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Ernst Friedrich Schumacher
Rat für die Ratlosen

Vom sinnerfüllten Leben

Reinbeck bei Hamburg 1979 (Rowohlt); 200 Seiten; ISBN 3-498-06130-5
Originalausgabe: A Guide for the Perplexed, New York 1977;




 HÖREN! 


»Small is Beautiful« – Ernst Friedrich Schumacher zum 100. Geburtstag
Radiosendung von Renate Börger und Claus Biegert, gesendet am 4. August 2011 um 20:03 im Programm Bayern2Radio des Bayerischen Rundfunks
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(von http://www.br-online.de/podcast/mp3-download/bayern2/mp3-download-podcast-radiothema.shtml)




»Wir sind viel zu gescheit geworden, als daß wir ohne Weisheit überleben könnten.«

E.F.Schumacher, der im Sommer 1977 verstorbene, mit »Small is Beautiful« (Die Rückkehr zum menschlichen Maß) weltbekannt gewordene Autor, fordert in diesem seinem letzten Buch die Wiederentwicklung des verstehenden Wissens, der Weisheit gegenüber der alles verdrängenden Flut des instrumentellen Wissens. Wollte »Small is Beautiful« die Ökonomie in menschliches Maß zurückführen, so will dieser »Rat für die Ratlosen« der Monopolisierung des menschlichen Denkens unter das Joch der instrumentellen Wissenschaften entgegenwirken. Schumacher setzt dem seine geistige Landkarte entgegen. Er fordert in behutsamer Wanderung durch die großen eigenständigen Denkformen des Ostens wie des Westens die Rückbesinnung auf das sinnerfüllte Leben: Warum lebe ich? Welchen Sinn hat meine Existenz? – Fragen, die der wissenschaftliche Rationalismus der Neuzeit nur unzulänglich, vor allem aber auch unbefriedigend für die existentiellen Nöte des modernen Menschen beantwortet.

Siehe auch:  Symposium der E.F.Schumacher-Gesellschaft für Politische Ökonomie zur Feier des 100. Geburtstag von E.F.Schumacher 


Ernst Friedrich Schumacher


Geboren am 16. August 1911 in Bonn; gestorben am 4. September 1977 im Zug zwischen Genf und Lausanne). Britischer Ökonom deutscher Herkunft. Nach dem Abitur studierte er Volkswirtschaftslehre, zunächst in Bonn, Berlin und dann an der London School of Economics and Political Science sowie als Rhodes-Stipendiat in Oxford. Vor dem zweiten Weltkrieg floh er zurück nach England, um dem Nazi-Regime zu entkommen. Nach dem Krieg arbeitete Schumacher als Wirtschaftsberater bei der britischen Steuerkommission, die mit dem Umbau der deutschen Wirtschaft betraut wurde. Von 1950 bis 1970 war er Chief Economic Advisor (Chefökonom) der britischen Kohlebehörde, die über 800.000 Angestellte verfügte. Mit seiner weitsichtigen Planung (er sagte den Aufstieg von OPEC und die Probleme der Kernenergie voraus), half er Großbritannien bei seinem Wirtschaftsaufschwung. 1955 reiste Schumacher als ökonomischer Berater nach Birma. Dort entwickelte er die Grundregeln von dem, was er „Buddhist Economics“ nannte, basierend auf dem Glauben, dass gute Arbeit für eine richtige menschliche Entwicklung wesentlich ist und dass "Produktion von lokalen Betriebsmitteln für die lokale Notwendigkeiten die rationalste Weise des Wirtschaftens ist." 1971 konvertierte er zum katholischen Glauben. Über sein Verhältnis zur katholischen Kirche sagte er einmal: It was a long standing illicit relationship.


Inhaltsverzeichnis


I.

Der Aufbau des Lebens
»Meine ganze Schul- und Universitätszeit hindurch hatte man mir Karten vom Leben und vom Wissen gegeben, auf denen nicht die kleinste Spur von den Dingen zu sehen war, die mir am meisten bedeuteten und mir von größter Wichtigkeit für mein weiteres Leben zu sein schienen.«

Die Philosophen als Kartographen
Stufen des Seins
Notwendigkeit und Freiheit







II.

Wege des Erkennens
»Die alte Wissenschaft - ›Weisheit‹ oder ›verstehendes Wissen‹ – war in erster Linie auf das ›höchste Gut‹ gerichtet, d.h. das Schöne, Wahre und Gute, deren Kenntnis Glück und Rettung bringen sollte. Die neue Wissenschaft war unmittelbar auf die Erreichung materieller Macht gerichtet. Die alte Wissenschaft betrachtete die Natur als Gottes Werk und als Mutter des Menschen; die neue Wissenschaft sieht sie als einen zu besiegenden Gegner oder als einen auszubeutenden Steinbruch an.«

Erkenntnisstufen und Seinsstufen
Instrumentelles und verstehendes Wissen







III.

Karte des Wissens
»Sicherlich hat es für jeden im Leben Augenblicke mit mehr Bedeutung und Wirklichkeit der Erfahrung gegeben, als der Alltag bereithält. Solche Augenblicke sind Fingerzeige, flüchtige Blicke auf unverwirklichte Möglichkeiten.«

Selbsterkenntnis und innere Erfahrung
Verstehen und Verständigung
‹Ich› und ‹Du›: der andere als Spiegel meiner selbst
Wissenschaft und Glaube







IV.

Die Krise der Moderne
»Immer mehr Menschen fangen an zu begreifen, daß das ›moderne Experiment‹ gescheitert ist. Es bekam seine ersten Anstöße durch das, was ich die kartesianische Revolution genannt habe, die mit unerbittlicher Folgerichtigkeit den Menschen von jenen höheren Stufen löste, die allein seine Menschlichkeit erhalten können. Der Mensch hat sich selbst die Tore des Himmels verschlossen und mit ungeheurer Energie und Findigkeit versucht, sich auf die Erde zu beschränken. Nunmehr entdeckt er, daß die Erde lediglich ein vorübergehender Aufenthaltsort ist und die Weigerung, nach dem Himmel zu trachten, einen unfreiwilligen Abstieg zur Hölle bedeutet.«

Ein Leben ohne Religion?








Epilog




Anmerkungen


Leseprobe


I. Der Aufbau des Lebens
Die Philosophen als Kartographen






Bei einem Besuch Leningrads vor einigen Jahren versuchte ich, mich auf dem Stadtplan zurechtzufinden, es gelang mir nicht. Zwar hatte ich einige große Kirchen gesehen, doch keine Spur von ihnen auf dem Stadtplan. Schließlich kam mir ein Dolmetscher zu Hilfe und sagte: «Wir verzeichnen auf unseren Plänen keine Kirchen.» Ich widersprach ihm und wies auf eine, die deutlich gekennzeichnet war. «Das ist ein Museum», sagte er, «keine ‹richtige Kirche›. Nur ‹richtige Kirchen› zeigen wir nicht.»

Da ging mir auf, daß ich hier nicht zum erstenmal eine Karte in Händen hielt, die vieles von dem, was ich unmittelbar vor mir sehen konnte, nicht zeigte. Meine ganze Schul- und Universitätszeit hindurch hatte man mir Karten vom Leben und vom Wissen gegeben, auf denen nicht die kleinste Spur von den Dingen zu sehen war, die mir am meisten bedeuteten und mir von größter Wichtigkeit für mein weiteres Leben zu sein schienen. Ich erinnere mich, daß ich jahrelang völlig ratlos war, und kein Dolmetscher kam mir zu Hilfe. Diese Ratlosigkeit dauerte an, bis ich nicht mehr an der Vernunft meiner Wahrnehmungen zweifelte, sondern die Richtigkeit der Karten in Frage stellte.

Aus den Karten, die man mir gegeben hatte, erfuhr ich, daß praktisch alle meine Vorfahren ziemlich rührende Schwärmer und Träumer gewesen seien, die ihr Leben auf der Grundlage irrationaler Glaubensvorstellungen und absurden Aberglaubens geführt hätten. Selbst berühmte Naturwissenschaftler wie Johannes Kepler oder Isaac Newton hatten offenbar den größten Teil ihrer Zeit und Energie mit unsinnigen Untersuchungen nicht-existierender Gegenstände zugebracht. Die ganze Geschichte hindurch hatte man ungeheure Mengen schwerverdienten Reichtums zur Ehre und zum Ruhm imaginärer Gottheiten verschwendet – und zwar nicht nur meine europäischen Vorfahren, sondern alle Völker in allen Erdteilen und zu allen Zeiten. Überall unterwarfen sich Tausende scheinbar gesunder Männer und Frauen äußerst sinnlosen Einschränkungen, wie beispielsweise freiwilligem Fasten; sie peinigten sich durch Ehelosigkeit, vergeudeten ihre Zeit mit Pilgerfahrten, geradezu unglaublichen Ritualen, ständig wiederholtem Gebet und so weiter. Sie kehrten der Wirklichkeit den Rücken – einige tun das noch heute, in unserem aufgeklärten Zeitalter! – und das für nichts und wieder nichts, aus bloßer Unwissenheit und Dummheit. Nichts davon wird heute ernstgenommen, es sei denn in Form von Museumsstücken. Aus was für einer Geschichte des Irrtums sind wir hervorgegangen! Was für eine Geschichte war das, in der man Dinge als wirklich ansah, von denen jedes Kind der Moderne wußte, daß es sie ausschließlich in der Einbildung und Vorstellungskraft gab! Unsere gesamte Vergangenheit, außer der ganz unmittelbaren, taugte nur noch fürs Museum, in dem die Menschen ihre auf die Wunderlichkeit und Unfähigkeit früherer Generationen bezogene Neugier befriedigen konnten. Auch die Schriften unserer Vorfahren hatten kaum einen anderen Nutzen, als sie in Bibliotheken aufzubewahren, wo Historiker und andere Spezialisten diese Hinterlassenschaft studieren und Bücher darüber schreiben konnten. Die Vergangenheit zu kennen wurde als interessant und gelegentlich aufregend angesehen. Man maß ihr aber nicht so viel Wert bei, daß man glaubte, mit ihrer Hilfe die Aufgaben der Gegenwart meistern zu können.

All das und vielerlei anderes, Ähnliches, brachte man mir in Schule und Universität bei, wenn auch nicht offen und klar ausgesprochen. Man konnte die Dinge nicht beim Namen nennen – Vorfahren waren mit Ehrerbietung zu behandeln, denn sie konnten nichts für ihre Rückständigkeit. Sie gaben sich große Mühe und kamen der Wahrheit bisweilen durch Zufall auch recht nahe. Ihr Vertieftsein in die Religion war eines von vielen Zeichen dafür, wie unterentwikkelt sie waren, was bei unmündigen Menschen ja auch nicht überraschen konnte. Selbstverständlich gab es auch in der Gegenwart ein gewisses Interesse an der Religion, das das früherer Zeiten legitimierte. Noch immer durfte bei passenden Gelegenheiten von Gott dem Schöpfer gesprochen werden, auch wenn jeder Gebildete wußte, daß es keinen wirklichen Gott gab, ganz gewiß keinen, der irgend etwas zu erschaffen vermochte, und daß die Dinge um uns herum durch einen bewußtlosen Entwicklungsprozeß, das heißt durch Zufall und natürliche Selektion, entstanden waren. Unglücklicherweise wußten unsere Vorfahren noch nichts von Evolution, so daß sie sich all diese phantasievollen Mythen erdachten.

Auf den Karten des wirklichen Wissens, die für das wirkliche Leben vorgesehen waren, fand sich nichts außer Dingen, deren Vorhandensein angeblich beweisbar war. Der erste Grundsatz der kartographierenden Philosophen schien zu sein: ‹Im Zweifelsfall weglassen› oder ins Museum schicken. Mir fiel jedoch auf, daß die Frage, was einen Beweis ausmacht, sehr vielschichtig und schwierig war. Wäre es nicht klüger, das Prinzip umzukehren und zu sagen: ‹Im Zweifelsfall deutlich herausstellen›? Schließlich ist etwas, das über jeden Zweifel erhaben ist, in gewisser Hinsicht tot. Es stellt keine Herausforderung mehr für die Lebenden dar.

Etwas als ‹wahr› anzunehmen birgt immer die Gefahr des Irrtums. Wenn ich mich auf ein Wissen beschränke, das ich als zweifelsfrei wahr ansehe, vermindere ich zwar die Gefahr des Irrtums, vergrößere aber zugleich die Gefahr, etwas zu versäumen, was möglicherweise zu den verzweigtesten, wichtigsten und lohnendsten Dingen des Lebens gehört. Thomas von Aquin lehrte – Aristoteles folgend –: «Und dennoch ist das Geringste, was man an Erkenntnis der höheren Dinge haben kann, erstrebenswerter als die gewisseste Erkenntnis, die man von den geringsten Dingen hat.» ‹Geringe› Erkenntnis wird hier ‹gewisser› Erkenntnis gegenübergestellt und läßt an Ungewißheit denken. Vielleicht muß es so sein, daß man die höheren Dinge nicht mit derselben Gewißheit wie die geringeren Dinge wissen kann. In diesem Fall wäre es tatsächlich ein großer Verlust, wenn Erkenntnis auf zweifelsfrei beweisbare Dinge beschränkt bliebe.

Die philosophischen Karten, die man mir in der Schule und der Universität aushändigte, zeigten nicht nur keine ‹richtigen Kirchen› wie die Karte von Leningrad, von der ich gesprochen habe, sie ließen auch große ‹unorthodoxe› Bereiche der Theorie und Praxis in der Medizin, der Landwirtschaft, der Psychologie und den Gesellschafts- und Politikwissenschaften aus, ganz zu schweigen von der Kunst und sogenannten okkulten und paranormalen Erscheinungen, deren bloße Erwähnung als Zeichen geistiger Unzulänglichkeit angesehen wurde. Insbesondere die prominentesten der offiziellen Lehrmeinungen betrachteten die Kunst lediglich als Möglichkeit der Selbstdarstellung oder der Wirklichkeitsflucht. Auch in der Natur gebe es höchstens zufällig etwas Künstlerisches, das heißt, selbst die schönsten Erscheinungen ließen sich – so sagte man uns – auf eine nützliche Funktion zurückführen, nämlich die, die Reproduktion des Lebens und natürliche Selektion zu sichern. Insgesamt war, von ‹musealen› Bereichen abgesehen, der ganze Lebensplan von oben bis unten und von links nach rechts in utilitaristischen Farben gezeichnet: Es gab darin fast nichts, was nicht als der Bequemlichkeit des Menschen dienlich oder dem allgemeinen Überlebenskampf nützlich galt.

Je gründlicher wir uns mit den Einzelheiten des Planes vertraut machten, das heißt, je mehr wir von dem in uns aufnahmen, was er zeigte, und uns daran gewöhnten, daß die Dinge fehlten, die er nicht zeigte, desto ratloser, unglücklicher und zynischer wurden wir natürlich. Einige von uns jedoch machten ähnliche Erfahrungen, wie Maurice Nicoll sie beschrieben hat:

«Einmal wagte ich, in einer der am Sonntag stattfindenden Unterrichtsstunden, in denen wir uns unter der Anleitung des Schulleiters mit dem griechischen Neuen Testament beschäftigten, trotz meines Stotterns nach der Bedeutung eines bestimmten Gleichnisses zu fragen. Die Antwort war so verworren, daß ich den ersten Augenblick von Bewußtheit erlebte – das heißt, mir wurde plötzlich klar, daß niemand etwas wußte ... und von dem Augenblick an begann ich, für mich selbst zu denken, oder vielmehr, ich begriff, daß ich es konnte ... Ich sehe dieses Klassenzimmer noch deutlich vor mir, die hohen Fenster, die so angelegt waren, daß wir nicht hinaussehen konnten, die Schulbänke, das Podest, auf dem der Schulleiter saß, sein schmales Gelehrtengesicht, seine Angewohnheit, zu gestikulieren und nervös mit den Mundwinkeln zu zucken – und plötzlich diese Enthüllung in meinem Inneren, ich wußte, daß er nichts wußte – das heißt, nichts von den Dingen, auf die es wirklich ankam. Das war meine erste innere Befreiung von der Macht des äußeren Lebens. Von da an wußte ich bestimmt – und das bedeutete stets durch wahrhaft eigene innere Wahrnehmung, die die einzige Quelle wirklichen Wissens darstellt –, daß all mein Abscheu gegen die Religion, so wie man sie mich gelehrt hatte, berechtigt war.»

Die von der modernen materialistischen Wissenschaftsgläubigkeit hervorgebrachten Karten beantworten keine der Fragen, auf die es wirklich ankommt. Mehr noch, sie zeigen nicht einmal den Weg zu einer möglichen Antwort: sie leugnen schon die Berechtigung der Fragen. In meiner Jugend, vor einem halben Jahrhundert, war die Lage verzweifelt genug, jetzt aber hat sie sich noch durch die immer striktere Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf alle Gegenstände und Fachgebiete verschlimmert, denn dadurch wurden auch die letzten Reste überlieferter Weisheit – zumindest in der westlichen Welt – zerstört. Im Namen wissenschaftlicher Objektivität wird lauthals behauptet, Sinn und Werte seien «nichts als Abwehrmechanismen und Reaktionsbildungen »; der Mensch sei «nichts als ein komplizierter biochemischer Mechanismus, dessen Energie von einem Verbrennungssystem geliefert wird, das Computer mit Energie versorgt, die unerhört reich an Speichern für die Aufbewahrung von verschlüsselten Informationen sind»; und Freud versicherte uns gar: «...mit Sicherheit (weiß) ich nur das eine, daß die Werturteile der Menschen unbedingt von ihren Glückswünschen geleitet werden, also ein Versuch sind, ihre Illusionen mit Argumenten zu stützen.»

(...)


Siehe auch:


Ernst Friedrich Schumacher: Die Rückkehr zum menschlichen Maß («Small is Beautifull») – Alternativen für Wirtschaft und Technik



Ernst Friedrich Schumacher: Das Ende unserer Epoche («Good Work») – Reden und Aufsätze