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Bei
einem Besuch Leningrads vor einigen Jahren versuchte ich, mich
auf dem Stadtplan zurechtzufinden, es gelang mir nicht. Zwar
hatte ich einige große Kirchen gesehen, doch keine Spur von
ihnen auf dem Stadtplan. Schließlich kam mir ein
Dolmetscher zu Hilfe und sagte: «Wir verzeichnen auf
unseren Plänen keine Kirchen.» Ich widersprach ihm und
wies auf eine, die deutlich gekennzeichnet war. «Das ist
ein Museum», sagte er, «keine ‹richtige
Kirche›. Nur ‹richtige Kirchen› zeigen wir
nicht.»
Da ging mir auf, daß ich hier nicht
zum erstenmal eine Karte in Händen hielt, die vieles von
dem, was ich unmittelbar vor mir sehen konnte, nicht zeigte.
Meine ganze Schul- und Universitätszeit hindurch hatte man
mir Karten vom Leben und vom Wissen gegeben, auf denen nicht die
kleinste Spur von den Dingen zu sehen war, die mir am meisten
bedeuteten und mir von größter Wichtigkeit für
mein weiteres Leben zu sein schienen. Ich erinnere mich, daß
ich jahrelang völlig ratlos war, und kein Dolmetscher kam
mir zu Hilfe. Diese Ratlosigkeit dauerte an, bis ich nicht mehr
an der Vernunft meiner Wahrnehmungen zweifelte, sondern die
Richtigkeit der Karten in Frage stellte.
Aus den Karten,
die man mir gegeben hatte, erfuhr ich, daß praktisch alle
meine Vorfahren ziemlich rührende Schwärmer und Träumer
gewesen seien, die ihr Leben auf der Grundlage irrationaler
Glaubensvorstellungen und absurden Aberglaubens geführt
hätten. Selbst berühmte Naturwissenschaftler wie
Johannes Kepler oder Isaac Newton hatten offenbar den größten
Teil ihrer Zeit und Energie mit unsinnigen Untersuchungen
nicht-existierender Gegenstände zugebracht. Die ganze
Geschichte hindurch hatte man ungeheure Mengen schwerverdienten
Reichtums zur Ehre und zum Ruhm imaginärer Gottheiten
verschwendet – und zwar nicht nur meine europäischen
Vorfahren, sondern alle Völker in allen Erdteilen und zu
allen Zeiten. Überall unterwarfen sich Tausende scheinbar
gesunder Männer und Frauen äußerst sinnlosen
Einschränkungen, wie beispielsweise freiwilligem Fasten; sie
peinigten sich durch Ehelosigkeit, vergeudeten ihre Zeit mit
Pilgerfahrten, geradezu unglaublichen Ritualen, ständig
wiederholtem Gebet und so weiter. Sie kehrten der Wirklichkeit
den Rücken – einige tun das noch heute, in unserem
aufgeklärten Zeitalter! – und das für nichts und
wieder nichts, aus bloßer Unwissenheit und Dummheit. Nichts
davon wird heute ernstgenommen, es sei denn in Form von
Museumsstücken. Aus was für einer Geschichte des
Irrtums sind wir hervorgegangen! Was für eine Geschichte war
das, in der man Dinge als wirklich ansah, von denen jedes Kind
der Moderne wußte, daß es sie ausschließlich in
der Einbildung und Vorstellungskraft gab! Unsere gesamte
Vergangenheit, außer der ganz unmittelbaren, taugte nur
noch fürs Museum, in dem die Menschen ihre auf die
Wunderlichkeit und Unfähigkeit früherer Generationen
bezogene Neugier befriedigen konnten. Auch die Schriften unserer
Vorfahren hatten kaum einen anderen Nutzen, als sie in
Bibliotheken aufzubewahren, wo Historiker und andere Spezialisten
diese Hinterlassenschaft studieren und Bücher darüber
schreiben konnten. Die Vergangenheit zu kennen wurde als
interessant und gelegentlich aufregend angesehen. Man maß
ihr aber nicht so viel Wert bei, daß man glaubte, mit ihrer
Hilfe die Aufgaben der Gegenwart meistern zu können.
All
das und vielerlei anderes, Ähnliches, brachte man mir in
Schule und Universität bei, wenn auch nicht offen und klar
ausgesprochen. Man konnte die Dinge nicht beim Namen nennen –
Vorfahren waren mit Ehrerbietung zu behandeln, denn sie konnten
nichts für ihre Rückständigkeit. Sie gaben sich
große Mühe und kamen der Wahrheit bisweilen durch
Zufall auch recht nahe. Ihr Vertieftsein in die Religion war
eines von vielen Zeichen dafür, wie unterentwikkelt sie
waren, was bei unmündigen Menschen ja auch nicht überraschen
konnte. Selbstverständlich gab es auch in der Gegenwart ein
gewisses Interesse an der Religion, das das früherer Zeiten
legitimierte. Noch immer durfte bei passenden Gelegenheiten von
Gott dem Schöpfer gesprochen werden, auch wenn jeder
Gebildete wußte, daß es keinen wirklichen Gott gab,
ganz gewiß keinen, der irgend etwas zu erschaffen
vermochte, und daß die Dinge um uns herum durch einen
bewußtlosen Entwicklungsprozeß, das heißt durch
Zufall und natürliche Selektion, entstanden waren.
Unglücklicherweise wußten unsere Vorfahren noch nichts
von Evolution, so daß sie sich all diese phantasievollen
Mythen erdachten.
Auf den Karten des wirklichen
Wissens, die für das wirkliche Leben vorgesehen
waren, fand sich nichts außer Dingen, deren Vorhandensein
angeblich beweisbar war. Der erste Grundsatz der
kartographierenden Philosophen schien zu sein: ‹Im
Zweifelsfall weglassen› oder ins Museum schicken. Mir fiel
jedoch auf, daß die Frage, was einen Beweis ausmacht, sehr
vielschichtig und schwierig war. Wäre es nicht klüger,
das Prinzip umzukehren und zu sagen: ‹Im Zweifelsfall
deutlich herausstellen›? Schließlich ist
etwas, das über jeden Zweifel erhaben ist, in gewisser
Hinsicht tot. Es stellt keine Herausforderung mehr für die
Lebenden dar.
Etwas als ‹wahr› anzunehmen
birgt immer die Gefahr des Irrtums. Wenn ich mich auf ein Wissen
beschränke, das ich als zweifelsfrei wahr ansehe, vermindere
ich zwar die Gefahr des Irrtums, vergrößere aber
zugleich die Gefahr, etwas zu versäumen, was möglicherweise
zu den verzweigtesten, wichtigsten und lohnendsten Dingen des
Lebens gehört. Thomas von Aquin lehrte – Aristoteles
folgend –: «Und dennoch ist das Geringste, was man an
Erkenntnis der höheren Dinge haben kann, erstrebenswerter
als die gewisseste Erkenntnis, die man von den geringsten Dingen
hat.» ‹Geringe› Erkenntnis wird hier
‹gewisser› Erkenntnis gegenübergestellt und
läßt an Ungewißheit denken. Vielleicht muß
es so sein, daß man die höheren Dinge nicht mit
derselben Gewißheit wie die geringeren Dinge wissen kann.
In diesem Fall wäre es tatsächlich ein großer
Verlust, wenn Erkenntnis auf zweifelsfrei beweisbare Dinge
beschränkt bliebe.
Die philosophischen Karten, die
man mir in der Schule und der Universität aushändigte,
zeigten nicht nur keine ‹richtigen Kirchen› wie die
Karte von Leningrad, von der ich gesprochen habe, sie ließen
auch große ‹unorthodoxe› Bereiche der Theorie
und Praxis in der Medizin, der Landwirtschaft, der Psychologie
und den Gesellschafts- und Politikwissenschaften aus, ganz zu
schweigen von der Kunst und sogenannten okkulten und paranormalen
Erscheinungen, deren bloße Erwähnung als Zeichen
geistiger Unzulänglichkeit angesehen wurde. Insbesondere die
prominentesten der offiziellen Lehrmeinungen betrachteten die
Kunst lediglich als Möglichkeit der Selbstdarstellung oder
der Wirklichkeitsflucht. Auch in der Natur gebe es höchstens
zufällig etwas Künstlerisches, das heißt, selbst
die schönsten Erscheinungen ließen sich – so
sagte man uns – auf eine nützliche Funktion
zurückführen, nämlich die, die Reproduktion des
Lebens und natürliche Selektion zu sichern. Insgesamt war,
von ‹musealen› Bereichen abgesehen, der ganze
Lebensplan von oben bis unten und von links nach rechts in
utilitaristischen Farben gezeichnet: Es gab darin fast nichts,
was nicht als der Bequemlichkeit des Menschen dienlich oder dem
allgemeinen Überlebenskampf nützlich galt.
Je
gründlicher wir uns mit den Einzelheiten des Planes vertraut
machten, das heißt, je mehr wir von dem in uns aufnahmen,
was er zeigte, und uns daran gewöhnten, daß die Dinge
fehlten, die er nicht zeigte, desto ratloser, unglücklicher
und zynischer wurden wir natürlich. Einige von uns jedoch
machten ähnliche Erfahrungen, wie Maurice Nicoll sie
beschrieben hat:
«Einmal wagte ich, in einer der am
Sonntag stattfindenden Unterrichtsstunden, in denen wir uns unter
der Anleitung des Schulleiters mit dem griechischen Neuen
Testament beschäftigten, trotz meines Stotterns nach der
Bedeutung eines bestimmten Gleichnisses zu fragen. Die Antwort
war so verworren, daß ich den ersten Augenblick von
Bewußtheit erlebte – das heißt, mir wurde
plötzlich klar, daß niemand etwas wußte ...
und von dem Augenblick an begann ich, für mich selbst zu
denken, oder vielmehr, ich begriff, daß ich es konnte ...
Ich sehe dieses Klassenzimmer noch deutlich vor mir, die hohen
Fenster, die so angelegt waren, daß wir nicht hinaussehen
konnten, die Schulbänke, das Podest, auf dem der Schulleiter
saß, sein schmales Gelehrtengesicht, seine Angewohnheit, zu
gestikulieren und nervös mit den Mundwinkeln zu zucken –
und plötzlich diese Enthüllung in meinem Inneren, ich
wußte, daß er nichts wußte – das
heißt, nichts von den Dingen, auf die es wirklich ankam.
Das war meine erste innere Befreiung von der Macht des äußeren
Lebens. Von da an wußte ich bestimmt – und das
bedeutete stets durch wahrhaft eigene innere Wahrnehmung, die die
einzige Quelle wirklichen Wissens darstellt –, daß
all mein Abscheu gegen die Religion, so wie man sie mich gelehrt
hatte, berechtigt war.»
Die von der modernen
materialistischen Wissenschaftsgläubigkeit hervorgebrachten
Karten beantworten keine der Fragen, auf die es wirklich ankommt.
Mehr noch, sie zeigen nicht einmal den Weg zu einer möglichen
Antwort: sie leugnen schon die Berechtigung der Fragen. In meiner
Jugend, vor einem halben Jahrhundert, war die Lage verzweifelt
genug, jetzt aber hat sie sich noch durch die immer striktere
Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf alle
Gegenstände und Fachgebiete verschlimmert, denn dadurch
wurden auch die letzten Reste überlieferter Weisheit –
zumindest in der westlichen Welt – zerstört. Im Namen
wissenschaftlicher Objektivität wird lauthals behauptet,
Sinn und Werte seien «nichts als Abwehrmechanismen und
Reaktionsbildungen »; der Mensch sei «nichts als ein
komplizierter biochemischer Mechanismus, dessen Energie von einem
Verbrennungssystem geliefert wird, das Computer mit Energie
versorgt, die unerhört reich an Speichern für die
Aufbewahrung von verschlüsselten Informationen sind»;
und Freud versicherte uns gar: «...mit Sicherheit (weiß)
ich nur das eine, daß die Werturteile der Menschen
unbedingt von ihren Glückswünschen geleitet werden,
also ein Versuch sind, ihre Illusionen mit Argumenten zu
stützen.»
(...)
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