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Erd-Demokratie
ist sowohl eine uralte Weltanschauung als auch eine neu
entstehende politische Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit
und Nachhaltigkeit: Erd-Demokratie verbindet das Besondere mit
dem Allgemeinen, das Verschiedenartige mit dem, was wir alle
gemein haben, und das Lokale mit dem Globalen. Sie beinhaltet
das, was wir in Indien vasudhaiva
kutumbkam
(»Erdfamille«) nennen – die Gemeinschaft aller
Lebewesen, die von der Erde getragen und genährt werden.
Seit je haben die amerikanischen Ureinwohner und die indigenen
Kulturen auf der ganzen Welt das Leben als ein Kontinuum zwischen
Menschen und anderen Spezies sowie zwischen gegenwärtigen,
vergangenen und zukünftigen Generationen erlebt und
verstanden. Eine Rede aus dem 19. Jahrhundert, welche Häuptling
Seattle zugeschrieben wird, beschreibt das Kontinuum des Lebens
so: »Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen –
oder die Wärme der Erde? Diese Vorstellung ist uns fremd.
Wenn wir die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht
besitzen – wie könnt ihr sie von uns kaufen? Jeder
Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig, jede glänzende
Tannennadel, jeder sandige Strand, jeder Nebel in den dunklen
Wäldern, jede Lichtung, jedes summende Insekt ist heilig in
den Gedanken und Erfahrungen meines Volkes. Der Saft, der in den
Bäumen steigt, trägt die Erinnerung des roten Mannes.
[...] Denn das wissen wir, die Erde gehört nicht den
Menschen, der Mensch gehört zur Erde – das wissen wir:
Alles ist miteinander verbunden, wie das Blut, das eine Familie
vereint. Alles ist verbunden.« (Seattle 1997,
8-26)
Erd-Demokratie steht für das Bewusstsein dieser
Verbindungen und der Rechte und Pflichten, welche daraus
erwachsen. Häuptling Seattles Protest – »die
Erde gehört nicht dem Menschen« – findet
Widerhall in der ganzen Welt, wenn Menschen sich gegen die
Vermarktung ihrer Nahrung, ihres Wassers, ihres Saatgutes und
ihrer Diversität wehren. Dieser Widerstand gegen die
Privatisierung im Namen der unsinnigen Ideologie, die sich
Wirtschaftsglobalisierung nennt, ist ein Grundstein der
Erd-Demokratie. Die Wirtschaftsglobalisierer sehen die Welt als
etwas, das man besitzen kann, und nutzen den Markt als reine
Profitmaschine. Demgegenüber beschlossen 1993 in Bangalore
eine halbe Million indischer Bauern, sich der Klassifikation von
Saatgut als Privateigentum zu widersetzen, welche von den TRIPS
(Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) verlangt
wurde, dem Abkommen der Welthandelsorganisation WTO über
handelsbezogene Rechte an geistigem Eigentum. 1993 in Seattle und
2003 in Cancún stoppten Proteste die Ministertreffen der
Welthandelsorganisation. Millionen von Menschen haben kreativ,
fantasievoll und mutig auf die Pläne der
Wirtschaftsglobalisierer reagiert, weil sie die Erde als Familie
sehen, als Gemeinschaft aller Lebewesen und als Gemeinschaft von
Menschen aller Hautfarben, Glauben, Klassen und Länder.
Global
operierende Konzerne wollen sich die Welt als Privatbesitz
aneignen. Im Gegensatz dazu verteidigen soziale Bewegungen auf
lokalem wie globalem Niveau den Planeten als Gemeingut.
Privatunternehmen verstehen die Welt als globalen Supermarkt , in
dem Güter und Dienstleistungen mit hohen – aber
externallsierten – ökologischen, sozialen und
ökonomischen Kosten produziert und zu lächerlich tiefen
Preisen verkauft werden. Im Gegensatz dazu wehren sich Kulturen
und Gemeinschaften überall gegen die Zerstörung ihrer
biologischen und kulturellen Diversität, ihrer Lebensweisen
und ihres Lebensunterhaltes. Die selbstmörderische
globalisierte freie Marktwirtschaft beutet die lebenswichtigen
Ressourcen der Erde aus. Sie übernutzt und verschmutzt die
Umwelt und marginalisiert Millionen von Bäuerinnen,
Handwerkern und Arbeitern. Im Gegenzug verteidigen und entwickeln
viele Gemeinschaften resolut eine lebendige Wirtschaft, welche
das Leben auf dieser Erde schützt und der Kreativität
förderlich ist.
Die Globalisierung der Wirtschaft
bedingt neue Einhegungen der Allmende; Zäune und Mauern,
welche Menschen ausgrenzen, wo nötig mit Gewalt. Statt einer
Kultur der Fülle schafft die profitgetriebene Globalisierung
eine Kultur des Ausschlusses, der Enteignung und der Knappheit.
Wenn die Globalisierung alle Lebewesen und Ressourcen in Waren
verwandelt, besetzt sie in Wirklichkeit die ökologischen,
kulturellen, ökonomischen und politischen Räume, auf
die alle einen Anspruch haben. Das »Eigentum« der
Reichen ist in der Enteignung der Armen begründet – es
sind die gemeinschaftlichen, öffentlichen Ressourcen der
Armen, die privatisiert, und die Armen selbst, die
wirtschaftlich, politisch und kulturell enteignet
werden.
Patente auf Leben und die Rhetorik der
»Eigentümer-Gesellschaft« (ownership
society),
in welcher alles – Wasser, Biodiversität, Zellen,
Gene, Tiere, Pflanzen – zum Besitz wird, sind Ausdruck
einer Weltsicht, in der Lebensformen keinen inneren Wert und
keinen eigenen Status haben. Es ist eine Weltsicht, in welcher
das Recht der Bauern zu säen, das Recht der Patienten auf
erschwingliche Medizin und das Recht der Produzenten auf einen
fairen Anteil an den Naturressourcen ohne weiteres verletzt
werden können. Der Begriff »Eigentümer-Gesellschaft«
beschönigt die lebensfeindliche Philosophie derer, die –
auch wenn sie »ja zum Leben!« schreien – alle
Gaben dieser Erde und alle menschliche Kreativität zu
kontrollieren und zu monopolisieren suchen. Die Einhegungen der
Allmenden, welche in England begannen, haben Millionen von
überflüssigen Menschen geschaffen. Während mit
diesen ersten Einzäunungen bloß Land gestohlen wurde,
werden heute alle Aspekte des Lebens eingehegt – Wissen,
Kultur, Wasser, Biodiversität und öffentliche Dienste
wie das Gesundheits- und das Bildungswesen. Dabei sind
Gemeingüter der höchste Ausdruck einer ökonomischen
Demokratie.
Die Privatisierung öffentlicher Güter
und Dienstleistungen und die Monetarisierung und
Kommerzialisierung der lebenswichtigen Netze der Armen ist ein
doppelter Diebstahl, welcher die Menschen sowohl ihrer
wirtschaftlichen wie auch ihrer kulturellen Sicherheit beraubt.
Millionen, die ihre sichere Existenz und ihre Identität
verlieren, werden in die Arme von extremen, terroristischen und
fundamentalistischen Bewegungen getrieben. Diese Bewegungen
identifizieren den anderen als Feind und konstruieren
gleichzeitig exklusive, abschottende Identitäten, um sich
von denen abzugrenzen, mit denen sie in Wirklichkeit ökologisch,
kulturell und ökonomisch verbunden sind. Diese falschen
Abspaltungen bewirken ein feindseliges und gleichsam
kannibalistisches Verhalten. Der Aufstieg des Extremismus und
Terrorismus ist eine Antwort auf die Grenzziehungen und die
wirtschaftliche Kolonisation im Rahmen der Globalisierung. Unter
agroindustriell gehaltenen Tieren hört der Kannibalismus
auf, sobald Hühner und Schweine ins Freie gelassen werden.
Auch Terrorismus, Extremismus, ethnische Säuberungen und
religiöse Intoleranz sind unnatürliche Zustände,
verursacht durch die Globalisierung; sie haben keinen Platz in
der Erd-Demokratie.
Einhegungen schaffen Ausgrenzungen,
und ebendiese Ausgrenzungen machen die versteckten Kosten der
Wirtschaftsglobalisierung aus. Unsere erfolgreichen Bewegungen
gegen die Biopiraterie von Neem, Basmati und Weizen hatten alle
ein Ziel: Wir verlangten unser kollektives biologisches und
intellektuelles Erbe als Gemeingut zurück. Bewegungen wie
der schließlich siegreiche Kampf, den ein paar einheimische
Frauen zunächst in einem winzigen Weiler namens Plachimada
im indischen Staat Kerala gegen einen der weltgrößten
Konzerne, Coca-Cola, aufgenommen hatten, bilden den Kern der
entstehenden Erd-Demokratie.
Neue handelsbezogene Rechte
des geistigen Eigentums stecken heute die biologischen,
intellektuellen und digitalen Allmenden ab. Die Privatisierung
schränkt beispielsweise Wasserrechte ein. Die Einhegung
jedes dieser Allgemeingüter vertreibt und entrechtet
Menschen. Für die meisten bedeutet das Mangel und
Entbehrung. Bloß ein paar wenigen bringt es »Wachstum«.
Aus marginalisierten Menschen werden überflüssige; in
der schlimmsten Form führt die herbeigeführte Knappheit
von lebenswichtigen Gütern zur Aberkennung der
Existenzberechtigung selbst. Wenn der Gebrauch von genetisch
modifiziertem Saatgut und die Praxis der geschlechtsbedingten
Abtreibungen zunehmen, verschwinden ganze Gruppen von Menschen –
zuerst die Frauen und Kleinbauern. Das Ausmaß und die
Geschwindigkeit dieses Verschwindens sind proportional zum
»ökonomischen Wachstum« unter dem Diktat der
neoliberalen Wirtschaftsglobalisierung.
Auf den Straßen
von Seattle und Cancún, in Häusern und auf Höfen
der ganzen Welt wird in diesem Moment eine ganz andere
menschliche Zukunft geboren. Eine Zukunft, die auf Einbezug,
nicht auf Ausgrenzung basiert; auf Gewaltlosigkeit, nicht auf
Gewalt; auf der Rückeroberung der Allmenden, nicht auf ihrer
fortschreitenden Einhegung; darauf, dass wir die Schätze der
Erde freigiebig teilen und sie nicht monopolisieren und
privatisieren. Weltentwürfe wie das militaristische
rechtskonservative »Projekt für das neue amerikanische
Jahrhundert« (Project for the New American Century) werden
von engstirnigen Menschen hinter geschlossenen Türen
ausgebrütet. Demgegenüber entfaltet sich das
Volksprojekt, das ich Erd-Demokratie nenne, in einer Atmosphäre
des Dialogs und der Vielfalt, des Pluralismus und der
Partnerschaft, des Teilens und der Solidarität. Dank unseren
Fähigkeiten zur Selbstverwaltung, unserer mannigfachen
Verbundenheit mit der Erde und unserer Vielzahl und Vielfalt
betrifft der Erfolg der Erd-Demokratie nicht bloß das
Schicksal und Wohlergehen aller Menschen, sondern aller Lebewesen
überhaupt. Erd-Demokratie handelt nicht bloß vom
nächsten Protest oder vom nächsten World Social Forum;
es geht auch darum, was wir in der Zwischenzeit tun.
Erd-Demokratie spricht das Globale in unserem Alltag und in
unserer alltäglichen Wirklichkeit an und schafft globalen
Wandel, durch lokale Veränderungen. Diese Eingriffe mögen
klein scheinen, aber ihr Einfluss ist weit reichend – sie
betreffen die Evolution der Natur und unser menschliches
Potenzial. Mit diesen Veränderungen brechen wir den
Teufelskreis der Gewalt, in dem eine selbstmörderische
Gesellschaft, eine selbstmörderische Wirtschaft und eine
selbstmörderische Politik sich gegenseitig füttern.
Erd-Demokratie führt uns hin zu einem positiven Kreis der
kreativen Gewaltlosigkeit, in welchem eine lebendige Kultur eine
lebendige Demokratie und eine lebendige Wirtschaft
nährt.
Erd-Demokratie
ist nicht nur ein theoretisches Konzept, sie ist geformt durch
die vielen und verschiedenartigen Tätigkeiten der Menschen,
die ihre Allmenden zurückfordern, die ihre Ressourcen, ihre
Lebensgrundlage, ihre Freiheiten, ihre Würde, ihre Identität
und ihren Frieden wiederhaben wollen. Diese Tätigkeiten,
Bewegungen und Aktionen sind facettenreich und vielfältig.
In diesem Buch schreibe ich über Gruppen, welche Idee und
Praxis einer lebendigen Demokratie, einer lebendigen Kultur und
einer lebendigen Wirtschaft beispielhaft umsetzen können.
Wirtschaft, Politik und Kultur sind nicht voneinander zu trennen.
Die Wirtschaftsformen, mittels deren wir Güter und
Dienstleistungen produzieren und handeln, werden durch kulturelle
Werte und die Machtverteilung in der Gesellschaft beeinflusst.
Die Entstehung von lebendigen Ökonomien, lebendigen Kulturen
und lebendigen Demokratien ist deshalb ein synergetischer
Prozess.
Eine lebendige Wirtschaft umfasst die Prozesse
und Räume, in denen die Ressourcen der Erde gerecht verteilt
werden, damit unser Grundbedarf an Nahrung und Wasser gedeckt
werden kann und sinnvolles Leben möglich ist. Erd-Demokratie
entsteht aus dem Bewusstsein, dass wir zwar lokal verwurzelt
sind, aber auch verbunden sind mit der ganzen Welt, ja eigentlich
mit dem gesamten Universum. Wir gründen unsere
Globalisierung auf ökologische Vorgänge und auf Gefühle
der Anteilnahme und der Solidarität, nicht auf die Bewegung
des Kapitals und die Finanzwirtschaft oder auf das unnötige
Hin und Her von Gütern und Dienstleistungen. Eine globale
Wirtschaft, welche die ökologischen Grenzen respektiert,
muss unbedingt die Produktion lokalisieren, um die Vergeudung
sowohl von natürlichen Ressourcen wie auch von Menschen zu
reduzieren. Und nur Ökonomien, die auf ökologischen
Grundlagen basieren, können lebendige Ökonomien werden,
die Nachhaltigkeit und Wohlstand für alle sichern. Unsere
Vorstellung einer lebendigen Wirtschaft ist nicht auf die
kurzfristige Perspektive der wirtschaftlichen
Vierteljahresbilanzen oder auf die Vier- oder Fünfjahrespläne
der Politiker ausgerichtet. Wir berücksichtigen das
evolutionäre Potenzial allen Lebens auf der Erde und betten
das Gemeinwohl von uns Menschen in unser Zuhause im engeren Sinn,
aber auch in unsere Gemeinde und in die ganze Erdfamilie ein.
Ökologische Sicherheit ist unsere elementarste Sicherheit;
ökologische Verbindungen formen unsere grundlegendste
ldentität. Wir sind die Nahrung, die wir essen, das Wasser,
das wir trinken, die Luft, die wir atmen. Wenn wir Freiheit
wollen, ist es lebenswichtig, die demokratische Kontrolle über
Nahrung, Wasser und unser ganzes ökologisches Überleben
zurückzuerlangen.
Eine lebendige Demokratie ist der
Ort, an dem wir unsere grundlegenden Freiheiten zurückfordern,
unsere Grundrechte verteidigen, unsere gemeinsamen
Verantwortlichkeiten und Pflichten zum Schutz von Leben und Erde
ausüben, Frieden schaffen und Gerechtigkeit vorantreiben.
Die Wirtschaftsglobalisierung versprach, dass die freien Märkte
Demokratie verbreiten würden. Doch die freien Märkte
der globalen Unternehmen haben im Gegenteil auf allen Ebenen
Demokratie zerstört. Schon auf dem grundlegendsten Niveau
zerstört die Wirtschaftsglobalisierung die Basisdemokratie
durch Eingrenzung und Schmälerung des Gemeingutes. Die
Regeln der Globalisierung selbst, ob durch die Weltbank und den
Internationalen Währungsfonds IWF oder durch die
Welthandelsorganisation WTO verhängt, sind in jedem Fall
undemokratisch und ohne Beteiligung der am meisten betroffenen
Länder und Gemeinden aufgestellt worden. Die
Wirtschaftsglobalisierung unterläuft und untergräbt die
nationalen demokratischen Prozesse, indem sie wirtschaftliche
Entscheidungen aus dem Einflussbereich von Parlamenten und von
Bürgerinnen und Bürgern entfernt. Welche Regierung auch
immer gewählt wird, sie ist an eine Reihe von neoliberalen
Reformen gebunden. Die Wirtschaftsglobalisierung ist der Tod der
wirtschaftlichen Demokratie. Sie bietet Hand zu unternehmerischer
Kontrolle und wirtschaftlicher Diktatur.
Wenn dieses
Diktat der Wirtschaft der bloß repräsentativen
Wahldemokratie aufgepfropft wird, entsteht eine giftige Mischung
aus religiösem Fundamentalismus und Rechtsextremismus. Die
Wirtschaftsglobalisierung führt also nicht bloß zum
Tod der Demokratie, sondern auch zu einer Demokratie des Todes,
in welcher Ausgrenzung, Hass und Angst zum bevorzugten
politischen Mittel werden, um Stimmen und Macht zu
mobilisieren.
Erd-Demokratie befähigt uns, lebendige
Demokratien zu sehen und zu schaffen. Eine lebendige Demokratie
ermöglicht das demokratische Mitspracherecht in allen
lebenswichtigen Fragen – wir alle bestimmen über die
Nahrung, die wir essen oder zu der wir keinen Zugang haben; über
das Wasser, das wir trinken oder das uns durch Privatisierung
oder wegen Verschmutzung vorenthalten wird; über die Luft,
die wir atmen oder durch die wir vergiftet werden. Eine lebendige
Demokratie gründet sich auf dem inneren Wert aller Arten,
aller Völker und aller Kulturen, auf dem gerechten und
ebenbürtigen Teilen der lebenswichtigen Ressourcen der Erde
und in der Mitsprache über die Verwendung der
Erd-Ressourcen.
Eine lebendige Kultur ist der Raum, in
welchem wir unsere verschiedenen Wertvorstellungen,
Glaubensrichtungen, Bräuche und Traditionen entwickeln und
leben, während wir unsere gemeinsame universale
Menschlichkeit und unsere Verbundenheit mit anderen Spezies durch
Erde, Wasser und Luft bereitwillig annehmen. Lebendige Kulturen
basieren auf Gewaltlosigkeit und Mitgefühl, Vielfalt und
Pluralismus, Gleichstellung und Gerechtigkeit sowie Respekt für
das Leben in all seinen Erscheinungsformen.
Eine lebendige
Kultur, welche sich aus einer lebendigen Wirtschaft entwickelt,
hat für verschiedene Spezies, Religionen, Geschlechter und
Ethnien Platz. Lebendige Kulturen wachsen aus der Erde. Sie
entstehen an ganz bestimmten Orten und in ganz bestimmten
Umgebungen. Und doch verbinden sie gleichzeitig die ganze
Menschheit durch die Gewissheit, dass wir Mitglieder der einen
Erdfamilie sind. Eine lebendige Kultur basiert auf der
Erd-Identität. Wir finden diese in der konkreten
Wirklichkeit unseres Alltagslebens – da, wo wir arbeiten,
spielen, schlafen, essen, lachen oder weinen –, aber auch
in den Prozessen, die uns global betreffen.
„Alle
Dinge sind verbunden“, sagt uns Häuptling Seattle. Wir
sind lokal und global mit der Erde verbunden. Auf dem Fundament
der Erd-Identität schafft eine lebendige Kultur die
Möglichkeit, die menschliche Aktivität wieder in die
ökologischen Prozesse und Grenzen der Erde zu integrieren.
Wenn wir uns daran erinnern, dass wir Kinder und Bürger der
Erde sind, können wir unsere gemeinsame Menschlichkeit
wiedererlangen und die Barrieren aus Intoleranz, Hass und Angst
überwinden, welche durch die Brüche, die Polarisierung
und die Grenzziehungen im Zuge der Wirtschaftsglobalisierung
errichtet wurden.
In unserer vernetzten Erdfamilie treffen
wir auf uralte Ideen, die beschreiben, wie wir friedlich und
vereint leben können, während wir uns in biologisch und
kulturell unterschiedlichen Bahnen bewegen; diese Ideen
inspirieren die Erd-Demokratie. Die alte Weisheit und Tradition
der Untrennbarkeit und Verbundenheit, welche wir wiederbeleben,
zeigt sich auch in der Quantentheorie, im Raum-Zeit-Kontinuum der
allgemeinen Relativität und in der sich selbst regelnden
Komplexität von lebenden Organismen.
Im
zeitgenössischen Kontext widerspiegeln sich in der
Erd-Demokratie die Werte, Weltsichten und Aktionen der
verschiedenen Bewegungen, die sich für Frieden,
Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit einsetzen. Wir leben in einer
Zeit, in der die Kombination von rein repräsentativer
Demokratie und wirtschaftlicher Globalisierung neue Ängste,
neue Unsicherheiten, neue Fundamentalismen und neue Gewalt
hervorgebracht hat. Sowohl in Indien wie in den USA zeigten die
Wahlen des Jahres 2004, dass angesichts der Arbeitsplatzverluste
und der Zerstörung von Lebensgrundlagen ein
fundamentalistischer religiöser Diskurs immer mehr Raum
einnimmt. Dieser Diskurs polarisiert die Gesellschaft und benutzt
kulturelle Differenzen als Keil, um die Menschen von den
Problemen zu trennen, die sie gemeinsam haben – ihre
Arbeit, die Umwelt, Menschenrechte und das gemeinsame Schicksal
der Menschheit.
Erd-Demokratie erlaubt uns, unser
gemeinsames Mensch-sein und unsere Einheit mit allem Leben
zurückzugewinnen. Erd-Demokratie respektiert den Wert des
Lebens aller Lebewesen und aller Menschen, unabhängig von
Klasse, Geschlecht, Religion oder Kaste. Und sie definiert –
weil wir alle zur Erdfamilie gehören – die „Erhaltung
von Familienwerten“ neu als Begrenzung von Habgier und
Gewalt. Die Familienwerte der Erdfamilie lassen die
Privatisierung des Wassers oder die Patentierung des Lebens nicht
zu, da alle Lebewesen ein Recht auf Leben und Wohlergehen haben.
Die Erdfamilie erkennt wie Häuptling Seattle an, dass „alle
Dinge dieselbe Luft zum Atmen teilen, das Tier, der Baum, der
Mensch … Die Luft teilt ihren Geist mit allem Leben, das
sie erhäIt“. In dieser Erdfamilie kann nicht ein
Mitglied der internationalen Gemeinschaft im Alleingang das Klima
destabilisieren, atmosphärische Gemeingüter eingrenzen
und die Rechte anderer Spezies und Länder missachten, indem
es 36 Prozent der CO2-Verschmutzung
dieser Welt verursacht.
Erd-Demokratie schützt die
ökologischen Vorgänge, welche Leben erhalten, und die
fundamentalen Menschenrechte, welche die Basis des Rechts auf
Leben bilden, darunter auch das Recht auf Wasser, das Recht auf
Nahrung, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Bildung sowie
das Recht auf Arbeit und auf einen existenzsichernden Unterhalt.
Erd-Demokratie basiert auf der Anerkennung und dem Respekt vor
dem Leben aller Spezies und aller Menschen.
Während
der letzten drei Jahrzehnte habe ich durch mein Engagement in
verschiedenen Bewegungen viel über die Idee und die Praxis
der Erd-Demokratie dazugelernt. Ökologische Bewegungen,
Umweltgruppen und Tierschützer gründen ihren Kampf auf
den intrinsischen Wert aller Lebewesen. Menschenrechtsbewegungen
haben ihre Wurzeln in der Anerkennung der universalen
Menschenrechte für alle Menschen. In der Erd-Demokratie
kommen die Sorge für die Menschen und die anderen Spezies in
einem zusammenhängenden, konfliktfreien Ganzen zusammen.
Erd-Demokratie bildet eine Alternative zur Weltsicht der
Wirtschaftsglobalisierer, welche bloß den Unternehmen
Rechte geben und welche die Menschen und andere Lebewesen als
ausbeutbares Rohmaterial oder überflüssigen Abfall
betrachten.
Erd-Demokratie verbindet uns untereinander
durch die ständige Erneuerung und Regenerierung des Lebens –
des einzelnen Alltagslebens bis hin zum Leben des Universums.
Erd-Demokratie ist die universale Geschichte unserer Zeit, an
unserem jeweiligen Ort. Erd-Demokratie enthält die
unbegrenzten Möglichkeiten eines sich entfaltenden
Universums, während sie gleichzeitig die realen Bedrohungen
für unser Überleben als Spezies benennt. Sie gibt
Hoffnung in einer Zeit der Hoffnungslosigkeit. Sie fördert
Frieden in einer Zeit des endlosen Kriegens. Sie ermutigt uns,
das Leben nach Kräften und mit Leidenschaft zu lieben in
einer Zeit, in der Politik und Medien Hass und Angst verbreiten.
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Alle
Spezies, Völker und Kulturen haben einen inneren Wert Alle
Lebewesen sind Subjekte und haben Integrität, Intelligenz
und Identität; sie sind nicht frei verfügbare Objekte
für Besitz, Manipulation, Ausbeutung oder Liquidation. Kein
Mensch hat das Recht, andere Spezies und andere Menschen zu
besitzen oder sich das Wissen anderer Kulturen durch Patente und
andere intellektuelle Eigentumsrechte anzueignen.
Die
Erdgemeinschaft ist eine Demokratie allen Lebens Wir
sind alle Mitglieder der Erdfamilie, verbunden durch das fragile
Lebensnetz des Planeten. Wir alle haben die Pflicht, so zu leben,
dass die ökologischen Vorgänge der Erde und die Rechte
sowie das Gemeinwohl aller Spezies und aller Menschen geschützt
sind. Kein Mensch hat das Recht, in den ökologischen Raum
anderer Spezies und anderer Menschen einzudringen oder sie mit
Grausamkeit und Gewalt zu behandeln.
In Natur
und Kultur muss Diversität verteidigt werden Biologische
und kulturelle Vielfalt sind an sich schon Ziel und Zweck.
Biologische Diversität ist ein Wert und eine Quelle von
Reichtum, sowohl materieller als auch kultureller Art, welche
ihrerseits die Bedingungen für Nachhaltigkeit schafft.
Kulturelle Vielfalt schafft die Grundlagen für den Frieden.
Die biologische und kulturelle Vielfalt zu verteidigen ist
Pflicht aller Menschen.
Alle Lebewesen haben ein
natürliches Recht auf Lebensunterhalt Alle
Mitglieder der Erdgemeinschaft, alle Menschen haben ein Recht auf
Unterhalt – auf Essen und Wasser, auf eine sichere und
saubere Wohnstätte, auf Sicherheit ihres ökologischen
Raumes. Ressourcen, welche für diesen Unterhalt
lebensnotwendig sind, müssen Allgemeingut bleiben. Das Recht
auf Unterhalt ist ein natürliches Recht, weil es das Recht
auf Leben ist. Diese Rechte werden nicht von Staaten oder
Konzernen verliehen, noch können sie durch staatliches oder
wirtschaftliches Handeln aufgehoben werden. Kein Staat und kein
Unternehmen hat das Recht, diese Naturrechte auszuhöhlen
oder zu unterlaufen oder die lebenserhaltenden Gemeingüter
einzugrenzen.
Erd-Demokratie basiert auf
lebendigen Ökonomien und auf wirtschaftlicher
Demokratie Erd-Demokratie basiert
auf wirtschaftlicher Demokratie. In der Erd-Demokratie schützen
und erhalten die wirtschaftlichen Systeme die ökologischen
Zusammenhänge; sie sorgen für das Auskommen der
Menschen und decken die Grundbedürfnisse aller ab. In der
Erd-Demokratie gibt es keine überflüssigen Leute oder
unwichtigen Spezies und Kulturen. Die Erd-Wirtschaft ist eine
lebendige Wirtschaft. Sie basiert auf nachhaltigen, vielfältigen
und pluralistischen Systemen, die Natur und Menschen schützen,
die demokratisch bestimmt wurden und die auf das Gemeinwohl aller
hinarbeiten.
Lebendige Ökonomien bauen auf
lokale Wirtschaft Der Schutz der
Ressourcen dieser Erde und die Schaffung von nachhaltigen und
befriedigenden Lebensweisen werden am sorgsamsten, kreativsten,
effizientesten und gerechtesten auf lokaler Ebene erreicht. Die
Lokalisierung der Wirtschaft ist ein sozialer und ökologischer
Imperativ. Bloß Güter und Dienstleistungen, welche
nicht lokal produziert werden können – unter Nutzung
von lokalen Ressourcen und lokalem Wissen – sollen
nichtlokal produziert und über weite Distanzen gehandelt
werden. Erd-Demokratie basiert auf dynamischen lokalen
Wirtschaften, welche die nationalen und globalen Ökonomien
stützen. In der Erd-Demokratie zerstört und zerstampft
die globale Wirtschaft weder die lokalen Ökonomien, noch
marginalisiert sie Menschen. Lebendige Ökonomien erkennen
die Kreativität aller Menschen an und schaffen Raum, damit
vielfältige Fähigkeiten ihr Potenzial erreichen können.
Lebendige Ökonomien sind vielfältige und
dezentralisierte Ökonomien.
Erd-Demokratie
ist eine lebendige Demokratie Eine
lebendige Demokratie basiert auf der Demokratie allen Lebens und
der Demokratie des Alltagslebens. In lebendigen Demokratien
können wir alle mitentscheiden, welche Nahrung wir essen,
was für Wasser wir trinken, welches Gesundheitswesen und
welche Bildung wir haben. Lebendige Demokratie wächst wie
ein Baum von unten nach oben. Erd-Demokratie gründet auf
lokale Demokratie mit lokalen Gemeinschaften – organisiert
nach den Prinzipien der Integration, der Vielfalt und der
ökologischen sowie sozialen Verantwortung. Lokale
Gemeinschaften sind die höchste Autorität bei
Entscheidungen, die die Umwelt, die natürlichen Ressourcen
und den Lebensunterhalt ihrer Mitglieder betreffen. Autorität
wird nur nach dem Subsidiaritätsprinzip an weiter entfernte
Ebenen der Regierung delegiert. Selbstbestimmung und
Selbstverwaltung ist die Grundlage der
Erd-Demokratie.
Erd-Demokratie basiert auf
lebendigen Kulturen Lebendige
Kulturen fördern Frieden und schaffen Raum für die
Ausübung verschiedener Religionen und die Akzeptanz von
verschiedenen Konfessionen und Identitäten. Lebendige
Kulturen nähren eine blühende kulturelle Vielfalt, die
sich an unserem gemeinsamen Menschlichsein und an unseren
gemeinsamen Rechten als Mitglieder der Erdgemeinschaft
orientiert.
Lebendige Kulturen nähren das
Leben Eine lebendige Kultur würdigt
und respektiert alles Leben; sie bietet Raum für Menschen
beider Geschlechter und aus allen Kulturen sowie für
gegenwärtige und zukünftige Generationen. Lebendige
Kulturen sind deshalb ökologische Kulturen, welche keine
lebenszerstörenden Lebensweisen, Konsumgewohnheiten und
Produktionsmuster propagieren, auch nicht die Übernutzung
und Ausbeutung von Ressourcen. Lebendige Kulturen sind vielfältig
und gründen auf Ehrfurcht vor dem Leben. Lebendige Kulturen
erkennen die Vielheit von Identitäten an, welche an einem
bestimmten Ort und in einer bestimmten Gemeinschaft existieren –
und ebenso ein planetarisches Bewusstsein, welches das Individuum
mit der Erde und allem Leben verbindet.
Erd-Demokratie
globalisiert Frieden, Fürsorglichkeit und
Solidarität Erd-Demokratie
verbindet Menschen zu Kreisen der Fürsorglichkeit, der
Zusammenarbeit und der Anteilnahme, statt sie durch Wettbewerb
und Konflikt, Furcht und Hass zu spalten. Angesichts einer Welt
der Habgier, der Ungerechtigkeit und des Überkonsums
globalisiert Erd-Demokratie Solidarität, Gerechtigkeit und
Nachhaltigkeit.
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