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Ernst Friedrich Schumacher
Das Ende unserer Epoche

Reden und Aufsätze
«Good Work»


Reinbeck bei Hamburg 1980 (Rowohlt); 200 Seiten; ISBN 3-498-06141-0
Originalausgabe: Good Work, New York 1979;




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»Small is Beautiful« – Ernst Friedrich Schumacher zum 100. Geburtstag
Radiosendung von Renate Börger und Claus Biegert, gesendet am 4. August 2011 um 20:03 im Programm Bayern2Radio des Bayerischen Rundfunks
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(von http://www.br-online.de/podcast/mp3-download/bayern2/mp3-download-podcast-radiothema.shtml)




Als Alternative zum großtechnologischen, naturzerstörerischen Industriegigantismus entwickelte Schumacher in seinem ersten Buch „Small is Beautiful“ das Konzept einer alternativen Technik und Ökonomie. Sein Buch „Rat für die Ratlosen“ weist einen Weg zur Wiederentdeckung des sinnerfüllten Lebens, das für Schumacher kein Leben ohne Religion sein kann. Sein letztes, poshum erschienenes Werk „Das Ende unserer Epoche“ führt die früheren Überlegungen fort und wendet sie auf den gesellschaftlichen Bereich an, der unser aller Leben am stärksten prägt: die Arbeit. Die konventionelle Technik hat die Arbeit für die meisten Menschen zu einer sinnentleerten Plage werden lassen, der man so schnell wie möglich zu entkommen sucht. Schumacher zeigt dagegen, dass eine in sich sinnvolle Arbeit zu den wesentlichen Voraussetzungen eines Lebens in Würde gehört.

Siehe auch:  Symposium der E.F.Schumacher-Gesellschaft für Politische Ökonomie zur Feier des 100. Geburtstag von E.F.Schumacher 


Ernst Friedrich Schumacher


Geboren am 16. August 1911 in Bonn; gestorben am 4. September 1977 im Zug zwischen Genf und Lausanne). Britischer Ökonom deutscher Herkunft. Nach dem Abitur studierte er Volkswirtschaftslehre, zunächst in Bonn, Berlin und dann an der London School of Economics and Political Science sowie als Rhodes-Stipendiat in Oxford. Vor dem zweiten Weltkrieg floh er zurück nach England, um dem Nazi-Regime zu entkommen. Nach dem Krieg arbeitete Schumacher als Wirtschaftsberater bei der britischen Steuerkommission, die mit dem Umbau der deutschen Wirtschaft betraut wurde. Von 1950 bis 1970 war er Chief Economic Advisor (Chefökonom) der britischen Kohlebehörde, die über 800.000 Angestellte verfügte. Mit seiner weitsichtigen Planung (er sagte den Aufstieg von OPEC und die Probleme der Kernenergie voraus), half er Großbritannien bei seinem Wirtschaftsaufschwung. 1955 reiste Schumacher als ökonomischer Berater nach Birma. Dort entwickelte er die Grundregeln von dem, was er „Buddhist Economics“ nannte, basierend auf dem Glauben, dass gute Arbeit für eine richtige menschliche Entwicklung wesentlich ist und dass "Produktion von lokalen Betriebsmitteln für die lokale Notwendigkeiten die rationalste Weise des Wirtschaftens ist." 1971 konvertierte er zum katholischen Glauben. Über sein Verhältnis zur katholischen Kirche sagte er einmal: It was a long standing illicit relationship.


Inhaltsverzeichnis


Vorwort von George McRobie



Einleitung



I.

Das Ende unserer Epoche
»Wir alle sind Opfer einer Gehirnwäsche, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, als offenbar die technische Unreife so groß war, daß man sagen konnte ›Je größer, desto besser‹: Nur im großen Maßstab können auf Wachstum angelegte Wirtschaftssysteme gedeihen. Dabei ging es aber um eine sehr wenig entwickelte Technik. Das ist jetzt nicht mehr an dem. Heute verfügen wir über hinreichende technische und wissenschaftliche Kenntnisse, um die Dinge wieder klein machen zu können.«



II.

Rückkehr zum menschlichen Maß
»Daher schlage ich vor, daß, wer sich um eine bessere Gesellschaft, um ein besseres System bemüht, sein Tun nicht auf Versuche beschränken darf, den ›Überbau‹ zu verhindern – Gesetze, Vorschriften, Vereinbarungen, Steuern, öffentliche Wohlfahrt, Erziehungswesen, Gesundheitswesen usw. Andernfalls könnte der Versuch, eine bessere Gesellschaft zu erkaufen, damit enden, dass man Geld in ein Fass ohne Boden schüttet. Wird die Basis – und das ist hier die Technik – nicht geändert, ist eine wirkliche Veränderung im Überbau nicht wahrscheinlich.«



III.

Ein Weg in die Zukunft
»Man sagt mir: Wenn Sie mit Ihrer Mittleren Technik etwas ausrichten wollen, müssen Sie erst das System ändern, Kapitalismus und Gewinnstreben abschaffen, die Multis auflösen, alle Bürokratien zum Teufel jagen und das Erziehungswesen reformieren. Dazu kann ich nur sagen: Ich kenne keine bessere Möglichkeit, das ›System‹ zu ändern, als die, daß ich eine neuartige Technik einführe – technische Verfahren, mit deren Hilfe kleine Leute produktiv und vergleichsweise unabhängig werden können.«



IV.

Über angemessene Formen des Eigentums
»Das Hauptziel der modernen Industriegesellschaft liegt nicht darin, dass der Mensch in der Arbeit Befriedigung findet, sondern in der Produktivitätssteigerung. Arbeitsersparnis ist ihre stolzeste Errungenschaft, und damit stellt sie Arbeit als etwas Unerwünschtes hin. Etwas, was nicht wünschenswert ist, kann aber keine Würde verleihen. Mithin ist das Arbeitsleben eines Werktätigen ohne Würde.«



V.

Die rauschende Ballnacht ist vorüber
»Wenn die Frage ›Was ist der Mensch?“ vorwissenschaftlich ist, kann das nur bedeuten, dass Wissenschaft für das Leben des Menschen nicht von wesentlicher Bedeutung ist. Hinreichende Antworten auf vorwissenschaftliche Fragen sind unendlich wichtiger.«



VI.

Sinnvolle Arbeit und richtiges Tun
»In den Ohren der Nutzensmaximierer mag es sich fast wie Sabotage anhören, wenn einem jungen Menschen gesagt wird, daß seine persönliche Lauterkeit wichtiger ist als seine Aussichten, auf der Karriereleiter empor zu klettern. Denen, die dann meinen, ein Höchstmaß an Konsum sei das einzige erstrebenswerte Ziel für uns Sterbliche, erscheint es eher als miesepetrig, wenn man darauf beharrt, daß Raubbau an natürlichen Rohstoffen ein Verbrechen ist.«


Leseprobe


I. Das Ende unserer Epoche






Man kann unheimlich viel Luft in einen Ballon pumpen. Je mehr man ihn aufpumpt, desto größer und imposanter wird er.

Mit Stolz und Befriedigung können die Historiker vermerken, wann die erste wirksame Pumpe erfunden wurde, und dieser Feststellung dann die Daten der Erfindung immer noch effizienterer Pumpen und dieser großartigen neuen Chemikalien hinzufügen, die es ermöglichten, die Ballonhülle immer stärker zu dehnen. Auch läßt sich festhalten, wann der Ballon eine bestimmte Größe erreicht hatte, wann das Doppelte davon, wie die ‹Verdoppelungszeiten› sich immer mehr verkürzten, und so fort.

All diese Angaben sind sicherlich wichtig und aufschlußreich. Kein Datum aber ist so wichtig und so aufschlußreich wie der Zeitpunkt, als die Ballonhülle ein Loch bekam – vielleicht war es zu Anfang ein sehr kleines – und wie die Luft zu entweichen begann.

Dieser Zeitpunkt war der.6. Oktober 1973.

Nichts wird je wieder so sein, wie es bis dahin war.

Als ich vor einigen Tagen in England mit dem Zug fuhr, saßen in meinem Abteil drei Herren, die hitzig miteinander debattierten. Ich konnte nicht umhin zu hören, was sie sagten, und entnahm der Unterhaltung, daß der eine von ihnen Chirurg, der andere Architekt und der dritte Ökonom war. Sie stritten darüber, wessen Beruf der älteste war. Nach einer völlig ergebnislosen Debatte sagte schließlich der Chirurg: «Wir wollen uns nichts vormachen, es war doch zweifellos so: Wenn Sie die Schöpfungsgeschichte gelesen haben, werden Sie wissen, daß Gott der Herr Adam eine Rippe entnahm und daraus Eva machte. Das war ein chirurgischer Eingriff.»

Doch unbeirrt meinte der Architekt: «Na gut, aber lange davor hatte er das All aus dem Chaos geschaffen: Das war die Arbeit eines Architekten.»

Der Wirtschaftswissenschaftler sagte bloß: «Und was meinen Sie, wer das Chaos geschaffen hatte?»

Unser Thema muß in diesem Licht gesehen werden, vor allem nach jenem 6. Oktober 1973, der ein einzigartiges Datum in der Geschichte der westlichen Welt, eine Art historische Wasserscheide ist. Der Leser wird sich erinnern, daß an jenem Tag der vierte israelisch-arabische Krieg ausbrach. Beschäftigen wir uns damit, nicht mit der Geschichte jenes Krieges, der lediglich als Auslöser wirkte, sondern mit dem Hintergrund des gesamten Geschehens.

Soweit ich nach dem Zweiten Weltkrieg beobachten konnte, fehlte es, vor allem in Europa, allenthalben an Brennmaterial, und alle Welt rief nach mehr Kohle. In der Mitte der fünfziger Jahre setzte die OECD, die Organisation der reichen Länder, eine Energiekommission ein, die einen Bericht zu dem Energiebedarf Europas vorlegte. Darin hieß es, man möge um Himmels willen behutsam vorgehen, alle denkbaren Maßnahmen zum möglichst wirksamen Einsatz von Brennstoffen nutzen und Europas wichtigste Energiequelle, die Kohle, dabei nicht vernachlässigen. (Es standen darin auch einige von Unwissenheit zeugende Anmerkungen über die Atomenergie, als könne das Heil von daher kommen.) Dieser Bericht wurde allgemein als realistisch und den Tatsachen entsprechend angesehen. Bei uns in Großbritannien richtete man daraufhin eine nationale Behörde ein, den National Industrial Fuel Efficiency Service. Er hatte die Aufgabe, die gesamte Industrie auf Energieeinsparmöglichkeiten hin zu überprüfen.

Dann kam die erste Krise um den Suezkanal – ein Schock für alle öleinführenden Länder. Zu ihnen gehörten auch die Vereinigten Staaten, der größte Ölproduzent, zugleich aber auch der mit Abstand größte Ölverbraucher. Damals war Eisenhower, ein ehemaliger General, Präsident der Vereinigten Staaten, und er warf zum erstenmal die Frage auf, warum die Vereinigten Staaten so abhängig vom Öl aus dem Mittleren Osten geworden waren. Nun, das war ganz einfach. Zwar besaß Amerika äußerst reiche Ölvorkommen, hatte sie aber hundert Jahre lang ausgebeutet und mußte jetzt immer tiefer bohren, um noch mehr Öl zu finden. Die Länder des Mittleren Ostens hingegen waren als Ölförderländer vergleichsweise neu im Geschäft, so daß praktisch aus jedem Bohrloch Öl sprudelte. So kam es, daß Öl aus dem Mittleren Osten weit billiger war als das aus den Vereinigten Staaten, und so floß immer mehr Mittelost-Öl nach Amerika. Auch die großen Ölgesellschaften hatten sich darauf eingestellt, daß der Ölstrom von Osten nach Westen floß.

Doch Eisenhower sah sich die Lage an und meinte, daß das so nicht weitergehen könne. Ich gebe so viele Milliarden für Rüstung aus, sagte er sich, und von dieser ganzen technischen Ausrüstung funktioniert nichts ohne Öl. Wir machen uns ja vom Öl aus dem Mittleren Osten abhängig, der immerhin ganz in der Nähe der Sowjetunion liegt.,Der russische Bär kann diese Länder mit einem Prankenhieb von der Karte wischen, und was geschieht dann? Also verordnete Eisenhower eine Einfuhrüberwachung. Die Vereinigten Staaten sind ja stets für den Freihandel gewesen, außer wenn er ihnen nicht ins Konzept paßte. In diesem Fall paßte er Amerika nicht ins Konzept, und so kam es zu einer Einfuhrüberwachung, die dafür sorgen sollte, daß 88 Prozent des gesamten amerikanischen Ölbedarfs aus einheimischen Quellen gedeckt und nur 12 Prozent eingeführt wurden, und das hauptsächlich aus Ländern der westlichen Hemisphäre, also aus Nord- und Südamerika.

Die Ölgesellschaften, die sich auf einen immer großzügiger fließenden Ölstrom zum größten Markt der Welt, nämlich dem der Vereinigten Staaten, eingestellt hatten, merkten nun, daß dort ein Riegel vorgeschoben worden war. Sie leiteten das Öl nach Europa um, dem zweitgrößten Markt. Hier kam es zu einem mörderischen Kampf des Öls gegen die Kohle. Zugleich führten die einzelnen Ölgesellschaften untereinander einen Bruderkrieg bis aufs Messer um möglichst große Marktanteile. Ein tüchtiger Geschäftsmann will ja nicht nur möglichst viel verkaufen, sondern vor allem einen möglichst großen Marktanteil haben. Dieser mörderische Wettbewerb, dieser Kampf der Ölgesellschaften gegen die Kohle und untereinander, veranlaßte sie, ihre Preise zu senken, so daß sie den europäischen Markt lange Zeit mit Verlust belieferten, einfach nur deshalb, um ihn in die Hand zu bekommen. Sind aber Zechen erst einmal geschlossen, kann man sie nicht wieder öffnen – jedenfalls nicht solche, bei denen die Kohle in großer Tiefe liegt.

Zu denen, die darunter zu leiden hatten, gehörten die ölexportierenden Länder, da der Preis immer mehr gedrückt wurde. Als die Ölgesellschaften sie nun erneut zu einer Senkung des Abgabepreises zwangen, sagten diese: Jetzt reicht's, wir müssen uns gegen solche Praktiken schützen. Das war 1960, im Gründungsjahr der OPEC. Alle Welt sagte, ach was, das sind doch alles Araber, die können sich sowieso nicht einigen, das ist nur ein Versuch zur Kartellbildung, bei dem nichts herauskommt. Das war auch einige Jahre lang der Fall, weil solche Dinge sich erst entwickeln müssen, und das kostet Zeit. Aber diese Länder holten sich entsprechende Fachleute – immerhin hatten sie dazu reichlich Geld – und um die Mitte der sechziger Jahre verstanden sie ihr Geschäft.

Zuvor hatten die ölexportierenden Länder selbst mit der Abwicklung der Geschäfte nichts zu tun gehabt, weil die Ölgesellschaften sich darum kümmerten. Sie verfügten über unbegrenzte Finanzmittel und konnten sich die entsprechenden Fachleute zusammenholen. Jetzt aber holte sich die OPEC diese Leute, und ein paar Jahre später, so um 1965 begriffen die ölexportierenden Länder, daß Öl nicht vom Menschen gemacht, sondern lediglich gefunden und gefördert wird. Es handelt sich dabei um eine Art Speisekammer, in die man hineingeht, um sie zu plündern. Sind die Vorräte aufgebraucht, ist die Speisekammer leer. Anders ist es bei der Weizenproduktion, bei der man Jahr für Jahr eine neue Ernte einbringen kann. Und vorausgesetzt, daß die Anbauverfahren nicht gänzlich ungeeignet sind, kann das noch viele Jahre lang so weitergehen. Weizen ist kein erschöpfbares ‹Kapital›, Öl hingegen wird wie Kohle aus dem Erdboden gewonnen, es ist ein erschöpfbarer Rohstoff. Das also begriffen die ölerzeugenden Länder und sagten, nachdem sie sich die Bedarfsplanungen Europas, Japans und der Vereinigten Staaten angesehen hatten, das ist ja Raubbau! Das geht noch zwanzig oder dreißig Jahre gut, und was dann? Daher wurden sie langsam unruhig. Einige von ihnen verstanden besser als andere, worum es ging. Damals war der Schah von Persien am meisten von allen auf eine Steigerung der Erdölförderung erpicht: Offenbar konnte er nicht weiter als bis zur Nasenspitze sehen und verfuhr nur nach der Maxime, je mehr Öl ich produziere, desto mehr Geld bekomme ich.

In anderen Ländern begann man sich jedoch immer größere Sorgen um die Rohstoffquellen zu machen, und dann kam das Jahr 1969. In Libyen gab es einen Regierungswechsel. Oberst Gaddafi schickte den König in die Wüste und ernannte sich im reifen Alter von achtundzwanzig Jahren zum Staatsoberhaupt. Er fragte seine Berater: Wie lange wird dieser Ölboom dauern? Und wie lautete die Antwort? Nun, wir können uns bei Voraussagen lediglich auf nachgewiesene Vorräte stützen, der Himmel weiß, wieviel man noch finden wird, jedenfalls ist das reine Spekulation. Wenn Sie aber wissen wollen, wie lange diese nachgewiesenen Reserven vorhalten werden – bei der gegenwärtigen Steigerungsrate wären sie nach acht Jahren erschöpft. Wenn man die Förderung aber auf ein Fixum begrenzt und nicht weiter steigert, können sie noch zwanzig Jahre reichen.

Zweifellos sagte sich der achtundzwanzigjährige Oberst Gaddafi: Achtundzwanzig plus zwanzig ... und dann? Nichts als Sand und Kamele – kommt nicht in Frage. Ich will mindestens sechzig Jahre vor mir haben.

Er sprach mit den Ölgesellschaften und forderte sie auf , die Förderung nicht zu steigern, sondern, wenn auch nur geringfügig, zu drosseln. Man nahm ihn sehr ungnädig auf, und als er sah, daß mit ihnen nicht zu reden war, verstaatlichte er sie, um sie in Zukunft selbst kontrollieren zu können. Die unmittelbare Auswirkung davon, daß 1970 ein Land die Rohölförderung geringfügig herabsetzte, war auf dem Weltmarkt für Rohöl eine Preissteigerung von fünfzig Prozent.

Das war allen Beteiligten eine Lehre, die sie nie wieder vergessen werden: Wenn es um Öl geht, wird man um so reicher, je weniger man produziert. Denn Öl ist ein nicht erneuerbares, nicht ersetzbares Kapital von begrenzter Verfügbarkeit. Die Nachfrage nach diesem Rohstoff ist nahezu vollständig unelastisch – nachdem die Ölpreise um zwanzig Prozent gestiegen waren, wurde genausoviel Auto gefahren wie zuvor, und der Straßenverkehr ist beim Ölverbrauch lediglich die Spitze des Eisberges. Oberst Gaddafi war zum meistgehaßten Mann der Welt geworden, und die anderen Araber und Ölproduzenten wollten nicht in seine Lage kommen. Sie hatten den Eindruck, daß die ölimportierenden Länder eine gefährliche Sippschaft, der Gewaltanwendung nicht abhold, und sie selbst recht unbedeutend seien. Sie wußten nicht, was sie tun sollten. Sie machten sich immer größere Sorgen um ihre Reserven und waren beunruhigt darüber, daß nach bestimmten Annahmen alle ölausführenden Länder gemeinsam noch siebzehn Jahre lang würden Öl liefern können, nach günstigeren Annahmen zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre – eine unerhebliche Differenz. Im Leben eines Volkes sind das doch nur Minuten.

Was kann man tun? Niemand wollte dem Oberst Gaddafi nacheifern, niemand wollte vorpreschen, man mußte behutsam vorgehen. Sie schickten den Generalsekretär der OPEC in alle Öleinfuhrländer. Er hielt dort Vorträge, aus denen hervorging, daß sie unbedingt ihre Anforderungen herabschrauben müßten. Denn was sollte sonst, bei diesem Raubbau, aus den ölerzeugenden Ländern werden? Vielleicht träumten ja die Öleinfuhrländer von der Energieunabhängigkeit oder hofften, die Atombombe werde ihnen aus der Patsche helfen, oder man würde mehr Öl in Alaska, der Nordsee oder unter dem Eis des Nordpols finden. Doch um an dieses Öl herankommen zu können und die erforderlichen Pipelines zu bauen, würden sie alles Öl verbrauchen, das die Ölförderländer erzeugen konnten. Sicher, sie zahlten dafür – aber was nützte das? Wenn jemand verblutet – schiebt es dann den Zeitpunkt des Sterbens hinaus, daß man ihn dafür bezahlt? Also stellte der Generalsekretär die Frage: Und was soll aus uns werden? Jede seiner Reden endete mit den Worten: «Wir müssen für 250 Millionen Menschen sorgen – was soll aus ihnen werden? Sie leben ausschließlich vom Öl, und fünfundzwanzig Jahre genügen uns nicht, eine andere Lebensgrundlage zu finden. Also schränken Sie bitte Ihren Ölbedarf ein...»

Selbstverständlich hörte niemand auf ihn. Dann kam der 6. Oktober 1973, als zur Bestürzung Washingtons der größte Freund der Vereinigten Staaten, König Faisal, der zuverlässige, ehrenwerte Herr, sagte: Wir werden jetzt das Öl als politische Waffe gegen Israel einsetzen. Solange dieser Krieg dauert, werden wir die Ölförderung um fünf Prozent monatlich – oder sagte er zehn? – drosseln. In den Öleinfuhrländern brach Panik aus. Bei Versteigerungen auf den internationalen Ölmärkten ging der Preis immer höher, und nach Verlauf weniger Wochen hatte er das Vierfache seiner früheren Höhe erreicht – und dabei war die fünfzigprozentige Preiserhöhung des Jahres 1970 bereits eingerechnet. Als er diesen Stand erreicht hatte, sagten die ölexportierenden Länder, jetzt sehen wir zum erstenmal, was unser Erzeugnis tatsächlich wert ist und was die Einfuhrländer dafür zu zahlen bereit sind. Wir wollen das als den amtlichen Preis festschreiben. Und Öl als politische Waffe? Ach was. Ihr könnt soviel davon haben, wie ihr wollt, jedenfalls zu diesem Preis...

Gegen Ende der sechziger Jahre machten die Vereinigten Staaten einige Voraussagen über ihren Einfuhrbedarf an Öl. Sie sind zwar nach wie vor der größte Ölproduzent, aber ihre Förderung pendelte sich 1970/71 auf einen bestimmten Wert ein. Sie haben inzwischen ihre Fördergrenze erreicht und müssen die Produktion einschränken. Dennoch geht man davon aus, daß ihr Ölverbrauch weiterhin steigen wird. Das aber wird zu einer immer weiter auseinanderklaffenden Versorgungslücke führen. Vor etwa fünf Jahren hörte man nun aus Washington, die Vereinigten Staaten wollten 1985 im Mittleren Osten und in Nordafrika soviel Öl kaufen, wie diese Gebiete zuvor insgesamt erzeugt hatten. Es muß nicht eigens betont werden, daß diese Erklärung Japan und Westeuropa betroffen machte. Wenn Amerika alles Öl aufkauft ... nein, das geht nicht, die Araber müssen einfach die Ölförderung verdoppeln, vor allem der gute Freund Saudi-Arabien.

Also schickte König Faisal seinen Ölminister Yamani in die Vereinigten Staaten, damit er dort erklärte, nun ja, wir können unsere Förderung ausweiten – man dachte dort nicht besonders intensiv über Ölreserven nach –, aber wie wollt ihr dafür bezahlen? Und man sagte ihm, ihr könnt ja euer Kapital anlegen und euch in die amerikanische Industrie einkaufen. Vielleicht erinnern Sie sich, daß die Zeitschrift Time vor einigen Jahren einen Artikel über das Jahr 1985 brachte, in dem beschrieben wurde, wie die arabischen Herrscher als Hauptaktionäre von General Motors in Detroit einzogen und an anderen Orten als Hauptaktionäre der IBM und der CBS: ein buntes Zukunftsgemälde, das damals Herrn Yamani zu entzücken schien. Doch als er zu seinem König zurückkehrte und sagte, es ist phantastisch, wir werden die größten Kapitaleigner, die es je gegeben hat, denn uns werden große Teile der amerikanischen Industrie gehören, sagte König Faisal, das kommt nicht in Frage. Wir Araber wissen, wie leicht es ist, verhaßtes Auslandskapital zu enteignen, dazu genügt ein Federzug des amerikanischen Kongresses. Und was dann? Wir haben dann kein Öl mehr, und was können wir tun, etwa ein Kanonenboot nach Amerika schicken? Nein, nein ... Die einzige sichere Investition ist es, das Öl so lange im Boden zu lassen, bis man das Geld braucht, dann kann man es fördern und verkaufen.

Heute wissen wir, daß sie zu langfristigen Investitionen nicht bereit waren. Immerhin wußten sie aus eigener Erfahrung, wie leicht es ist, selbst die Mächtigen zu enteignen, und außer beim Öl sind sie selbst machtlos. Der 6. Oktober 1973 hat also alles ausgelöst, und meiner eigenen Voraussage nach – allerdings sind diese Dinge sehr schwierig zu beurteilen – wird sich in den nächsten zehn Jahren, vielleicht sogar sehr viel früher, die Förderung immer mehr vermindern, vielleicht auf die Hälfte des vorherigen Standes. Zwar kann man bei solchen Dingen nie ganz sicher sein, was die Zukunft bringen wird, aber die Logik der Tatsachen legt diesen Schluß nahe. Daß wir diese Entwicklung noch gar nicht spüren, liegt daran, daß bestimmte Konten noch aufgefüllt werden, aber insgesamt platzt das internationale Bankensystern vor sogenanntem ‹heißem Geld›, Geld, das noch keine feste Bleibe gefunden hat und wild hierhin und dorthin geschickt wird. Sobald Zweifel am Wert des Dollars aufkommen, eilt er von New York nach Frankfurt, und sobald sich dort ein Zweifel regt, geht er nach Tokio weiter. Dann gibt es Schwierigkeiten in Japan, und das Geld landet in Zürich, und so weiter ... Natürlich ist das Bankwesen dem auf die Dauer nicht gewachsen.

Alle Versuche, das Geld auszugeben, sind vergeblich. Selbst so hochfliegende Investitionspläne wie beispielsweise der Bau einer Untergrundbahn in Teheran brauchen zu ihrer Verwirklichung viele Jahre, so daß die jährlichen Ausgaben immer nur sehr begrenzt sein können. Es ist einfach nicht möglich, diese Gelder auszugeben, man kann sie auch nicht so anlegen, daß sie wie gegenwärtig kurzfristig gebunden sind. Die ölexportierenden Länder sind nicht bereit, das Risiko langfristiger Anlagen mit nachfolgender Enteignung auf sich zu nehmen. Also drosseln sie die Produktion. Das aber bedeutet, daß die äußerst kurze Zeit in der Geschichte, während der billiges Öl reichlich zur Verfügung stand, jetzt vorbei ist – und zu jener kurzen Periode gehört durchaus auch noch die Spanne, in der die Ölpreise versechsfacht wurden.

Die Dinge ändern sich nicht von einem Tag auf den anderen, aber der Wendepunkt ist überschritten. Ab sofort müssen wir uns darauf einrichten, daß wir nur wenig Öl zur Verfügung haben, und das wird teuer sein. Wer dieser Schlußfolgerung zustimmt, muß sich fragen: Was ist während dieser einzigartigen und sehr kurzen Epoche in der Weltgeschichte die Folge der reichlichen Verfügbarkeit von billigem Öl gewesen? Wie hat sich das auf unser Wirtschaftsleben ausgewirkt? Alles, was sich als unmittelbares Ergebnis davon entwickelt hat, daß Öl billig war und reichlich zur Verfügung stand, läuft jetzt Gefahr, zusammenzubrechen oder zu verschwinden, wenn ihm jetzt nach und nach diese wirtschaftliche Grundlage entzogen wird.

Was aber ist überhaupt durch billiges und reichlich verfügbares Öl oder, noch allgemeiner gesagt, durch billige und reichlich zur Verfügung stehende fossile Brennstoffe bewirkt worden? Da haben wir die moderne Landwirtschaft, die weitgehend auf Öl basiert. Wir essen – physiologisch gesehen – eine Vielzahl von Nahrungsmitteln: Wirtschaftlich gesehen, essen wir hauptsächlich Öl. (Meist schmeckt es inzwischen auch so). Das war früher selbstverständlich nicht der Fall. Wir hatten eine Landwirtschaft, in der die Kleinlebewesen im Boden die Arbeit verrichteten, die jetzt das Öl erledigt, und es gab biologische oder organische Anbauverfahren mit einer vernünftigen Wiederverwendung, Mehrfelderwirtschaft und so weiter. Das war die Grundlage für die Existenz des Menschen und ist es auch noch in den meisten Gebieten der Welt. Da die Wissenschaft sich aber nur sehr wenig damit beschäftigt hatte, wurden diese Verfahren nicht besonders entwickelt. Wir im Westen haben das aufgegeben, und so beruht jetzt unser System auf Chemikalien und Kunstdünger. Mithin lassen wir die Arbeit von den Arabern statt von den Mikroorganismen tun! An die Stelle erneuerbarer Mittel haben wir einen nicht erneuerbaren Rohstoff gesetzt. Die Menschen glauben, die moderne Landwirtschaft könne uns ernähren. Wenn wir das auf der Grundlage von Energie, das heißt von Öl, durchspielen, zeigt sich, daß die Landwirtschaft in weniger als dreißig Jahren alle bekannten Ölreserven aufbrauchen würde, um rund vier Milliarden Menschen nach den Verfahren der modernen Agrartechnik zu ernähren – wohlgemerkt, die Landwirtschaft ganz allein.

Offensichtlich ist unser System nicht auf der ganzen Welt anwendbar, und es eignet sich gewiß nicht für alle Zukunft: Es läßt sich nur kurzfristig nutzen. Nehmen wir zum Beispiel Phosphat. Das Hauptausfuhrland für Phosphat ist Marokko. Die Marokkaner aber sind ebenso wie die ölerzeugenden Länder plötzlich aufgewacht und haben erkannt, daß es sich hier um einen nicht erneuerbaren Rohstoff handelt. Auch ihre Phosphatvorkommen werden immer schneller abgebaut, und das Ende ist absehbar, es wird in rund dreißig Jahren kommen. Die Vereinigten Staaten haben eigene Phosphatvorkommen. Ich weiß nun nicht, ob ich richtig informiert bin, aber ich habe gehört, daß sie sich im Rahmen eines größeren Handelsabkommens verpflichtet haben, Phosphat an die Sowjetunion zu liefern. Falls das stimmt, ist uns allen nicht mehr zu helfen, denn beim Phosphat liegt einer der wirklichen Engpässe in der auf moderne Agrartechnik gründenden Landwirtschaft. Es geht also nicht nur um Öl; die ganze Problematik zeigt sich jetzt bei allen nicht erneuerbaren Grundstoffen, außer solchen, die sich überall finden, wie zum Beispiel Sand.

Anders gesagt, wir müssen die Lage völlig neu durchdenken. Wenn wir über die Landwirtschaft nachdenken, dürfen wir nicht mehr einfach sagen: Dies System hängt zwar vom Öl ab, aber es funktioniert! Damit würden wir uns einreden, das gegenwärtige System sei in keiner Weise bedroht und wir könnten immer so weitermachen. Das aber ist nicht der Fall. Es geht überhaupt nicht um eine Entscheidung, denn wir haben keine Wahl. Wir müssen ein organischer arbeitendes System finden. Wir brauchen für dieses organischere System nicht einmal mehr mit ökologischen Argumenten oder im Hinblick auf den Nährwert zu streiten. Das ist völlig überflüssig. Wir sind auf ein solches Systern angewiesen, ob uns das recht ist oder nicht.

Eine weitere Hinterlassenschaft der kurzen Epoche billigen und reichlich fließenden Öls sind natürlich unsere Riesenstädte. Wir sagen: Nun, der Mensch braucht Städte, denn wenn man Landwirtschaft treibt, um zu überleben, kann eine Kultur nicht entstehen. Erst bei einer Art kritischer Bevölkerungsdichte ist eine gegenseitige Befruchtung möglich, kann der menschliche Geist sich entfalten. Städte mit ihrer spezifischen Kultur gibt es seit fünf- oder sechstausend Jahren, aber sie sind nie über eine bestimmte (recht geringe) Größe hinausgewachsen. Und warum ging das nicht? Weil eine Großstadt nicht von sich selbst lebt, sondern vom Lande. Eine Stadt im Binnenland lebt vom Umland, das sie versorgt. Dieser Umkreis konnte in der Vergangenheit nicht sehr groß sein, da Tiere und Menschen die einzige Transportenergie lieferten. Natürlich konnte eine am Meer gelegene Stadt sich einer zusätzlichen Transportenergie bedienen, nämlich der Windkraft. Daher wuchsen die großen Städte an den Küsten der Meere empor, wo Schiffe sie versorgen konnten. Und so kennen wir keine Stadt, die bis vor etwa hundert Jahren über eine Größe von rund zwei- oder dreihunderttausend Menschen hinauswuchs.

Dieser Versorgungsengpaß wurde überwunden, als der Mensch fossile Brennstoffe gewann: zuerst die Kohle, dann das Öl, und als er Verkehrssysteme entwickelte, die auf ihnen gründeten. Jetzt konnten Großstädte mit Waren aus aller Welt versorgt werden: Die Welt wurde sozusagen ihr Hinterland. Eine Grenze für das Wachstum der Städte aber gab es noch: Wenn achtzig Menschen nötig sind, um hundert zu ernähren, müssen 80 Prozent der Menschen auf dem Lande bleiben, und nur 20 Prozent können in der Stadt leben. Wird aber die Produktivität pro Arbeitskraft immens gesteigert, so daß fünf Menschen hundert zu ernähren vermögen, können 95 Prozent in Städten leben, und nur 5 Prozent brauchen auf dem Lande zu bleiben. Daher war die zweite Voraussetzung für das riesenhafte Wachstum der modernen Stadt die ungeheure Steigerung der Produktivität je Arbeitskraft, die wir in der Landwirtschaft erlebt haben.

Die Stadt selbst ist eine riesige Maschine, der man ständig und ununterbrochen Energie zuführen muß, hauptsächlich Öl, damit sie leben kann. Was soll aus diesen Städten werden? Bereits eine Vervierfachung der Brennstoffpreise macht das Leben in der Stadt mühsamer und lästiger, als es je zuvor war. Es hätte keinen Sinn, die Städte auf erneuerbare Energieformen wie Sonnenkraft, Windkraft und so weiter zu verweisen, denn man kann zwar ein Einfamilienhaus bequem mit Sonnenenergie heizen, nicht aber Hochhäuser und Bürotürme. Nicht einmal gemeinsam wären Sonnenenergie und Windkraft imstande, die Fahrstühle zu betreiben. Und große Teile solcher Hochhäuser sind ohne Fahrstuhl unzugänglich: Man stelle sich doch einfach vor, man klettere dreißig Stockwerke empor. Das meine ich damit, daß das Leben immer mühseliger wird.

Also muß man damit rechnen, daß die Menschen die Städte verlassen und außerhalb ihrer Grenzen leben wollen. Wer kann sie aufnehmen, und in welches Wirtschaftssystem könnten sie sich dort flüchten? Zwar können sie ohne weiteres aus der Großstadt ‹aussteigen› – bei wem oder wo aber können sie wieder ‹einsteigen›?

Werfen wir einen Blick auf das Verkehrswesen. Die Art von Verkehrsmitteln, an die wir gewöhnt sind, ist natürlich nur auf der Grundlage von billigem und reichlich verfügbarem Öl denkbar. Wir sehen auf unseren Straßen allenthalben japanische Autos – offensichtlich ist ihr Transport so billig, daß man Autos von Tokio nach Wolfsburg schicken und dort sogar im Wettbewerb gegen am Ort hergestellte Fahrzeuge antreten lassen kann. Auch in anderen Ländern fahren japanische Autos, sie dienen hier lediglich als veranschaulichendes Beispiel. Wer auf der Autobahn fährt, sieht sich umgeben von zahlreichen Lastwagen, die bespielsweise Kekse von Flensburg nach München und von München nach Flensburg befördern – über Hunderte von Kilometern. Ein Beobachter von einem anderen Planeten müßte zwangsläufig zu dem Schluß kommen, daß Kekse nur dann richtig schmecken, wenn man sie mindestens über eine Strecke von tausend Kilometern transportiert hat.

Was ist der Grund für eine solche Handlungsweise? Geschäftsleute sind nicht dumm, und unter bestimmten Voraussetzungen lohnt sich ein solches Vorgehen für sie. Wie ist das möglich? Selbstverständlich wird dergleichen dadurch erleichtert, daß billiges Öl reichlich zur Verfügung steht – es steckt aber noch mehr dahinter. Selbst so schlichte Artikel wie Kekse werden beispielsweise in Flensburg und München in riesigen Fabriken hergestellt, deren Gemeinkosten sehr hoch sind. Bei hohen Gemeinkosten aber sind die Grenzkosten – die Kosten für die letzte Kekspackung – äußerst niedrig, weil die übrige Produktion bereits für alles andere aufgekommen ist. Stellen Sie sich vor, Sie leiten eine Privatschule. Die ersten fünfzig Schüler kommen für die Lehrergehälter, die Gebäudekosten und dergleichen auf, und der Inhaber verdient erst ab Schüler Nummer einundfünfzig und zweiundfünfzig. Mithin machen die Grenzkosten nur einen Bruchteil der Durchschnittskosten aus.

Jetzt sagt beispielsweise der Fabrikant in Flensburg, daß er zwar am Ort verkauft, was er verkaufen kann – doch damit ist seine Kapazität nicht ausgelastet. Die Grenzkosten für eine volle Kapazitätsauslastung sind aber nur sehr gering. Also kann er seine Grenzerzeugnisse über eine große Entfernung transportieren – beispielsweise nach München. Selbst wenn die Transportkosten den größten Teil der Differenz zwischen den Grenzkosten und den Durchschnittskosten aufzehren, lohnt es sich für ihn, solange dabei etwas übrigbleibt. Und er hat durchaus recht. Nur daß der Produzent in München dasselbe denkt und auch seine Kapazität voll auslasten will. Daher faßt er den Flensburger Markt ins Visier. Während das Vorgehen also vom Standpunkt des jeweiligen Herstellers in Flensburg und München vernünftig ist, wird es völlig unvernünftig, wenn man die beiden gemeinsam betrachtet.

Das ist das Faszinierende an der Wirtschaftslehre: Es gibt eine spezielle Unternehmenslogik, die mit Blick auf die Gesamtheit sinnlos erscheint. Das macht den Gegenstand interessant. Mir geht es hier aber darum, die Aufmerksamkeit auf eine Tatsache zu lenken: All das ist auf die Massenerzeugung dieser Kekse und den dazu erforderlichen großen Kapitaleinsatz zurückzuführen. Solange bedingt durch die Produktionsweise die Grenzkosten lediglich einen Bruchteil der Durchschnittskosten ausmachen, wird es das beschriebene Phänomen geben, auch bei höheren Transportkosten. Das ist einer der Gründe, unter vielen anderen, warum ich zu dem Ergebnis gekommen bin, daß auch eine Massenproduktion, bei der alles aus einer Produktionsstätte kommt, auf das reichliche Vorhandensein billigen Öls angewiesen ist und nur so lange möglich ist, wie billiges Öl reichlich vorhanden ist.

Was müßte an seine Stelle treten? Man müßte sehen, ob nicht an die Stelle großer, sehr komplexer und stark kapitalintensiver Produktionsanlagen kleinere Einheiten treten könnten, die definitionsgemäß auch nicht so komplex wären. Wir müßten aber darüber hinaus versuchen, weit einfachere technische Verfahren zu finden, die wiederum nicht solch riesige Kapitalansammlungen bedingen würden.

Der sich daraus ergebende Lebensstil wäre sehr viel anders. Wir alle sind Opfer einer Gehirnwäsche, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, als offenbar die technische Unreife so groß war, daß man sagen konnte «je größer, desto besser»: Nur im großen Maßstab können auf Wachstum angelegte Wirtschaftssysteme gedeihen. Dabei ging es aber um eine sehr wenig entwickelte Technik. Das ist jetzt nicht mehr an dem. Heute verfügen wir über hinreichende technische und wissenschaftliche Kenntnisse, um die Dinge wieder klein machen zu können. Das ist kein theoretisches Argument, man kann es durch Theorie weder widerlegen noch stützen. Man muß einfach einige Leute dazu bringen, die entsprechenden Entwürfe anzufertigen. Das mag nicht auf allen Gebieten gelten: Ich bin nicht etwa der Ansicht, man könne in einem kleinen Werk Düsenriesen in kleiner Stückzahl bauen. Aber fangen wir doch einfach mit den Grundbedürfnissen des Menschen an. Und da sehe ich nichts, nichts von dem, was der Mensch letztlich braucht, das sich nicht mit sehr einfachen Mitteln sehr wirksam und in leicht durchführbarer Weise im kleinen Maßstab und mit einer stark vereinfachten Technik herstellen ließe. Dabei ist außerdem ein sehr geringer Kapitaleinsatz erforderlich, so daß all das auch wirklich allen, also dem ‹kleinen Mann›, zugänglich ist.

Wenn es, wie in den letzten hundert Jahren, einen technischen Hang zum immer Größeren, immer Komplexeren und immer Kapitalintensiveren gibt, werden selbstverständlich immer mehr Menschen davon ausgeschlossen. Das Ganze ist denjenigen vorbehalten, die bereits reich oder mächtig sind. Haben aber die Reichen und Mächtigen dem ‹kleinen Mann› eine Nische gelassen? Einige wollen nicht nach dem ersten Gebot unserer Gesellschaft leben: «Du sollst dich deiner Nische anpassen.»

Sie sagen, ich möchte auf eigenen Füßen stehen. Ich kann etwas, bin nicht dumm, habe geschickte Hände und möchte etwas tun – und dann stellt sich heraus, daß das nicht geht, weil ihnen die erforderlichen Geldmittel fehlen. Die Technik ist über das menschliche Maß hinausgewachsen. Die Frage heißt also: Können wir sie auf dieses Maß zurückführen? Diese Frage aber läßt sich nicht durch theoretische Erwägungen bejahen oder widerlegen, sondern nur durch praktische Erfahrung.

Wir haben uns in einer Organisation, der Intermediate Technology Development Group, zehn Jahre lang mit dieser Frage beschäftigt. Und überall, wo wir es versucht haben, haben wir festgestellt, jawohl, es ist selbstverständlich durchaus möglich. Wenn wir beispielsweise Zement herstellen wollen, können wir unter Nutzung unseres Wissens den entsprechenden Entwurf machen und eine Kleinstanlage bauen, obwohl in der Zementindustrie die Entwicklung vom Kleinhersteller zu immer größeren Anlagen gegangen ist, so daß es inzwischen Betriebe gibt, die pro Jahr eine halbe Million Tonnen Zement herstellen. Und statt einer gigantischen zentral gelegenen Fabrik mit einem Ausstoß von einer halben Million Tonnen können wir hundert Fabriken weit gestreut dort anlegen, wo die Rohstoffe zur Verfügung stehen und wo der Bedarf ist, so daß jede ein paar tausend Tonnen pro Jahr erzeugt. Das ist durchführbar, und es geht auch bei Ziegelsteinen, bei Spanplatten – es geht überall, wo wir es versucht haben. Es geht.


Siehe auch:


Ernst Friedrich Schumacher: Die Rückkehr zum menschlichen Maß («Small is Beautifull») – Alternativen für Wirtschaft und Technik



Ernst Friedrich Schumacher: Rat für die RatlosenVom sinnerfüllten Leben