewirkungen schwer, vorauszusagen, wann ein Mehr des Guten zum Schlechten wird. Durch das Lernen aus negativen Erfahrungen kann jedoch der Wiederaufbau des Menschlichen gelingen.




In eingängiger Sprache liefert Riedl dafür einen Entwurf: »Er soll zeigen, wie unsere Natur beschaffen ist und in welcher Weise einerseits das soziale Milieu unserer Zivilisation mit unserer Ausstattung wieder verträglich gemacht werden kann, und andererseits unser Weltbildapparat mit der Komplexität dieser Welt (Teil 1). Wie unsere Haltungen zwischen Altruismus und Egoismus (Teil 2), zwischen Pluralismus und Uniformismus (Teil 3) und zwischen Zwecken und Zwängen (Teil 4) pervertiert wurden und restauriert werden könnten, schildern konkrete Beispiele. Und welche Verträge mit unserer Gesellschaft zu schließen wären (Teil 5), das will ich aus der gemachten Erfahrung herleiten.«




Das im Kern optimistische Fazit des Autors lautet: Wo immer wir mit unseren institutionalisierten Erwartungen, die conditio humana zu fördern, scheitern, muß uns die Erfahrung über unsere Irrtümer belehren. So kann der Wiederaufbau des Menschlichen gelingen: durch Lernschritte der Bürger, ihrer Institutionen und durch Lernschritte des Staates.


Rupert Riedl


geboren 1925 in Wien, Studium der Medizin, Anthropologie und Biologie. 1948 bis 1953 Leitung von Meeresexpeditionen, 1960 Professor für Zoologie in Wien, 1965 Professor an der University of North Carolina/USA, seit 1971 wieder an der Universität Wien. Präsident des »Forums österreichischer Wissenschaftler für Umweltschutz«. Hauptarbeitsgebiete: vergleichende Anatomie, Ökologie und Meereskunde, Evolutionsforschung, theoretische Biologie, Erkenntnislehre. Veröffentlichungen u.a.: »Die Ordnung des Lebendigen«, »Biologie der Erkenntnis«, »Die Spaltung des Weltbildes«; Im Piper Verlag: »Die Strategie der Genesis«, »Evolution und Erkenntnis«, »Kultur – Spätzündung der Evolution?«.






Rupert Riedl ist am 18. September 2005 gestorben.


Inhaltsverzeichnis


Vorwort



Einführung






Teil 1: Verträge aus unserer Natur



oder: Adaptierung, Pervertierung, Restaurierung



Über die Natur unserer Ausstattung oder: Wie wir gemacht worden sind



Wem unsere Natur ausgesetzt ist oder: Was wir aus uns gemacht haben



Worin der Vertrag bestehen kann oder: Was wir nun mit uns zu verhandeln haben werden






Teil 2: Über eigene und kollektive Inhalte



oder: Altruismus, Nihilismus, Egoismus



Über Massenvermännlichung oder: Das Lob der Frauen



Die Verhaustierung des Menschen oder: Das Lob des Liebens



Über Aufrüstungsverhandlungen oder: Das Lob des Nachbarn



Die Logik der Massenprivilegien oder: Der Wert des Wachstums



Die Lebenswaffenschmiede oder: Der Wert der Bildung



Die Paradoxien der Moral oder: Das Vornehme der Zukunft



Von Riesenrüben und Riesenfüchsen oder: Das Vornehme der Regulative



Über altruistischen Egoismus oder: Das Vornehme des Eigentums






Teil 3: Über eigene und kollektive Werte



oder: Pluralismus, Konformismus, Uniformismus



Über Verwirklichungs-Institutionen oder: Das Lob der Ungleichheit



Über gleiches Recht auf Ungleichheit oder: Das Lob der Identität



Die Institutionalisierung der Eile oder: Das Lob der Beschaulichkeit



Der Narrenkasten oder: Der Wert der Phantasie



Die Fahne im Wind oder: Der Wert des Wandels



Das Antiökonomieprinzip oder: Der Wert des Kleinen



Über naive Reisende oder: Das Vornehme der freien Meinung



Macht muß Recht werden oder: Das Vornehme der Medien



Das Salz der Geschichte oder: Das Vornehme der Minderheiten



Bertrand Russells Hühner oder: Das Vornehme der Wahrheit






Teil 4: Über eigenes und kollektives Tun



oder: Zwecke, Zweifel und Zwänge



Das Elend des Zentralismus oder: Das Lob der Funktionen



Wer Verantwortung verantwortet oder: Das Lob der Sicherheit



Entwurf der Wegwerfgesellschaft oder: Das Lob der Arbeit



Die Substitution des Menschen oder: Der Wert des Kreatürlichen



Über Kulturparasitismus oder: Der Wert der kulturellen Wirte



Die Erfindung des Schöpfers oder: Der Wert der Re-ligio



Stricken am Maschenfaden oder: Das Vornehme der téchne



Der Anti-Ameisenstaat oder: Das Vornehme der Zwecke



Die Verhöhnung der Primitiven oder: Das Vornehme des Denkens



Kindern Natur zurückgeben oder: Das Vornehme des Nicht-Machbaren



Gottes Verantwortung oder: Das Vornehme der Weltordnung






Teil 5: Verträge mit unserer Gesellschaft



oder: Wünsche, Ansprüche und Rechte



Über das Goldene Kalb oder: Lernschritte für den Bürger



Über das Eigenleben der Kollektive oder: Lernschritte für Institutionen



Über den Sachwalter der Metaphysik oder: Lernschritte für den Staat






Literaturhinweise, Register


Leseprobe


Vorwort






Dies ist ein ganz persönliches Buch. Es hat zwar wieder die Evolutions- und Systemtheorie zum Hintergrund und vor allem die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Im Unterschied zu meinen bisherigen Büchern zu diesen Themen, die sich in der üblichen Schwebe zwischen wissenschaftlicher Theorie und Lebenspraxis nur durchschnittlich exponierten, ist das hier anders.






Hier ziele ich absichtsvoll auf die Anwendung unserer Einsichten in die Lebenspraxis in unserer Gesellschaft. Ich wende mich nun direkt an den Bürger, an unsere kulturellen Institutionen und an den Staat. Und das verlangt in jedem Falle, Farbe zu bekennen. Also muß Subjektives mehr als sonst hervortreten, und es ist unmöglich, daß jeder – nach so vielen verschiedenen Prägungen in unserer Jugend – mit jeder meiner kritischen Perspektiven einverstanden sein kann.






Aber eines ist es, sich nicht zu exponieren, ein anderes jedoch, dem »Abbau des Menschlichen« in unseren Zivilisationen zuzusehen, obwohl man die Ursachen zu kennen meint, auf welchen dieser Abbau der conditio humana beruht. Was uns nämlich diese Zivilisationen suggerieren – daß es darauf ankäme, seine eigene Haut zu schonen –, hat gerade dazu geführt, daß wir sie nun alle gefährdet sehen.






Die Mühseligkeiten der menschlichen Existenz zu mindern, hielt schon Bertolt Brecht für die vornehmste Aufgabe der Wissenschaften. Aber weiter noch geht es heute darum, die Gefahren einer weiteren Eskalation der Industriegesellschaften und der Rüstung zu mindern, auch die Gefahr einer weiteren Zerstörung der Natur.






Ich kenne die begonnenen Verhandlungen zwischen Wissenschaften, Institutionen und Staat, welche uns meine Regierung ermöglicht, aus eigener Erfahrung. Ich weiß daher, wie ernst unsere Lage ist und welche Lernschritte dem Bürger, den Institutionen und dem Staat zu empfehlen sind, wenn es um die nächste Generation geht und um eine klügere und bessere Welt.






Also muß geredet werden. Viel Anregung dazu verdanke ich unserem »Altenberger Kreis«, unserem »Forum Österreichischer Wissenschaftler für Umweltschutz« und meinen getreuen Lektorinnen. Dem Verlagshaus Piper bin ich verbunden für neuerliche, sorgliche Betreuung eines Bandes.






Wien, im Sommer 1987

Rupert Riedl









Einführung






Der Aufbau des Menschlichen erfolgte über hundert Jahrtausende, vielleicht über einen Zeitraum von mehr als einer Jahrmilllon. Massiver Selektionsdruck einer noch feindlichen Natur hat diesen frühen Menschen über ungezählte grausame Schicksale herausgebildet, das Bewußtsein hell gemacht, ihn seine noch einfache Welt richtig interpretieren lassen und seine sozialen Adaptierungen so geregelt, daß der Erfolg dieser Spezies den aller anderen Kreatur übertraf. Kulturen waren die Folge.






Diese Kulturen haben auf jenen erblich verankerten Regulativen aufgebaut, sie aber in einem für Evolutionsprozesse völlig neuen Tempo, und nun mit selbstgemachten Strukturen, überbaut. Die Zivilisation hat die alten Anlagen überwuchert. Und sosehr wir auch meinen, ihre Entwicklung absichtsvoll gelenkt zu haben, sind wir in ihre Konsequenzen doch nur, wie Friedrich von Hayek zeigt, hineingestolpert.






Die Zivilisationen sind uns passiert. Etwa in dem Sinne, daß keiner, der Geschichte machen wollte und auch Geschichte gemacht hat, wissen konnte, welche Geschichte er gemacht haben werde. So mußte es geschehen, daß manche der sich verselbständigenden Institutionen einer Zivilisation, wiewohl von den alten Regulativen gefördert, deren lebensfördernde Wirkung in wenigen Jahrzehnten pervertieren und sogar gegen unsere Lebensinteressen wenden konnten.






Der Abbau des Menschlichen konnte uns, auch gegen beste Absicht, geschehen, weil wir zu wenig von Entwicklungsgesetzen und von der universellen Ausstattung des Menschen wußten, vom Entstehen und den Grenzen der Vorbedingungen unserer Vernunft wie überhaupt von den Eigengesetzlichkeiten komplexer Systeme. Solcherart Kenntnis steht nun zur Verfügung, und Konrad Lorenz hat schon vor fünf Jahren die Grundgesetze dieses Abbauvorgangs beschrieben.






Es ist die Evolutionäre Erkenntnistheorie, in welcher jene Kenntnisse zusammenlaufen. Sie stellt fest, daß unsere alte Ausstattung, jene angeborenen Anschauungsformen, die uns lenken, die Welt zu deuten, in Zeiten, wie sie Kulturen zur Verfügung stehen, nicht mehr veränderbar sein werden. Sie können nur mehr mit Hilfe der Erfahrung überstiegen werden.






Viel Einsicht hinsichtlich unserer sozialisierenden Ausstattungen entnehmen wir heute der Vergleichenden Verhaltensforschung. Mit den Grundlagen unseres Weltbildapparates (»Biologie der Erkenntnis«), dem Erkennen und Begreifen (»Begriff und Welt«) wie dem Erklären und Verstehen (»Die Spaltung des Weltbildes«) habe ich mich in Büchern selbst auseinandergesetzt; und wie unsere Haltung zu den Fragen von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zu deuten ist, damit befassen wir uns in diesen Jahren.






Der Wiederaufbau des Menschlichen müßte aus diesen Kenntnissen darstellbar werden. Freilich vorerst nur in der apodiktischen Kürze eines Entwurfs. Er soll zeigen, wie unsere Natur beschaffen ist und in welcher Weise einerseits das soziale Milieu unserer Zivilisation mit unserer Ausstattung wieder verträglich gemacht werden kann und andererseits unser Weltbildapparat mit der Komplexität dieser Welt (Teil 1). Wie unsere Haltungen zwischen Altruismus und Egoismus (Teil 2), zwischen Pluralismus und Uniformismus (Teil 3) und zwischen Zwecken und Zwängen (Teil 4) pervertiert wurden und restauriert werden könnten, schildern konkrete Beispiele. Und welche Verträge mit unserer Gesellschaft zu schließen wären (Teil 5), das will ich aus der gemachten Erfahrung herleiten.






Es wird, im Unterschied zu Rousseaus »Gesellschaftsvertrag«, mehr von Verträglichkeit die Rede sein. Einmal, weil unsere Verhandlungen mit unserer Gesellschaft nie aufhören sollen. Ein andermal, weil man mit den Gegebenheiten, welche die Natur bietet – die äußere wie unsere eigene –, nur begrenzt verhandeln kann. Darin liegt auch der Unterschied: Wir wissen heute um so viel mehr, wie die Welt gemacht ist und was im Menschen verankert bleibt, daß wir angeben können, was unsere Gesellschaft vom Menschen noch nicht versteht und der Mensch noch nicht von seiner Welt.






Ich muß also eine Fülle an Kritik folgen lassen. Man verstehe mich aber recht. Diese Fülle an Kritik ist nicht darauf zurückzuführen, daß ich meinte, aus der Perspektive einer besonders zu kritisierenden Zivilisation heraus zu schreiben. Im Gegenteil: Unter den industrialisierten Gesellschaften, welche diese Welt gefährden, ist diejenige, aus der heraus ich schreibe, noch geradezu die beste. Es ist umgekehrt eben das Niveau dieser Kultur, das es erlaubt, kritisch und sogar sehr kritisch mit ihr umzugehen; und auch mit einiger Hoffnung, verstanden zu werden.






Ich halte diese Möglichkeit und die Ambition zu aufbauender Kritik sogar für Wertmaßstäbe der Kultur einer Nation und der Bildung ihrer Bürger und möchte sie allen wünschen, die am Abbau des Menschlichen bereits beteiligt sind.


Siehe auch


Fernsehinterview im Bayerischen Rundfunk am 7.2.2001



Rupert Riedl auf www.zeitzug.com (Milena Findeis)