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Hans-Peter Dürr
Das Netz des Physikers

Naturwissenschaftliche Erkenntnis in der Verantwortung


München Wien 1988 (Hanser); 490 Seiten; ISBN 3-446-14651-2








Durch die Technik – eine hilfreich konstruktive, aber auch eine katastrophal destruktive Technik – ist die Naturwissenschaft schon vor langer Zeit aus ihrem Elfenbeinturm herausgetreten. Ihr Hauptinteresse gilt der Anwendung, dem Know-how, der Manipulation natürlicher Prozesse zur Erreichung bestimmter Zwecke. Dies umfaßt nicht das, was als Forschung in „angewandter Wissenschaft“ bezeichnet wird, sondern schließt auch den größten Teil der Grundlagenforschung ein, welche vorbereitende Untersuchungen für solche Anwendungen durchführt. In den letzten Jahrzehnten schließlich hat sich der Mensch mit der modernen Naturwissenschaft Werkzeuge geschaffen, die prinzipiell zu seiner Selbstzerstörung, ja, zu seiner Zerstörung als Gattung und darüber hinaus zur Zerstörung der verletzlichen Biosphäre ausreichen.




Im Gegensatz zur Wissenschaft, die sie betreiben, haben aber die meisten Wissenschaftler den Elfenbeinturm nicht verlassen und wollen ihn auch gar nicht verlassen. Obgleich sie mit ihrem Tun die Welt täglich verändern, sprechen sie immer noch von reiner Erkenntnissuche, von faustischem Drang und natürlicher Neugierde, sie bezeichnen ihr Tun als „Wissen“schaft, wo dieses doch schon lange zur „Machen“schaft geworden ist.




Hans-Peter Dürr setzt in seinem Buch dieser verantwortungslosen Machenschaft das Gegenbild einer verantwortungsgeleiteten Naturwissenschaft entgegen, die ihren Anspruch als fortschreitende Wirklichkeitserkenntnis weiter aufrecht erhält und zugleich darauf setzt, daß aus wissenschaftlicher Forschung entwickelte Gedanken und Handlungsweisen in der Zukunft Realität werden können, für die uns die Vergangenheit bisher kein Vorbild liefert. In drei Hauptteilen – Physik und Erkenntnis, Wissenschaftsethik und ihre praktische Umsetzung und Friedenspolitik – werden die sich aus dieser Forschung ergebenden Probleme angesprochen, analytische Antworten gegeben und praktische Modelle aufgezeigt.


Hans-Peter Dürr


geb. 1929, Promotion bei Edward Teller in Berkeley, Habilitation und apl. Professor an der Universität München, arbeitete am Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik in München 17 Jahre mit Werner Heisenberg an grundlegenden Problemen der Quantenphysik. Direktor am Max-Planck-Institut für Physik, Werner-Heisenberg-Institut, München (zeitweise Geschäftsführung). Unter seinen Auszeichnungen: Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis) 1987; Elise and Walter Haas International Award der University of California 1993. (Bekannter Namenskollege: Hans Peter Duerr, Ethnologe)


Inhaltsverzeichnis


Einführung






Erster Teil:
Physik und Erkenntnis








I.


Naturwissenschaft und Wirklichkeit
Der Beitrag naturwissenschaftlichen Denkens zu einem möglichen Gesamtverständnis unserer Wirklichkeit








II.


Mathematik und Experiment
Was ist Beobachten? Was ist ein Parameter?








III.


Grenzgängergespräch
Der Teil und das Ganze








IV.


Über die Notwendigkeit, in offenen Systemen zu denken
Der Teil und das Ganze








V.


Physik und Transzendenz
Reflexionen über die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Religion








VI.


Werner Heisenberg – Mensch und Forscher








VII.


Physik und Erkenntnis
Werner Heisenbergs Beitrag zum modernen Weltbild








VIII.


Aufbau der Physik – eine unendliche Geschichte








Zweiter Teil:
Wissenschaftsethik und ihre praktische Umsetzung








I.


Wissenschaft und Verantwortung
Bemerkungen zu einem öffentlichen Disput zwischen Wissenschaft und Politik








II.


Darf Grundlagenforschung ohne Blick auf mögliche Anwendungen betrieben werden?








III.


Dürfen Erkenntnis und Wissen ohne Berücksichtigung von Werten gefördert werden?








IV.


Dafür oder dagegen?
Kritische Gedanken zur Kernenergiedebatte








V.


Kommunales Energiekonzept für München








VI.


Energiesysteme im wirtschaftlichen Wandel
Skizze eines systematischen Ansatzes zur synoptischen Bewertung wirtschafts- und energiepolitischer Optionen








VII.


Industriegesellschaft ohne Kernenergie
Perspektiven und Chancen








VIII.


Konzepte für eine langfristige Energieversorgung








IX


Die Furcht vor der ökologischen Katastrophe – begründet oder herbeigeredet?








X.


Die Nutzung des Weltraums angesichts der drängenden Weltprobleme








XI.


Verdatet und vernetzt








Dritter Teil:
Friedenspolitik








I.


Die Kunst des Friedens








II.


Sicherheitspolitik am Scheideweg
(Gemeinsam mit Albrecht A. C. von Müller)








III.


Wir brauchen neue Formen der Konfliktlösung
Sicherheitspolitik am Scheideweg








IV.


Durch Umrüstung zur Abrüstung
Notwendigkeit einer strukturellen Nichtangriffsfähigkeit








V.


Verantwortung des Wissenschaftlers
und sein Beitrag zu einer stabilen Friedenssicherung








VI.


Soll der Himmel zum Vorhof der Hölle werden?
Über die technische Machbarkeit und die sicherheitspolitischen Folgen der Strategischen Verteidigungsinitiative SDI








VII.


Die forschungspolitischen Auswirkungen der Strategischen Verteidigungsinitiative SDI








VIII.


Defensivwaffen und Stabilität








IX.


Nicht-offensive Verteidigung








X.


Chancen des Friedens
Beiträge zu einem Gespräch der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler








XI.


Andrej Sacharow
Brief an Generalsekretär Michail Gorbatschow








XII.


Umfassender Teststopp für Atomwaffen
– ein wesentlicher Schritt zur Verbesserung der internationalen Beziehungen








XIII.


Ist Frieden machbar?








Nachweise



Namenregister


Leseprobe


Einführung






Als Physiker kommt man nicht oft in die Lage, ein Buch zu schreiben, von dem man annehmen oder hoffen kann, daß es noch für einen Nicht-Naturwissenschaftler verständlich ist. Da die Naturwissenschaft und die aus ihr hervorgegangene Technik in immer höherem Maß in unseren Alltag eindringt und nachhaltig unsere Lebensweise und Lebensqualität beeinflußt, wächst andererseits das Bedürfnis, mehr von dieser geheimnisvollen und uns wegen ihrer Macht immer unheimlicher werdenden Disziplin zu verstehen. Es werden deshalb vielerlei Anstrengungen unternommen, naturwissenschaftlich-technische Fragen und Sachverhalte – und die aus ihnen gewonnenen neuen Einsichten in unsere Wirklichkeit – dem interessierten Laien näherzubringen und für ihn begreiflicher zu machen.






Auch dieses Buch setzt bei den revolutionär neuen Erkenntnissen an, die uns die moderne Forschung, insbesondere in der Physik, seit Beginn dieses Jahrhunderts erschlossen hat. Aber die Absicht des Buches besteht nicht darin, gewisse ausgewählte und wichtige Inhalte dieser enorm angewachsenen Wissenschaft anschaulich darzustellen. Dieses Buch versucht vielmehr, auf einige philosophische und praktische Konsequenzen hinzuweisen, die sich aus den neuen Erkenntnissen direkt oder indirekt ergeben haben.






Durch die Technik ist die Naturwissenschaft schon vor langer Zeit aus ihrem philosophischen Elfenbeinturm herausgetreten. Naturwissenschaft heute ist nur noch zu einem verschwindend kleinen Teil auf Erkenntnis und Wissen im eigentlichen Sinne orientiert. Ihr Hauptinteresse gilt der Anwendung, dem know-how, der Manipulation natürlicher Prozesse zur Erreichung bestimmter, gewollter Zwecke. Dies umfaßt nicht nur das, was wir gewöhnlich als Forschung in »angewandter Wissenschaft« bezeichnen, sondern schließt auch den größten Teil der Grundlagenforschung ein, welche vorbereitende Untersuchungen für solche Anwendungen durchführt. Durch die extensiven und intensiven Forschungen der letzten Jahrzehnte wurde die Vielfalt der Manipulationsmöglichkeiten ganz beträchtlich erweitert, vor allem aber wurde auch die Stärke unserer Einflußnahme um viele Größenordnungen erhöht. Mit der Erschließung der Atomkernenergie haben wir durch Kernspaltung die Energiepotentiale um einen Faktor tausend gegenüber dem chemischen Energiepotential vergrößert, und die Kernfusion, die uns allerdings zunächst nur in der destruktiven Form der Wasserstoffbombe zugänglich ist, erlaubt eine weitere tausendfache Vergrößerung. Wir haben mit diesen Energieumsetzungen eine Dimension erreicht, welche in Konkurrenz zu den natürlichen, auf unserer Erdoberfläche wirkenden Kräften treten. Damit ist uns die Fähigkeit zugewachsen, direkt in das empfindliche Kräftespiel einzugreifen, das die Stabilität unserer natürlichen Umwelt gewährleistet.






In den letzten Jahrzehnten wurde deshalb immer deutlicher, daß sich der Mensch mit der modernen Naturwissenschaft und ihren technischen Möglichkeiten Werkzeuge geschaffen hat, die prinzipiell zu seiner eigenen Zerstörung, ja zu seiner Zerstörung als Gattung und darüber hinaus sogar zur Zerstörung des verletzlichen, höherentwickelten Teils der Biosphäre ausreichen. Der Naturwissenschaftler sieht sich auf einmal in der Situation des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nun nicht mehr bändigen kann. Doch charakterisiert dieses Bild die Lage nur ungenügend, sehen es doch die meisten Naturwissenschaftler gar nicht als ihre Aufgabe an, die von ihnen entfesselten Kräfte selbst zu bändigen. Ihre Aufgabe, so meinen sie in ihrer.»Bescheidenheit«, sei es ja nur zu rufen, die Bändigung müsse den Menschen in ihrer Gesamtheit gelingen und den von ihnen beauftragten Vertretern, den Politikern, überlassen bleiben. Im Gegensatz zur Wissenschaft, die sie betreiben, haben die meisten Wissenschaftler den Elfenbeinturm nicht verlassen und wollen ihn auch gar nicht verlassen. Obgleich sie mit ihrem Tun die Welt täglich verändern, sprechen sie in ihrer Mehrzahl immer noch von Erkenntnissuche, von faustischem Drang und von Befriedigung natürlicher Neugierde, sie bezeichnen ihr Tun als »Wissen«-schaft, wo dieses doch eigentlich schon lange zur »Machen«-schaft geworden ist. Wissen und Machen, Verstehen und Handeln sind für den Menschen gleichermaßen wichtig. Hierüber sollte kein Mißverständnis aufkommen. Es geht nicht darum, das eine vor dem anderen auszuzeichnen. Sie ergänzen und bedingen einander. Doch Machen und Handeln erfordern Verantwortlichkeit von dem, der manipuliert, der Wissen ins Werk setzt, denn unsere Kräfte sind zu groß geworden, als daß die Natur unsere Stöße und Tritte noch abfedern, als daß sie uns unsere Mißgriffe und Mißhandlungen noch verzeihen könnte. Verantwortlichkeit soll hierbei nicht bedeuten, daß wir die Steuerung der Natur nun bewußt in die Hand nehmen und mit größter Gewissenhaftigkeit und Umsicht betreiben sollen, wie dies heute manchmal von Biologen gefordert wird. Welche Überschätzung menschlicher Fähigkeiten, welche Vermessenheit spricht aus dieser Vorstellung! Sie übersieht die enorme Komplexität, die vielfältige Vernetztheit natürlichen Geschehens, die selbst der besten und wohlüberlegtesten Steuerung unüberwindliche Hindernisse entgegenstellt und sie daran scheitern lassen würde. Sie übersieht, daß die Vorstellung, unsere Welt bestünde aus vielen getrennten Teilen, die dann auch getrennt manipuliert werden können, wesentlich aus der analytischen und fragmentierenden Struktur unseres Denkens resultiert. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Verantwortlichkeit bedeutet deshalb vor allem Mäßigung. Wenn wir uns selbst zurücknehmen, vermeiden wir das Herauskippen unseres Ökosystems aus einem delikaten dynamischen Gleichgewicht; nur dann bewahren und ermöglichen wir das vielfältige, freie Spiel der Kräfte, die evolutionär zu geeigneten Anpassungen an neue Umstände führen.






Über die Frage der Verantwortung des Naturwissenschaftlers wird heute heftig gestritten. Sehr viel Hochgelehrtes ist darüber gesagt und geschrieben worden und das meist mit dem Ziel, schlüssig darzulegen, daß es eine solche Verantwortung gar nicht gibt. Trotz der bestechenden Eloquenz, die manche dieser Erörterungen auszeichnet, haben sie mich nicht überzeugt, weil sie, wie ich glaube, am eigentlichen Punkt vorbeidiskutieren. Es geht bei der Verantwortungsfrage nicht um ein legalistisches, sondern um ein moralisches und ethisches Problem. Das Gefühl, mitverantwortlich zu sein, entspringt einer tiefen Betroffenheit, die sich auch durch die gescheitesten Ausreden nicht wegdiskutieren läßt.






Es ist die Art von Betroffenheit, die einen Otto Hahn mit beklemmender Macht überfiel, als er vom Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima erfuhr. Abstrakt und rein logisch-analytisch betrachtet, trifft ihn und alle anderen keine Schuld. Die Betroffenheit ist nicht an persönliche Schuld geknüpft. Sie hängt mehr mit Schuldgefühlen zusammen, die wir als Mitglieder der Gattung Mensch empfinden, als Menschen, die mit immer größerer Rücksichtslosigkeit die Schöpfung, in die wir selbst auf Gedeih und Verderb eingebettet sind, beschädigen. Es ist nicht so leicht, weiterhin mit Begeisterung Kernphysik und Elementarteilchenphysik zu betreiben, wenn man einmal für diese Problematik sensibilisiert ist, wenn man die Opfer von Hiroshima vor Augen hat und wenn man die Phantasie aufbringt, sich die möglichen Konsequenzen der heute bestehenden Arsenale an Massenvernichtungswaffen auszumalen. Hiroshima ist nicht meine Schuld das weiß ich! –, auch nicht die Schuld von Otto Hahn oder von diesem oder jenem – auch das behaupte ich nicht! –, aber es ist in gewisser Weise doch unser aller Schuld, daß wir eine Welt zulassen, in der so etwas geschieht. Wenn wir es recht bedenken, dann müssen wir schmerzhaft erkennen: Wir laden nicht nur Schuld auf uns, wenn wir offensichtlich kriminell handeln – das wäre einfach, wir alle könnten uns leicht vor solchen Anfechtungen schützen –, sondern wir können unter Umständen auch schon schuldig werden, wenn wir ganz normal – eben: ganz den üblichen, akzeptierten Normen entsprechend – handeln. Für einen Nicht-Betroffenen mag diese Behauptung unverständlich klingen oder den frömmelnden Charakter eines zerknirschten»mea eulpa«-Klopfens auf die eigene Brust haben, welches unserem aufgeklärten Jahrhundert nicht mehr angemessen erscheint. Meine Argumentation soll jedoch nicht zuallererst der Selbstanklage dienen und auf Vergangenes gerichtet sein, sondern sie soll als eine Aufforderung für unser zukünftiges Verhalten gewertet werden. Durch das hemmungslose Wirken des Menschen bahnen sich an vielen Stellen katastrophale Entwicklungen an, von denen wir aber – wie ich glaube – annehmen sollten, daß wir ihnen nicht unentrinnbar ausgeliefert sind. Aufgrund unserer Vernunft – und nicht nur unseres Verstandes – erlaubt uns unser Menschsein doch eine ausreichende Orientierung und die Möglichkeit der freien Entscheidung und des Handelns. »Richtig leben« erschöpft sich nicht mehr darin, sich den einmal vorliegenden, von uns selbst gezimmerten Normen zu fügen. Ich gehe davon aus, daß diese Normen alle einmal ihren guten Zweck erfüllt haben und viele dies in gewissem Umfange und in gewisser Weise auch heute noch tun. Sie müssen aber weiterentwickelt werden, wo sie nicht mehr auf die von uns selbst veränderte Wirklichkeit passen, wo sie Zerstörung bewirken, anstatt Werte zu bewahren.






Die Aufsätze in diesem Buch wurden im wesentlichen während der letzten vier Jahre geschrieben. Sie beziehen sich jeweils auf ganz bestimmte Fragen, die uns heute alle beschäftigen, und wurden durch konkrete äußere Anlässe initiiert. Bei den meisten Aufsätzen war allerdings der Anlaß nicht die eigentliche Ursache für die dabei entwickelten Gedanken und Überlegungen. Der Anlaß war für mich vielmehr der Auslöser, um Gedanken und Vorstellungen, die über längere Zeiträume hinweg in mir langsam herangewachsen waren und sich in grober Form herausgebildet hatten, in konkretere Gestalt zu fassen. Eine gewisse gedankliche Zusammengehörigkeit und Kontinuität schimmert deshalb bei all den verschiedenen Aufsätzen hindurch, und dies mag vielleicht rechtfertigen, sie in einem Buch zusammengefügt zu haben.






Der gedankliche rote Faden, der sich durch alle Aufsätze zieht, hängt eng mit meinem persönlichen Lebensweg zusammen. Ich möchte deshalb diesen Aufsätzen einige persönliche Erfahrungen beifügen, die meinen Lebensweg nachhaltig beeinflußt und mir als Orientierungspunkte gedient haben. Dies soll nur schlaglichtartig und nicht in autobiographischer Absicht geschehen. Es soll vor allem deutlich machen, wie ein Physiker unter meinen Lebensumständen eigentlich auf recht natürliche Weise in Problemkreise hineingezogen wird, die bei oberflächlicher Betrachtung weit außerhalb seines spezifischen Wirkungsbereichs zu liegen scheinen. Jedes Engagement dieser Art hat gewöhnlich eine lange Vorgeschichte: Es beginnt meist mit einer spezifischen Fragestellung im eigenen, engeren Fachgebiet, entzündet sich aber dann an mehr grundsätzlichen Überlegungen, die sich daran anschließen. Wenn man, wie ich, an so grundsätzlichen physikalischen Problemen wie einer einheitlichen dynamischen Theorie der Materie arbeitet, sind Bezüge zu viel allgemeineren Überlegungen und Fragestellungen, die weit über das spezielle Fachgebiet hinausreichen und insbesondere solche philosophischen und erkenntnistheoretischen Fragen berühren, sogar ziemlich häufig. Allerdings sind es dann ganz konkrete Anlässe, die wohl mehr den Institutsdirektor, den Wissenschaftsorganisator und -administrator als den Gelehrten auffordern, zu gewissen öffentlichen und gesellschaftlichen Fragen klar und deutlich Stellung zu beziehen. Eine solche Aufforderung erfolgt jedoch nie ultimativ, sie ergibt sich mehr als Angebot. Es ist deshalb relativ leicht, sich ihr zu entziehen, denn die Probleme, auf die Antworten erwartet werden, überfordern uns selbstverständlich genauso wie alle anderen. Da man von einem Wissenschaftler nur exakt nachprüfbare Aussagen erwartet, hat er jedenfalls auch gute Gründe, sich hier ganz aus der Affäre zu ziehen. Die meisten Wissenschaftler machen von dieser Fluchtmöglichkeit auch vollen Gebrauch und loben sich noch dafür. Ich habe diese völlige Überforderung bei allen an mich herangetragenen, relevanten Fragen immer stark gespürt, aber ich habe mich trotzdem nicht davon abhalten lassen, eine Beantwortung zu versuchen. Und dies nicht aus einem Gefühl der Überheblichkeit heraus, sondern mehr aufgrund der Art, wie ich prinzipiell mit Problemen umgehe. Unsere naturwissenschaftliche Forschung lehrt uns doch, auch schwierige Probleme mutig anzugehen. Wir wissen selbstverständlich, daß wir dabei viele Fehler machen. Wer neue Wege beschreiten will, darf keine Angst vor Fehlern haben, er muß nur genügend aufmerksam und bedachtsam voranschreiten; er muß neuen Einsichten gegenüber ganz offen und zu Kurskorrekturen jederzeit bereit sein. Die Kultur ist ein gedanklicher Prozeß, an dem wir alle beteiligt sind, auch die Wissenschaftler: Die Lösung komplizierter Probleme im gesellschaftlichen Bereich hängt nicht nur von der Entscheidung weniger Mächtiger ab, sondern ist wesentlich mit unserer Denkweise verknüpft und der Art, wie wir Wirklichkeit wahrnehmen und verarbeiten.






Wie sehr unsere Denkweise und unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit von unserer kulturellen Einbettung abhängt, wird uns besonders in Zeiten großer äußerer Umbrüche bewußt. Äußere Umbrüche, das haben viele von uns erlebt, können unser Leben stark beschädigen, sie führen zu persönlichen Benachteiligungen und vielfachem Leid, sie verunsichern uns zutiefst in unserer Lebensweise. Aber gerade in dieser Verunsicherung, wenn sie nicht unser Urvertrauen zerstört, liegt andererseits auch die große Chance, daß wir, dank der mit ihr verbundenen höheren Sensibilisierung, die Welt offener und unvoreingenommener sehen und das Wesentliche in ihr deutlicher erkennen können. Die Erkenntnis, wesentlich geirrt zu haben und schwerwiegenden Fehleinschätzungen zum Opfer gefallen zu sein, kann für uns eine wichtIgere Lebenserfahrung sein als die, immer alles richtig und fehlerlos gemacht zu haben. Leute, die glauben, nie wesentlich geirrt zu haben, verwenden vielleicht zur Wahrnehmung und Beurtellung der Wirklichkeit ein derart grobes Raster, daß mit ihren Fehlern auch das eigentlich Relevante bis zur Unkenntlichkeit, verschwimmt.






Meine Teenagerjahre waren stark vom Trauma des Weltkrieges Überschattet. Das Ende des Krieges erlebte ich im Zustand körperlicher Erschöpfung und tiefer Ratlosigkeit. Schreckliche Bombennächte in Stuttgart, anstrengende Nachtarbeit beim Luftschutzbunkerbau, Angst, Verzweiflung und Tod rundum als fast tägliche Erfahrung, Kurzausbildung am Maschinengewehr und an der Panzerfaust im letzten Aufgebot des Volkssturms, Flucht vor den einrückenden alliierten Truppen zu Fuß kreuz und quer durch Süddeutschland und die Alpen, Gefangennahme und Ausbruch, Landarbeit auf einer Bergalm, Inhaftierung durch die Amerikaner wegen des Verdachts, der Freischärlerbewegung »Werwolf« anzugehören, – all dies hatte wohl einen Fünfzehnjähigen viel älter gemacht, als er war. Das dominante Gefühl war weniger Schmerz als Gefühllosigkeit. Aber irgend etwas trieb fast mechanisch voran. Alle Kräfte waren eingespannt für das Überleben: ein trockenes, warmes Fleckchen in einer nassen, kalten, dachlosen Hausruine, die tägliche Suche nach irgend etwas Eßbarem.






Und wir, wir Deutschen, trugen die volle Schuld an diesem schecklichen Unglück!? Das unmittelbare Erlebnis von Tod und Zerstörung machte mich taub für Fragen der Schuld. Warum sollte ich mich schuldig fühlen? Hatte ich doch so offensichtlich uneigennützig mein Streben und Handeln in den Dienst der Allgemeinheit gestellt, mit Geduld schwere Lasten getragen, praktisch wehrlos mich zerstörerischer Gewalt ausgesetzt, gerettet, was noch zu retten war? Sollten alle die Menschen, die bisher fürsorglich mein Leben begleiteten, die mir Orientierung gaben, meine Eltern, die Freunde meiner Eltern, meine Lehrer, meine Nachbarn, sollten sie alle mich schamlos betrogen und meinen jugendlichen Idealismus skrupellos ausgenutzt haben? Und wenn dies so wäre, wem überhaupt sollte ich dann noch vertrauen können? Sollte ich den »Siegern« glauben, die meine besten Freunde töteten, ihnen, die uns jetzt wohlgenährt das eigentlich Gute und Wahre verkündeten, uns aufzuklären versuchten, was »wirklich«war, hier bei uns, wo sie doch gar nicht zugegen waren? Welch eine Überforderung - für sie und für uns! Eine am eigenen Körper erlebte leidvolle Erfahrung ist so viel mächtiger und unmittelbarer als alles, was wir nur mit unserem Verstand, als Information aus zweiter Hand, aufnehmen. Als kriminell betrachtet zu werden, empfand ich als niederträchtige Ungerechtigkeit. Meine Reaktion war Ablehnung und Trotz.






Ich wollte künftig mein Leben nur noch meinen eigenen Interessen und den Interessen meiner Angehörigen und Freunde widmen. Ich war nicht mehr bereit, »Gemeinnutz vor Eigennutz« als Maxime gelten zu lassen. »Ohne mich« war für mich, wie für viele meiner jugendlichen Freunde, damals die Antwort auf die Aufforderung, am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuwirken. Ich mißtraute den Älteren, nicht weil ich glaubte, daß sie mich täuschen wollten, sondern weil ich sah, daß ihnen selbst die Orientierung fehlte, daß sie selbst Getäuschte und Betrogene waren. Ich nahm mir vor, in Zukunft nur noch das zu glauben, was ich selbst erlebt, erfahren und kritisch überprüft hatte. Ich begann mich intensiv für die Naturwissenschaften, für die ich schon immer eine besondere Neigung hegte, zu interessieren, denn sie erschienen mir auf meiner Wahrheitssuche am unverfänglichsten: Ihre Aussagen hingen nicht von bestimmten Autoritäten ab, sondern konnten aus für jeden nachprüfbaren Fakten abgeleitet werden. Die Physik wurde mein Studien- und Berufsziel.






Sie schien mir gleichzeitig auch glänzende Voraussetzungen dafür zu bieten, in andere Länder zu kommen. Insbesondere strebte ich von Anfang an danach, die USA kennenzulernen, dieses große unbekannte Land mit seinen, wie es hieß, unbegrenzten Möglichkeiten, das unser Leben im Nachkriegsdeutschland so stark dominierte. Nach Abschluß meines Physikdiploms im Herbst 1953 verschaffte mir ein Stipendium der Universität Kalifornien in Berkeley dafür die ersehnte Chance. Eine dreimonatige frustrierende Verzögerung meiner Abreise wegen einer zusätzlichen eingehenden politischen Überprüfung – sie wurde damals in der von Kommunistenangst geplagten McCarthy-Zeit bei allen Kernphysikern vor ihrer Einreise in die USA gefordert und so auch bei mir, da ich mich in meiner Diplomarbeit mit der Messung von kernmagnetischen Momenten befaßt hatte – führte mich zum Entschluß, meinen USA-Aufenthalt wenn irgend möglich zu verlängern und in Berkeley zu promovieren. Edward Teller, der damals gerade vom Atomforschungszentrum Los Alamos an die Universität Kalifornien in Berkeley übergesiedelt war, erwählte ich zu meinem Doktorvater, und er nahm mich auch an.






Der Oppenheimer-Teller-Streit im Zusammenhang mit dem Bau der Wasserstoffbombe erregte zu jener Zeit gerade die stolze Geeineinschaft der Physiker und spaltete sie in zwei Lager. Es ging hierbei nicht vornehmlich um ein wissenschaftlich-technisches ProbIem, nämlich ob eine Wasserstoffbombe überhaupt machbar und ob sie wünschenswert sei, sondern um ein politisches Problem, nämlich die Frage, ob die großen Laboratorien mit Kommunistenfreunden durchsetzt waren, welche wichtige Geheimnisse an die Sowjetunion, den ehemaligen Kriegsverbündeten, weitergaben. Auch Oppenheimer selbst, der wissenschaftliche Leiter des Manhattan-Projekts, aus dem die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki hervorgegangen waren, wurde als Sympathisant der Kommunisten verdächtigt. Der Oppenheimer-Teller-Streit war aber letztlich nur ein Aspekt einer viel allgemeineren Kommunistenjagd, die damals, vor allem durch den Senator McCarthy angeheizt, in allen staatlichen Institutionen wütete. Denunziationen, Verdächtigungen, unwürdige Verhöre, regelrechte Säuberungsaktionen in den staatlichen Verwaltungen waren an der Tagesordnung und erinnerten mich lebhaft an Vorkommnisse, wie sie mir so eindrücklich aus der Nazizeit geschildert worden waren. Und doch gab es dabei wesentliche Unterschiede, soweit ich dies überhaupt beurteilen konnte. Die Professoren und Assistenten an den Universitäten leisteten Widerstand! Wohl nicht die Mehrheit, aber doch eine erstaunlich große Zahl von ihnen weigerten sich, den sogenannten »Loyalty Oath« zu unterschreiben, einen feierlichen Eid, den der Staat allen abverlangte und mit dem sie schriftlich bestätigen sollten, daß sie sich jederzeit loyal zu ihrem Lande und ihrer Regierung verhalten wollten. Die Gegner dieser eidesstattlichen Erklärung empfanden es als eine ehrenrührige und dreiste Zumutung, daß ihr Staat, dem sie sich alle loyal ergeben fühlten, sich dies noch ausdrücklich bestätigen lassen wollte mit der Unterstellung, daß im Weigerungsfalle Illoyalität angenommen werden müsse. Sie betrachteten dies als einen Versuch, die allgemeine politische Toleranz im Lande zu untergraben und den politischen Gegner zu diskriminieren. Einige Kollegen versuchten, die Unterschriftengegner doch noch zu überreden, mit Argumenten der Art, daß sie ja selbst eigentlich ihre Meinung teilten, daß aber andererseits dieser Erklärung kein solches Gewicht zukomme, daß eine Spaltung der Wissenschaftlergemeinschaft heraufbeschworen würde. Die Kritiker blieben trotzdem bei ihrer Ablehnung und dies aus prinzipiellen Gründen. Die Auseinandersetzung blieb nicht beim Wortgefecht. Die Nichtunterzeichner verloren, meiner Kenntnis nach, damals alle ihre Universitätsstellen. Ich war tief beeindruckt: Intelligenz und Zivilcourage – diese Kombination war für mich neu und faszinierend!






Diese politische Erfahrung zu Beginn meines USA-Aufenthalts war wegweisend für mich, obwohl, wie ich gestehen muß, oder vielleicht gerade weil auch ich zunächst nicht so ganz nachvollziehen konnte, warum jemand seine berufliche Existenz wegen einer solchen, wie mir schien, doch mehr formalen Angelegenheit aufs Spiel setzen wollte. Meine persönliche Reserve in dieser Frage beschäftigte und beunruhigte mich aber in der Folgezeit, weil ich das Gefühl hatte, hier einen wesentlichen Gesichtspunkt noch nicht richtig verstanden zu haben. Dies sollte sich jedoch für mich einige Zeit später auf eindrucksvolle Weise klären. Die bekannte Politologin und Philosophin Hannah Arendt hielt in den kommenden Semestern Gastvorlesungen über »Nationalsozialismus« am Department für politische Wissenschaften der Universität Berkeley. Ihre Vorlesungen sollten den amerikanischen Studenten verständlich machen, wie es überhaupt zu den Ungeheuerlichkeiten des Hitlerreiches kommen konnte, d. h. wie normale Menschen überhaupt dazu gebracht werden können, solche unglaublichen Greueltaten auszuführen. Es waren für mich spannende und im eigentlichen Sinne des Wortes aufschlußreiche Stunden, die ich in ihrem Kolleg und dann auch im persönlichen Gespräch mit ihr verbrachte, weil mir in ihren Worten und Erklärungen meine eigene Vergangenheit, meine eigenen Erlebnisse auf einmal erkennbar und begreifbar wurden und sich für mich ein Weg öffnete, aus dem beklemmenden und einengenden Gefühl des Nichtverstandenwerdens herauszutreten. Wichtig für mich war vor allem ihr Hinweis, daß man sich die Deutschen nicht einfach als ein Volk von Kriminellen, als blutrünstige Verbrecher vorstellen dürfe, sondern daß die Deutschen wohl alle ziemlich normale Menschen waren mit ihren Hoffnungen und Ängsten, ihren Stärken und Schwächen, ihrem Stolz und ihrer Verletzlichkeit. Ihre Schuld lag hauptsächlich in dem Versäumnis, nicht zu dem relativ frühen Zeitpunkt in der Entwicklung des Nationalsozialismus energisch Widerstand geleistet zu haben, als die Konturen des Unrechtregimes sich eigentlich schon für alle deutlich abzuzeichnen begannen. Insbesondere, so meinte sie, hätten die deutschen Intellektuellen eklatant versagt, da ihnen vermöge ihrer hohen Intelligenz bei jeder Untat immer wieder eine gescheite Ausrede einfiel. Mit dem Hinweis »Wo gehobelt wird, fallen Späne!« versuchte man zunächst alles zu entschuldigen. Als die Verbrechen jedoch für viele offensichtlich wurden und eine Verdrängung des Geschehens für sie nicht mehr möglich war, war auch die Zeit für eine mögliche Korrektur der politischen Verhältnisse verpaßt. Wollte man nicht sein Leben riskieren, so war Widerstand nurmehr von außen, aus der Emigration möglich.






Und welche Folgerungen ergaben sich aus diesen Betrachtungen? – Einerseits: Die eigentliche Schuld der »Schuldigen« ist, objektiv gemessen, viel geringer, als die anderen, die Außenstehenden hinterher ihnen aufbürden. Andererseits: Die Auswirkungen auch kleinster Fehler, kleiner Versäumnisse und fauler Kompromisse sind aufgrund der enormen Verstärkungsmechanismen unserer Zeit weit größer, als wir selbst glauben. Unsere Devise muß also heißen: Wehret den Anfängen, bevor es zu spät ist, bevor die Eigendynamik des mächtigen Geschehens uns überrollt.






Dies gilt nicht nur im politischen Bereich. Beispiele dieser Art sind uns heute vielleicht aus der Ökologie geläufiger. So ist der Wald nur zu retten, wenn wir etwas unternehmen, bevor die Mehrzahl der Bäume für alle sichtbar erkrankt ist; den drohenden Klimawechsel können wir nur verhindern, wenn wir jetzt schon darauf achten, daß die Kohlendioxydkonzentration in der Atmosphäre nicht weiter steigt, der Ultraviolettschutzschild der Erde läßt sich nur bewahren, wenn wir jetzt schon das Ozonloch am Südpol am Wachsen hindern.






Die Probleme in ihrer Frühphase zu sehen und ihre potentielle Gefährlichkeit zu erkennen, verlangt verständige Einsicht und vorausschauende Sensibilität. Stumpfheit ist uns nicht mehr erlaubt. Mit jedem Versäumnis machen wir uns schuldig.






(...)









Aus: Naturwissenschaft und Wirklichkeit (Seite 29 f)






Was meint eigentlich ein Naturwissenschaftler, wenn er von Erkenntnis spricht, was ist die Art seines Wissens (...)? Wie steht das Wissen der „Wissenschafft“, und hier insbesondere der sogenannten „exakten Naturwissenschaften“ in Beziehung zur eigentlichen Wirklichkeit, zur ursprünglichen Welterfahrung, was immer wir darunter verstehen mögen?






Von der Beantwortung dieser Fragen wird es abhängen, welchen Beitrag naturwissenschaftliches Denken prinzipiell zu einem Gesamtverständnis unserer Wirklichkeit leisten kann. Dies sind erkenntnistheoretische Fragen, deren Beantwortung eigentlich einem Philosophen überlassen werden sollte. Die modernen Entwicklungen in den Naturwissenschaften, insbesondere die umwälzende Erkenntnis in der Physik zu Beginn unseres Jahrhunderts, die zur Formulierung der Quantenmechanik geführt haben, haben aber den Naturwissenschaftler geradezu in diese Fragestellung hineingedrängt. Er mußte zu seiner Überraschung feststellen, daß seine Kenntnisse von und sein Wissen über die von ihm abstrakt vorgestellte Wirklichkeit sehr viel mit den Methoden zusammenhängen, mit denen er die Natur erforscht.






Lassen Sie mich diese Beziehung zwischen den Erkenntnissen der Naturwissenschaft über die Wirklichkeit zur „eigentlichen“ Wirklichkeit mit einer einprägsamen Parabel beschreiben, die von dem berühmten englischen Astrophysiker Sir Arthur Eddington in seinem 1939 erschienenen Buch The Philosophy of Physical Science angeführt wird.






Eddington vergleicht in dieser Parabel den Naturwissenschaftler mit einem Ichthyologen, einem Fischkundigen, der das Leben im Meer erforschen will. Er wirft dazu sein Netz aus, zieht es an Land und prüft seinen Fang nach der gewohnten Art eines Wissenschaftlers. Nach vielen Fischzügen und gewissenhaften Überprüfungen gelangt er zur Entdeckung von zwei Grundgesetzen der Ichthyologie:






1. Alle Fische sind größer als fünf Zentimeter,



2. Alle Fische haben Kiemen.






Er nennt diese Aussagen Grundgesetze, da beide Aussagen sich ohne Ausnahme bei jedem Fang bestätigt hatten. Versuchsweise nimmt er deshalb an, daß diese Aussagen auch bei jedem künftigen Fang sich bestätigen, also wahr bleiben werden.






Ein kritischer Betrachter – wir wollen ihn einmal den Metaphysiker nennen – ist jedoch mit der Schlußfolgerung des Ichthyologen höchst unzufrieden und wendet energisch ein:






„Dein zweites Grundgesetz, daß alle Fische Kiemen haben, lasse ich als Gesetz gelten, aber dein erstes Grundgesetz, über die Mindestgröße der Fische, ist gar kein Gesetz. Es gibt im Meer sehr wohl Fische, die kleiner als fünf Zentimeter sind, aber diese kannst du mit deinem Netz einfach nicht fangen, da dein Netz eine Maschenweite von fünf Zentimetern hat!“






Unser Ichthyologe ist aber von diesem Einwand keineswegs beeindruckt und entgegnet: „Was ich mit meinem Netz nicht fangen kann, liegt prinzipiell außerhalb fischkundlichen Wissens, es bezieht sich auf kein Objekt der Art, wie es in der Ichthyologie als Objekt definiert ist. Für mich als Ichthyologen gilt: Was ich nicht fangen kann, ist kein Fisch.“






Soweit die Parabel. Sie läßt sich als Gleichnis für die Naturwissenschaft verwenden. Bei Anwendung dieses Gleichnisses auf die Naturwissenschaft entspricht dem Netz des Ichthyologen das gedankliche und methodische Rüstzeug und die Sinneswerkzeuge des Naturwissenschaftlers, die er benutzt, um seinen Fang zu machen, d. h. naturwissenschaftliches Wissen zu sammeln, dem Auswerfen und Einziehen des Netzes die naturwissenschaftliche Beobachtung.






Wir sehen sofort, daß dem Streit zwischen dem Ichthyologen und dem Metaphysiker kein eigentlicher Widerspruch zugrunde liegt, sondern dieser nur durch die verschiedenen Betrachtungsweisen der Kontrahenten verursacht wird. Der Metaphysiker geht von der Vorstellung aus, daß es im Meer eine objektive Fischwelt gibt, zu denen auch sehr kleine Fische gehören können. Vielleicht gibt es für ihn dafür auch gewisse Hinweise, wenn er etwa vom Ufer aus ins Wasser schaut. Aber er hat Schwierigkeiten, deren „Objektivität“ im Sinne des Ichthyologen zu beweisen, denn im Sprachgebrauch des Ichthyologen ist ein Objekt etwas, was er mit dem Netz fangen kann. Der Metaphysiker empfindet diese Bedingung der Fangbarkeit als unzulässige subjektive Einschränkung der für ihn objektiven Wirklichkeit und bestreitet dem Ichthyologen deshalb die Relevanz seiner Aussage.






Der Ichthyologe ist hier anderer Meinung. Es ist für ihn uninteressant, ob er mit seinem Fang eine Auswahl trifft oder nicht. Er bescheidet sich mit dem, was er fangen kann und hat deshalb gegenüber dem Metaphysiker den Vorteil, daß er nirgends vage Spekulationen anstellen muß. Die Schärfe seiner Aussagen beruht wesentlich auf dieser Selbstbescheidung. Seine Beschränkung auf das Fangbare erscheint darüber hinaus, vom praktischen Standpunkt aus, ohne große nachteilige Konsequenzen. Für die Fischesser ist das Wissen, das der Ichthyologe etabliert, völlig ausreichend, da ein nicht fangbarer Fisch für ihn uninteressant ist.






Ein zweiter Betrachter, den wir den Erkenntnistheoretiker nennen wollen, versucht im Streit des Ichthyologen und Metaphysikers zu vermitteln. Er stimmt dem Metaphysiker zu, daß das erste Grundgesetz des Ichthyologen über die Minimalgröße der Fische einen subjektiven Charakter hat, aber er geht nicht so weit, daß er diesem Grundgesetz deshalb seine Relevanz abspricht. Er weist den Ichthyologen aber darauf hin, daß er dieses Grundgesetz nicht nur auf dem langwierigen und mühsamen Umweg des wiederholten Fischfangs und Ausmessens der Fische entdecken kann, sondern viel unmittelbarer und überzeugender durch eine Messung der Maschenweite des Netzes. Dieser erkenntnistheoretische Zugang verschafft dem Gesetz absolute Gültigkeit. Dies entspricht der Kantschen Aussage, daß die grundlegenden allgemeinen Einsichten der Physik sich deshalb in der Erfahrung bewähren, weil sie notwendige Bedingungen für die Erfahrung aussprechen. Für das zweite Grundgesetz „Alle Fische haben Kiemen“ kann im Gegensatz dazu eine solch strenge Allgemeingültigkeit nie gefordert werden. Prinzipiell besteht hier immer die Möglichkeit, daß man durch Fischen in anderen Bereichen einmal auch einen Fisch ohne Kiemen zutage fördert. Dieses Gesetz gilt deshalb immer nur im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsaussage. Dies ist die Art von Erfahrung, wie sie uns von den Empiristen gepredigt wird.






Das Gleichnis unseres Ichthyologen ist selbstverständlich zu einfach, um die Stellung des Naturwissenschaftlers und seine Beziehung zur Wirklichkeit angemessen zu beschreiben. Aber das Gleichnis ist doch differenziert genug, um wenigstens die wesentlichen Merkmale einer solchen Beziehung zu charakterisieren. Die Naturwissenschaft handelt nicht von der eigentlichen Wirklichkeit, der ursprünglichen Welterfahrung oder allgemeiner: was dahinter steht!, sondern nur von einer bestimmten Projektion dieser Wirklichkeit, nämlich von dem Aspekt, den man, nach Maßgabe detaillierter Anleitungen in Experimentalhandbüchern, durch „gute“ Beobachtung herausfiltern kann. Dieser Aspekt der Wirklichkeit kann dann auch von jedermann, der sich an die gleichen Vorschriften hält, nachgeprüft werden. (...)


Siehe auch


Hans-Peter Dürr: Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad (1995)



Hans-Peter Dürr: Für eine zivile Gesellschaft (2000)



Hans-Peter Dürr / Marianne Österreicher: Wir erleben mehr als wir begreifen (2001)



Hans-Peter Dürr: Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen (2004)



Fernsehinterview im Bayerischen Rundfunk am 29.5.1998



Global Challenges Network e.V. – »Global denken – vernetzt handeln« – wurde 1987 von Prof. Dr. Hans-Peter Dürr gegründet. GCN sieht in der Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Gruppierungen eine notwendige Voraussetzung für lösungsorientiertes Handeln. Das heißt: Idealerweise arbeiten Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, Initiativen und engagierte Bürgerinnen und Bürger in ausgewählten Projekten interdisziplinär. Allen Projekten gemeinsam ist die Absicht, einen konkreten Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unserer Lebens(um)welt zu leisten.