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Christian Stöcker
Die Große Beschleunigung
Klimawandel, Digitalisierung, Wirtschaftswachstum – wie wir uns in einer sich exponentiell verändernden Welt behaupten können

München 2023 (Pantheon); 384 Seiten; ISBN 978-3-570-55489-0
Die Erstausgabe erschien 2020 unter der dem Titel »
Das Experiment sind wir«.

An drei entscheidenen Punkten entscheidet sich im 21. Jahrhundert unsere Zukunft: Weltbevölkerung, Klimawandel und Digitalisierung. Gemeinsam ist ihnen: Sie sind Phänomene des exponentiellen Wachstums und der Großen Beschleunigung. Schon immer haben wir Menschen uns schwer damit getan, solche Entwicklungen zu Ende zu denken. Aber: Wir sind eine lernfähige Spezies ...

Wird es uns also gelingen, die mächtigen technologischen Entwicklungen so einzusetzen, dass sie uns und die Erde retten? Was wir brauchen, sind neue Instrumente im Werkzeugkasten unseres Denkens, die von neuen Technologien bis zu einer anderen Haltung gegenüber Wachstum und einer neuen Definition von Fortschritt reichen. Christian Stöckers Buch ist eine panikfreie und präzise Analyse des großen Experiments Menschheit und ein Aufruf, jetzt neues Wissen zu erschließen und die Große Beschleunigung zu lenken. Mit einem aktuellen Vorwort des Autors.

Christian Stöcker, geboren 1973, studierte Psychologie in Würzburg und Bristol sowie Kulturkritik an der Bayerischen Theaterakademie München. 2010 erhielt er den Preis für Wissenschaftspublizistik der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Stöcker ist Kognitionspsychologe und seit Herbst 2016 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort leitet er den Studiengang »Digitale Kommunikation«. Als Experte für digitale Öffentlichkeit beriet er den Bundestag und die Enquete-Kommission für künstliche Intelligenz. Zuvor leitete er das Ressort Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE. In seiner Kolumne »Der Rationalist« macht er sich immer sonntags Gedanken über Hysterie und Fakten in der öffentlichen Debatte. 2011 erschien sein Buch »Nerd Attack!«, das in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen wurde. Stöcker lebt in Hamburg.eboren 1945

INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort

1. Das Experiment sind wir
Exkurs: Was ist ein Experiment?

2. Erwachende Götter
Exkurs: Go auf einen Blick
Exkurs: Wie funktionieren neuronale Netze?

3. Die zwei Kulturen

4. Was wollen, was sollten wir wissen?

5. Moore's Law ist eine lahme Ente
Exkurs: Was ist Digitalisierung?
Exkurs: Was ist Information?

6. DNA=Daten =DNA
Exkurs: Was ist DNA?
Exkurs: Was ist CRISPR /Cas9?

7. Ein Gehirn, zwei Systeme
Exkurs: Was ist eine Skinner-Box?
Exkurs: Kognitive Verzerrungen

8. Was lernende Maschinen schon jetzt mit uns machen
Exkurs: Wie legt man sich Resilienz gegen digitale Ablenkung zu?
Exkurs: Was ist Relevanz?
Exkurs: Was sind Influencer?

9. Die neue Datenwissenschaft

10. Die neue Datenherrschaft

11. Was wir dem Planeten (und uns selbst) antun (nicht erste seit gestern)
Exkurs: Was ist das Anthropozän?
Exkurs: Permafrost und andere Kippelemente
Exkurs: Gibt es eine Bevölkerungsexplosion?

12. Nur die Exponentialfunktion kann uns retten
Exkurs: Woher kommt das CO2?
Exkurs: Woher kommt in Zukunft die Energie?

Nachwort

Dank, Anmerkungen

LESEPROBE
Vorwort

Dieses Buch handelt von beschleunigten Entwicklungen, und man könnte ja meinen, dass so ein Text schlecht altert. Die erste Ausgabe erschien im Jahr 2020 unter dem Titel
Das Experiment sind wir, mitten in der Corona-Pandemie. Seitdem ist, wie es das Buch prognostiziert, eine Menge passiert. Manches davon war nicht vorherzusehen – mit einem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zum Beispiel haben 2020 wohl nur Wenige gerechnet. Anderes war durchaus zu erwarten – und diejenigen, die dieses Buch damals schon gelesen haben, waren von der einen oder anderen Entwicklung vermutlich weit weniger überrascht als andere.

Ständiges Überraschtwerden ist etwas, an das wir alle uns werden gewöhnen müssen. Wir alle leben in einem Zeitalter, in dem ständige Beschleunigung ein zentrales Merkmal sehr vieler, auf den ersten Blick voneinander unabhängiger Entwicklungen ist. Beschleunigung aber erzeugt ab einem bestimmten Punkt Veränderungen, die so schnell passieren, dass sie wie Sprünge wirken. Leben in beschleunigten Zeiten heißt also: leben mit ständigen Überraschungen.

Eine dieser Überraschungen fiel in die Entstehungsphase dieses Buchs: Als das Konzept und die ersten Kapitel entstanden, war noch keine globale Viruspandemie in Sicht. Die Vorstellung, dass mitten in Europa viele Menschen maskiert durch ihren Alltag gehen würden, um die Ausbreitung einer unsichtbaren Bedrohung zu bremsen, erschien abwegig. Der Grund für die Bedrohlichkeit von Covid-19 war, neben der Gefährlichkeit des Virus selbst, sein Tempo, seine Beschleunigung.

Erfolgreiche Viren verbreiten sich, wenn sie nicht aufgehalten werden, in einer befallenen Population exponentiell. Und exponentiell heißt, sehr kurz gefasst: immer schneller. Vor der Pandemie waren Exponentialfunktionen ein Thema für Wissenschaftlerinnen und Wagniskapitalfirmen, nicht für die Hauptnachrichten im Fernsehen und die Bundeskanzlerin.

Exponentialfunktionen sind ein zentrales Thema dieses Buches, aber es geht darin nicht in erster Linie um die rapide Ausbreitung von Covid-19. Die Corona-Pandemie hat das Konzept des exponentiellen Wachstums ins Blickfeld einer weit größeren Anzahl von Menschen als je zuvor gerückt. Wie sehr die Exponentialfunktion mittlerweile aber auch sonst die Geschicke der Menschheit bestimmt, scheint mir noch nicht im öffentlichen Bewusstsein angekommen zu sein.

Eine ganze Reihe von Kennzahlen und Messwerten verändert sich seit vielen Jahrzehnten exponentiell. Das betrifft technologische Entwicklungen genauso wie ökologische, wirtschaftliche ebenso wie gesellschaftliche. Ein Zusammenschluss Tausender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, das sogenannte International Geosphere-Biosphere Programme, hat für diesen historisch einmaligen Vorgang den Begriff »Die Große Beschleunigung« geprägt.

Diese Große Beschleunigung ist das zentrale Thema dieses Buches. Sie beeinflusst heute das Leben jedes einzelnen Menschen – und auch aller Tiere und Pflanzen – auf diesem Planeten. Sie könnte die Menschheit in den Abgrund reißen oder uns dabei helfen, den Planeten und uns selbst doch noch zu retten vor Klimakatastrophe, Umweltzerstörung und Massenaussterben.

Die Große Beschleunigung ist im Alltag oft kaum erkennbar, weil sie unser Leben zwar atemberaubend schnell verändert, aber eben doch langsamer, als unsere Alltagswahrnehmung das erfassen kann. Gleichzeitig sind in uns allen psychologische Mechanismen am Werk, die die Wahrnehmung dieser Entwicklung dämpfen: Zum Beispiel gewöhnen wir uns an völlig neue Aspekte unseres Lebens, so wie die jetzt allgegenwärtigen Smartphones, so rasch, dass in kurzer Zeit aus dem Blick gerät, wie schnell und nachhaltig die Veränderungen sind, die sie mit sich bringen. Wir leiden an den Anpassungsschwierigkeiten – ständige Ablenkung, mangelnde Smartphone-Etikette, Desinformation, Propaganda, Mobbing, Konformitätsdruck, überhitzte, überhastete Debatten und so weiter – und bringen sie doch nicht mit ihrer eigentlichen Ursache in Verbindung: dem irrwitzigen Veränderungstempo, das uns alle oft genug überfordert. Menschen sind einzigartig anpassungsfähig, aber nicht unbegrenzt schnell.

Gleichzeitig haben wir einen eingebauten Sinn für Nostalgie: Die meisten Menschen verklären die Vergangenheit auf die eine oder andere Weise, ganz automatisch. Das Gefühl, dass früher alles besser war, gehört zu den angeborenen Grundkonstanten der menschlichen Psyche, es schützt uns nämlich im Idealfall vor nachhaltiger Traumatisierung. Das aber macht den konstruktiven Umgang mit einer sich exponentiell verändernden Welt besonders schwierig.

Es gibt Menschen, die das vage Gefühl der unkontrollierbaren Beschleunigung in eine Art apokalyptisches politisches Programm umgedeutet haben: Sogenannte Akzelerationisten glauben daran, dass die Zivilisation demnächst zusammenbrechen wird, ja, sie sehnen diesen Zusammenbruch herbei und wollen ihn sogar vorantreiben. Sie glauben, dass sie und ihresgleichen dabei einen Sieg davontragen werden. Meist ist diese Ideologie mit Menschenverachtung, Rassismus und Gewaltbereitschaft gepaart – zu ihren Anhängern gehörte beispielsweise der rechtsextreme Terrorist, der 2019 im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen erschoss. Auch der Deutsche, der in Halle im Jahr 2019 eine Synagoge angriff und dann zwei Menschen tötete, glaubte an akzelerationistische Ideen, ebenso wie bewaffnete Bürgerkriegsfans und Neonazis in den USA und anderswo.

Um diese Strömungen geht es in diesem Buch aber nicht. Es handelt nicht von Untergangslust und Menschenverachtung. Es ist auch keine apokalyptische Warnung – obwohl es durchaus vieles gibt, wovor dringend und noch weit lauter zu warnen ist.

Das Buch behandelt die Frage, wie wir die Große Beschleunigung so verstehen, lenken und formen können, dass sie die Menschheit nicht nur nicht in den Abgrund führt, sondern möglichst allen Menschen ein besseres Leben ermöglicht. Es enthält keine Patentrezepte, aber Ansätze, Ideen und Denkrichtungen. Tatsächlich hat die Beschleunigung der vergangenen etwa 70 Jahre vielen Menschen weltweit große Verbesserungen gebracht: eine immer weiter steigende Lebenserwartung, mehr Bildung, weit weniger extreme Armut, dramatisch gesunkene Kindersterblichkeit, bessere medizinische Versorgung. Aber sie hat die Menschheit auch in eine sehr gefährliche Lage gebracht.

Es ist schwierig, da den Überblick zu behalten. Die Große Beschleunigung kann einen schwindelig machen, verwirren, verängstigen, zur Verzweiflung treiben. Sie kann uns aber durchaus auch nützen. Und dieses Buch kann beim Umgang mit dem wachsenden Tempo helfen.

Weil die Große Beschleunigung so viele Aspekte unseres Zusammenlebens und unserer Umwelt gleichzeitig betrifft, geht es in diesem Buch auch um eine auf den ersten Blick womöglich verwirrende Vielfalt von Themen: lernende Maschinen und unsere Vorstellung von Bildung, Biotechnologie und das Weltklima, Suchmaschinen, soziale Netzwerke und Grundlagen der Psychologie, Informationstheorie und Achtsamkeit, Science-Fiction und das jahrtausendealte Brettspiel Go.

Es enthält dazu unter anderem siebzehn Exkurse zu Fragen, die von »Was ist ein Experiment?« über »Wie legt man sich Resilienz gegen digitale Ablenkung zu?« bis hin zu »Woher kommt in Zukunft die Energie?« reichen. Es ist damit auch eine Art Nachschlagewerk für Zukunftsthemen. Die Antworten auf diese Fragen sind im Jahr 2023 und darüber hinaus unverändert aktuell. Eilige Leserinnen und Leser, die das Gefühl haben, über einzelne Themen schon gut informiert zu sein, können diese Exkurse jederzeit überspringen. Der übrige Text funktioniert im Zweifelsfall auch ohne diese erklärenden Abschnitte. Dennoch sind sie ein zentrales Element des Buches: Allgemeinbildung für die neue Zeit, in der wir jetzt schon leben. All die vielen Themen hängen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, durchaus zusammen. Spätestens beim Lesen des Nachworts werden hoffentlich auch Sie dieses Gefühl haben.

Kapitel zwei zum Beispiel wird Ihnen ermöglichen, die mittlerweile im Alltag angekommene rapide Verbesserung lernender Maschinen wie Chat GPT zu verstehen, die oft als »künstliche Intelligenz« bezeichnet werden. Das Kapitel erklärt die Grundlagen und die jüngere Geschichte dieser Technologie, die unser aller Alltagsleben in den kommenden Jahren massiv beeinflussen wird. Kapitel acht, neun und zehn helfen dabei, die umfassenden Auswirkungen zu verstehen und zu beurteilen, die diese Technologie schon jetzt hat – aber auch die Gefahren, die mit ihr verbunden sind.

Wenn Sie Kapitel sechs gelesen haben, werden Sie verstehen, wie es gelingen konnte, in so kurzer Zeit Covid-19-Impfstoffe mit einer bis dahin nie genutzten Impfstofftechnologie herzustellen. Die Antwort hat mit der Verzahnung von maschinellem Lernen und Biotechnologie zu tun, und mit der Verwandtschaft von DNA und digitalen Daten.

Kapitel sieben und elf werden Ihnen ein neues Verständnis dafür eröffnen, was wir psychologisch heute schon über uns selbst wissen – und inwiefern das einerseits mit Desinformation im Internet, andererseits mit unserem Umgang mit Klimakrise und Artensterben zusammenhängt.

Kapitel zwölf schließlich enthält eine Hoffnung machende, auf Daten, Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Botschaft: Wir haben sowohl das Potenzial als auch die Möglichkeiten und Werkzeuge, die schlimmsten Auswirkungen menschlichen Fehlverhaltens noch rechtzeitig zu korrigieren. Das Kapitel wird ihnen außerdem verständlich machen, worüber nicht nur Fachleute mittlerweile erbittert streiten: Welche Veränderungen unsere Wirtschaftssysteme brauchen, um uns nicht allesamt in den Abgrund zu reißen. Kapitel zwölf gibt auch eine Antwort auf die Frage, warum der pauschal benutzte Begriff »Wachstum« heute eher irreführend ist.

In diesem letzten Kapitel geht es darüber hinaus um den schon 2020 exponentiellen Ausbau erneuerbarer Energien in China. Im Jahr 2022 hat die Regierung von Joe Biden in den USA ein Gesetzespaket verabschiedet, das auch dort zu einem rasanten Ausbau von Wind- und Solarenergie, Speichertechnologie und Elektromobilität führen wird, Europa wird zweifellos nachziehen. Einige der positiven, wünschenswerten Exponentialfunktionen, um die es in diesem Buch auch geht, nehmen gerade Fahrt auf – zum Glück.

Die Beschleunigung wird weitergehen. Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, sind Sie dafür besser gerüstet.

Christian Stöcker, Hamburg, im Februar 2023

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