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Hans-Peter Dürr
Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen

Die neue Beziehung zwischen Religion und Naturwissenschaften


Ausgewählte Vorträge, herausgegeben von Marianne Oesterreicher
Freiburg Basel Wien 2004 (Herder); 160 Seiten; ISBN 3-451-05486-8








Die klassischen Naturwissenschaften sind zu überwältigenden Einsichten in Strukturen unserer Welt vorgedrungen. Sie haben ein Erkenntnisideal in alle Gesellschaftsbereiche transportiert, das sich durch prinzipielle Begreifbarkeit und Eindeutigkeit auszeichnet. Dies hat u. a. dazu geführt, dass die meisten Zeitgenossen ihren inneren Erlebnissen und Evidenzen nicht mehr so richtig trauen und sie leicht als bloß subjektiv abwerten. Die Einsichten der Quantenphysik haben aber Einblicke in eine ganz andere als die klassische Erkenntniswelt eröffnet. Die Quantenphysiker sprechen über eine Wirklichkeit, die sich dem klassischen Entweder/oder-Denken entzieht und stattdessen als Sowohl/als-auch-Welt sichtbar wird. Außer in der Sprache der Mathematik kann über diese mikrophysikalischen Untergrundphänomene nur noch in Gleichnissen gesprochen werden. Hans-Peter Dürr, der sich seit 50 Jahren mit den Phänomenen der mikrophysikalischen Prozesse auseinandersetzt, vermittelt anschauliche Zugänge zu dieser Welt. Es gelingt ihm, auch bei wissenschaftlich Ungeübten so etwas wie Ergriffenheit hervorzurufen angesichts der kreativen Fülle der Wirklichkeit, und das zur Naturwissenschaft komplementäre Phänomen der Religion so in sein Denken einzubeziehen, dass deutlich wird, wie arm eine Gesellschaft ist, die glaubt, auf Religion verzichten zu können. Die Annäherung eines Naturwissenschaftlers an die Religion macht dieses Buch in unserer Zeit der Orientierungssuche wichtig und spannend.


Hans-Peter Dürr


geb. 1929, Promotion bei Edward Teller in Berkeley, Habilitation und apl. Professor an der Universität München, arbeitete am Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik in München 17 Jahre mit Werner Heisenberg an grundlegenden Problemen der Quantenphysik. Direktor am Max-Planck-Institut für Physik, Werner-Heisenberg-Institut, München (zeitweise Geschäftsführung). Unter seinen Auszeichnungen: Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis) 1987; Elise and Walter Haas International Award der University of California 1993. (Bekannter Namenskollege: Hans Peter Duerr, Ethnologe)


Inhaltsverzeichnis


Vorwort der Herausgeberin



1. Materie. Energie. Potenzialität



2. Leben



3. Kommunikation. Gesellschaft



4. Ahnung. Religion



5. Abschließendes Gespräch



Quellenhinweise


Leseprobe


Vorwort der Herausgeberin






Als im Laufe der Jahrhunderte Naturwissenschaft und Religion einander nicht mehr so feindlich gegenüberstanden, wie es seit Galilei für lange Zeit üblich war – in verschiedenen Varianten zwischen Kampf, Angst und Spott –, einigten sie sich allmählich auf gegenseitige Duldung. Die eine überließ der anderen unangefochten das Revier, in dem sie selbst nicht zuhause war. Religion wurde zur Privatsache, und die Naturwissenschaftler fanden sich mit dem Gedanken ab, für die Erkenntnis materieller Zusammenhänge zuständig zu sein, aber von allem, was mit Leben, Seele und Geist zu tun hat, eigentlich nichts zu verstehen.






Diese Form von Stillhalteabkommen funktionierte lange Zeit ziemlich gut und ist ja noch heute sehr populär.






Die „moderne Physik“ aber brachte Erkenntnisse, die eine nur ausschließende Grenzziehung zwischen Naturwissenschaft einerseits, Leben, Seele und Geist andererseits, nicht mehr so wie zuvor zuließen. Naturwissenschaft und Religion können seither als komplementäre, aufeinander bezogene Prinzipien gesehen werden. Man erkannte, dass „Materie“ nicht aus „Materie“ besteht, sondern letzten Endes aus „Beziehungsstrukturen“, die nicht „greifbar“ sind und die man deshalb auch „geistig“ nennen könnte. In dieser Situation muss der Physiker – neben der Mathematik – auch Metaphern verwenden, um sich verständlich zu machen, ja, eigentlich, um sich selbst zu verstehen. Und damit betritt er eine Ebene, auf der eine sprachliche Verständigung mit dem Teil der Menschheit (oder seiner selbst), dem Religion etwas bedeutet, nicht mehr ganz unmöglich erscheint. Angesichts eines alles verbindenden „Untergrundes“, der sich endgültigen Festlegungen entzieht, wird ihm klar, dass letzten Endes nicht nur die Religion, sondern auch die Wissenschaften, in Metaphern und Gleichnissen sprechen.






Hans-Peter Dürr hat sich 50 Jahre lang als theoretischer Physiker mit der Quantenphysik auseinandergesetzt. In seinen Vorträgen, insbesondere der vergangenen zehn Jahre, hat er es immer wieder unternommen, einer breiten Öffentlichkeit ein an den Erkenntnissen der modernen Physik orientiertes Weltbild nahe zu bringen.






Mit der Herausgabe von wesentlichen Teilen dieser Vorträge soll dem Wunsch vieler entsprochen werden, deren Hauptaspekte noch einmal im Rückblick, oder erstmals, zu lesen. Die Vorträge wurden für die Publikation in dem vorliegenden Band zum großen Teil gründlich überarbeitet und neu gefasst.






Darüber hinaus gab es noch einen weiteren Grund, dieses Buch zu machen. Wie Dürr mir erzählte, ergab sich bei diesen Vorträgen immer wieder die von ihm bedauerte Situation: Die Stichworte zur Beziehung des im Vortrag Dargestellten auf die Thematik Religion hatte er zwar auf einem „Zettel in der Hosentasche“, aber aus Zeitgründen kam er eigentlich regelmäßig nicht so richtig dazu, sie zu behandeln.






Das vierte und fünfte Kapitel dieses Buches sind deshalb ausdrücklich dieser Thematik gewidmet, das vierte in einer Zusammenschau gesammelter und für dieses Buch oft neu formulierter Textstellen. Im fünften Kapitel haben wir uns noch viel Zeit genommen, um in einem – zeitweilig auch Persönliches berührenden – Gespräch auf weitere Fragen dieses Zusammenhangs einzugehen.






Das erste Kapitel des Buches, das die quantenphysikalische Grundlage für die folgenden Kapitel darstellt, wurde um des einheitlichen Argumentationszusammenhanges willen als durchgehender Text konzipiert. Es besteht in seinem Grundgerüst aus einem 2001 im Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin gehaltenen Jubiläums-Vortrag und aus eingeschobenen Textstellen anderer Vorträge. Dieses Basismaterial wurde dann von Hans-Peter Dürr noch einmal gründlich überarbeitet. Auf diese Weise entstand ein reichhaltiger Text, der einerseits den tragfähigen Bezugsrahmen für die folgenden Kapitel abgibt, aber andererseits auch bereits in wesentlichen Punkten auf die Thematik der anderen Kapitel vorausweist.






Auch das zweite Kapitel, das sich mit der Anwendung quantenphysikalischer Erkenntnisse auf die Thematik Leben auseinandersetzt, basiert auf zahlreichen Textstellen verschiedener Vorträge. Es wurde ebenfalls vom Autor noch einmal überarbeitet und zu einem fortlaufenden Text ergänzt.






Das Kapitel drei, Kommunikation, Gesellschaft, enthält, wie das vierte, wesentliche Ausschnitte aus fünfzehn Vorträgen der Jahre 1995 bis 2003. Hier bot sich die Auswahl von Textabschnitten an, die sich jeweils gewissermaßen anekdotisch auf die Erörterungen der ersten beiden Kapitel beziehen. Sie wurden so angeordnet, dass sich gleichwohl ein gut lesbarer Textverlauf ergibt.






Der ökologischen Problematik wurde reichlich Raum gegeben, da diese für Hans-Peter Dürr untrennbar mit den Einsichten verbunden ist, die man traditionell „religiös“ nennt.






Die Thematik dieses Buches ist so komplex, dass mehrere Aussagen in verschiedenen Varianten wieder auftauchen. Autor und Herausgeberin sehen darin keinen Nachteil, da immer wieder neu beginnende „Rundgänge“ eine Vertiefung dieser umfassenden Gedankengänge leisten können.






(...)









1. Materie. Energie. Potenzialität






Auf den ersten Blick scheint es erstaunlich: Ein so tiefgreifender Umbruch in unserem Verständnis der Wirklichkeit, wie er durch die Mikrophysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgelöst wurde, ist auch heute, mehr als hundert Jahre nach den bahnbrechenden Arbeiten von Max Planck und etwas später von Albert Einstein, in unserer Gesellschaft und ihren Wissenschaften kaum philosophisch und erkenntnistheoretisch rezipiert, und auch im Bereich der Theologie nicht ausreichend wahrgenommen worden. Dies liegt nicht etwa an einem Versagen der neuen Vorstellung: Die Quantenphysik, welche diese neue Entwicklung auslöste, hat in den letzten fast 80 Jahren seit ihrer Ausdeutung durch Niels Bohr und Werner Heisenberg einen beispiellosen Triumphzug durch alle Gebiete der Physik angetreten und sich bis zum heutigen Tage unangefochten bewährt. Sie hat in der Folge ungeahnte technische Entwicklungen angestoßen, die unserem Zeitalter, zum Guten oder Schlechten, deutlich ihren Stempel aufgedrückt haben. Was wären die moderne Chemie und die heute allgegenwärtigen Kommunikations- und Informationstechnologien ohne die auf der Quantenphysik basierende Atom- und Molekültheorie bzw. die Mikroelektronik und Halbleitertechnik? Wie anders sähe unsere Welt heute aus ohne die in verschiedener Weise bedrohliche Nukleartechnik mit Kernwaffen und Kernreaktoren, die letztlich auf diese neuen Einsichten zurückgeht? Wie also ist zu verstehen, dass alle diese vielfältigen, überraschenden und gewaltigen Konsequenzen wissenschaftlich und gesellschaftlich akzeptiert wurden, ohne dass gleichzeitig auch die in hohem Maße überraschenden Vorstellungen mit übernommen wurden, aus denen die neue Physik im Grunde erst verständlich wird?






Dies hat viele Ursachen. Allen voran: Der Bruch in unseren Anschauungen, zu dem die neue Physik auffordert, ist tief. Er kann nicht einfach als ein Paradigmenwechsel im Sinne von Thomas Kuhn in seinem Buch ‚Structures of Scientific Revolutions‘ interpretiert werden. Deutet diese Physik doch darauf hin, dass die Wirklichkeit, was immer wir darunter verstehen, im Grunde nicht mehr „ontisch“ in traditioneller Weise interpretiert werden kann. Die Frage: Was ist, was existiert? verliert ihren Sinn. Wirklichkeit ist keine Realität mehr in der ursprünglichen Bedeutung (lat. res = Ding) einer dinghaften Wirklichkeit. Wirklichkeit offenbart sich primär nur mehr als Potenzialität, als ein noch nicht aufgebrochenes, gewissermaßen unentschiedenes „Sowohl/Als-auch“, nur als Kann-Möglichkeit für die uns vertraute Realität, die sich in objekthaften und der Logik des „Entweder/Oder“ unterworfenen Erscheinungsformen ausprägen kann. Potenzialität erscheint als das Eine – oder besser: als das Nicht-Zweihafte – das sich nicht auftrennen, sich nicht mehr zerlegen lässt. Auf dem Hintergrund unserer gewohnten, durch das klassisch-physikalische Weltbild entscheidend geprägten Vorstellungen klingt dies paradox und eigentlich unannehmbar, da wir prinzipiell immer eine klare Entscheidung, „ja oder nein“ (tertium non datur), erwarten. Der Weg zu den neuen Vorstellungen war dementsprechend äußerst mühsam und schmerzhaft. Die Entdecker der neuen Physik, der Quantenmechanik, Planck und Einstein, die dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, waren nicht bereit, diesen Weg konsequent zu Ende zu gehen. Obgleich sie die Unausweichlichkeit der Schlussfolgerungen anerkannten, hofften sie bis zuletzt auf einen konventionellen Ausweg. Es war den jüngsten unter den damaligen Physikern: Werner Heisenberg, Paul Dirac, Wolfgang Pauli und anderen unter ihrem verehrten Kopenhagener Lehrer Niels Bohr vorbehalten, die neue Einsicht in eine konsistente und, in einem gewissen Sinne, überzeugende Gestalt zu bringen. Doch genau betrachtet haben nur wenige die von ihnen entworfene „Kopenhagener Interpretation“ der Quantenmechanik zum Anlass genommen, ihre Wirklichkeitsvorstellung letztlich zu revidieren. Und dies nicht in einem Akt bewusster Verweigerung, sondern mehr im Sinne einer unbewussten Verdrängung des so Unvorstellbaren, „weil nicht sein kann, was nicht sein darf“.






Dieser Wunsch war und ist verständlich. Dies insbesondere auf dem Hintergrund unserer westlichen Zivilisation, die so stark auf individuell schöpferisches Wirken, auf Veränderung, Handeln, Machterwerb und Machterweiterung ausgerichtet ist und zu deren Grundverständnis es deshalb gehört, sich die Wirklichkeit als objekthafte Realität vorzustellen, um sie in dieser materiell geronnenen und räumlich auftrennbaren Form in den Griff bekommen und zum eigenen Nutzen manipulieren zu können. Durch eine pragmatische, positivistische Einstellung, die vorgibt, auf jegliche „Ideologie" verzichten zu wollen und zu können – wobei in diesem Zusammenhang unter „Ideologie" gerne alles subsummiert wird, was über das direkt Greifbare und quantitativ Messbare hinaus geht – wird intellektuell der Weg geebnet, die wesentlichen philosophischen Aussagen der Quantenphysik zu ignorieren, ohne dabei auf ihre praktischen Folgerungen verzichten zu müssen. Zudem war man ja glücklicherweise in der gewohnten Lebenswelt, dem von uns direkt wahrgenommenen Mesokosmos, um mehrere Größenordungen von jenem Mikrokosmos entfernt, wo sich die Quantenmechanik den forschenden Physikern so unwiderstehlich aufdrängte. Die dadurch nur mögliche vergröberte Wahrnehmung schien diese Paradoxien erfolgreich zu übertünchen. Darüber hinaus sorgten die historisch bedingten, defensiv gewählten Begriffe, welche die neue Physik charakterisieren, wie etwa „Quantenmechanik“, „Unschärferelationen“ u.ä. dafür, die wesentlichen Neuheiten zu relativieren und zu verschleiern.






So entsprang der Begriff des „Quantums“ ja einer Untersuchung der Eigenschaften des Lichtes, das durch die berühmten Arbeiten von Faraday und Maxwell bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eindeutig und eindrucksvoll als Wellenphänomen eines elektromagnetischen Feldes entlarvt worden war. Auf Grund der Planckschen Entdeckung und der Einsteinschen Interpretation des photoelektrischen Effektes sollte nun aber dieses Licht doch auf einmal wieder, wie vormals bei Newton, teilchenartige, „gequantelte“ Eigenschaften haben. Diese Feststellung erschien wegen der offensichtlichen Wellennatur des Lichts zunächst völlig unverständlich. Und so war vielleicht doch auch eine gewisse Erleichterung spürbar, dass diesem unbegreiflichen, sich über Raum und Zeit unendlich ausbreitenden Phänomen eines elektromagnetischen Maxwell-Feldes, das nach Einstein sogar jeglichen materiellen Trägers (Äther) entbehrte, nun wieder eine lokal begrenzte und damit „greifbare“, dingliche, also reale Grundlage in Form von teilchenartigen Photonen zugeordnet werden konnte.






Der zweite Schritt der Quantenmechanik war deshalb umso erstaunlicher und brachte eigentlich erst die Grundfesten der Physik ins Wanken: Das war die Entdeckung Louis de Broglies, dass sich das im eigentlichen Sinne Materielle, wie es durch die Bausteine der Materie, die Atome und ihre Konstituenten, verkörpert war, nun umgekehrt in diese so unbegreifliche Welt des Ausgedehnten, Wellenförmigen verflüchtigte. Es zeigte sich also, dass sowohl Licht als auch Materie eine vom klassischen Standpunkt aus unverträgliche „Teilchen-Welle-Doppelnatur“ besitzen.






Licht als elektromagnetische Welle, und auch ein Elektron als Elementarteilchen in der ursprünglichen Auffassung, sind also ganz merkwürdige Zwittergebilde. Sie sind einerseits etwas, das sich lokal greifen lässt – dann nennen wir sie Teilchen (was bei den Photonen nicht so gut klappt, weil sie nur in Bewegung mit Lichtgeschwindigkeit diesen Charakter besitzen, sie existieren in Ruhe nicht) – aber sie verhalten sich andererseits auch wie Wellen, die grenzenlos ausgebreitet sind und Interferenzeigenschaften zeigen. Hatten wir angenommen, Licht sei eine Welle und ein Elektron ein Teilchen, so können nun beide sowohl als Teilchen wie auch als Welle in Erscheinung treten: Photon oder elektromagnetische Welle das eine und Elektron und Elektronenwelle, wie in der Beschreibung von Schrödinger, das andere. Die beiden konkurrierenden Beschreibungen „Teilchen-Welle“ sind klassisch-physikalisch unverträglich: das eine örtlich eingegrenzt und das andere über den ganzen Raum ausgedehnt. Da ist also etwas im Hintergrund, was weder Teilchen noch Welle ist und in gewisser Weise beides zugleich, was wir nicht konstruieren, uns also auch durch geschicktes Zusammendenken dieser beiden Erscheinungsformen nicht veranschaulichen können. Der Zwitter ist außerhalb unserer Vorstellungsgabe.






Genau betrachtet gerate auch ich, als Beobachter, in dieses Dilemma. Denn die neue Beziehungsstruktur verhindert, dass ich mich als Beobachter ganz aus der äußeren, beobachteten Welt herausziehe, weil ich mich nach der neuen Auffassung unabtrennbar in dieser befinde. Es gibt streng genommen nicht mehr das vielteilige materiell-energetische Universum, sondern nur den einen Kosmos, der durch Beziehungsstrukturen charakterisiert ist. Aus ihm kann ich mich nicht mehr einfach herauslösen und sagen: Ich bin außerhalb.






Der scheinbare Widerspruch zwischen dem Teilchen- und dem Wellenbild wurde von Heisenberg mit der Formulierung seiner Unschärfe-Relationen (Unbestimmtheitsbeziehungen) in gewisser Weise „aufgeklärt“, aber nur durch den für viele nicht annehmbaren Preis, eben einer prinzipiellen Unschärfe. Diese „Un“-Definition suggerierte begrifflich für viele einen Mangel, der in den Augen eines Wissenschaftlers in einer Wissenschaft, die sich als „exakt“ charakterisiert, bestenfalls nur für ein Übergangsstadium zulässig sein kann und letztlich beseitigt werden muss. Es zeigt sich aber, dass die Situation hier anders betrachtet werden muss. Die Bezeichnung „Unschärfe“ im Falle der Quantenmechanik macht nämlich nicht genügend deutlich, dass hierbei mit Unschärfe nicht ein Mangel betont werden soll, sondern im Gegenteil dies die Folge eines viel innigeren Zusammenhangs zwischen dem räumlich Gegenwärtigen ist, bei dem in umfassenderer und intimerer Weise „alles mit allem“ zusammenhängt, und dies auf einer Zusammengehörigkeit und nicht auf Wechselwirkung beruht. Die „Unschärfe“ ist Ausdruck einer holistischen, einer ganzheitlichen Struktur der Wirklichkeit. Dies ist für uns unmittelbar einsichtig: Jede Beziehung führt notwendig zu einer Einbuße an Isolation, wobei Isolation wiederum erst Schärfe im Sinne des Exakten ermöglicht. Wir erfahren diese Komplementarität in unserem täglichen Leben, wenn wir versuchen, eine Konzentration oder Fokussierung auf ein Detail gleichzeitig mit der Wahrnehmung von Beziehung und Gestalt in Einklang zu bringen. Gerade beim Lebendigen wird überdeutlich, dass das Ganze in einem sehr komplexen Sinne mehr ist als die Summe seiner Teile.






Diese Betrachtung zeigt uns: Die Wirklichkeit, die wir unmittelbar leben und erleben, offenbart sich viel reicher als die Erfahrung, die wir rational zu erfassen und wissenschaftlich zu erkennen versuchen. Dies ist für Menschen, die mystische oder religiöse Erfahrungen gemacht haben, offensichtlich. Aber dies gilt auch viel allgemeiner, wenn wir an die vielfältigen Erfahrungen denken, die uns Kunst in allen ihren Formen vermitteln kann. Wir werden uns dessen noch intimer und umfassender bewusst, wenn uns das so schwer Greifbare als Betroffene unmittelbar anrührt, was wir dann etwa mit Worten wie Liebe, Treue, Vertrauen, Geborgenheit, Hoffnung, Schönheit symbolisieren.






(...)









Aus: Abschließendes Gespräch (Seite 150 ff)






Man könnte beim Lesen Ihrer Texte vielleicht den Eindruck gewinnen, dass zwar die Aussagen aller Wissenschaften Gleichnisse, und damit auch anders formulierbar sind, nicht aber die Aussagen der Quantenphysik, die so erscheinen, als seien sie letztgültig formuliert. Aber sie sind ja wohl auch nur Gleichnisse. Also könnte man über Potenzialität zum Beispiel auch noch ganz anders sprechen, als die Quantenphysik es tut? Lassen Sie diese Möglichkeit offen?






Die ist offen gelassen. Die Quantentheorie ist jedoch eine offene Theorie, d. h., sie versucht gar nicht den Abschluss. Wir behaupten gerade nicht die Geschlossenheit. Viele sagen: Wie kannst du damit leben? Das geht sehr gut, denn dies ist ja eigentlich Leben.






Kann man zum Beispiel über Potenzialität auch noch anders reden als die Wissenschaftler es heute tun?






Das Wort Potenzialität ist ein Joker. Die Karte kann für alles stehen. Potenzialität sagt nur, dass wir in einer Wirklichkeit sind, die das Kann-Potenzial hat, sich materiell und energetisch zu manifestieren. Es ist die Eigenschaft von etwas Offenem. Aber es ist nicht gänzlich offen. Wir können immer noch die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen voraussagen, aber nicht das Ereignis selber. Wenn ich aber in Instabilitäten bin, können wir, so die Hypothese, nicht einmal mehr die Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Dann gibt es einen Raum, wo echte Kreativität entstehen kann. Also: Wir lassen die Möglichkeit offen, über Potenzialität auch noch anders zu reden. Und es stört uns nicht!






Ich sage: Das Lebende wird lebendiger! Diese Vorstellung ist vielleicht falsch. Ja, sie kann total falsch sein. Ich habe das mir zurecht gelegt. Wenn ich diese ganze gewaltige und differenzierte Dynamik der Wirklichkeit betrachte, mache ich mir meine eigenen Gedanken darüber, warum das so passiert. Alle Kulturen haben versucht, darauf Antworten zu finden. Warum ist das in sich geschlossene Ganze nicht mit sich selbst zufrieden und drängt nach einer Außendarstellung, die unsere Welt ist? Ist es der Wunsch des Göttlichen, sich selbst im Spiegel zu sehen, um sich seiner gelebten Schönheit auch wirklich bewusst zu werden? Wie wir das auch immer ausdrücken wollen, für mich bedeutet dies einen ständigen Prozess, bei dem, was ahnend als Potenzialität intim verflochten ineinander wirkt, nun gewissermaßen in ein Nebeneinander unendlich aufgefächert und ausgebreitet in ein vielfältiges, filigranes Miteinander verwandelt wird. Warum? Ja, warum? Das weiß ich auch nicht. Die Kreativität schafft einerseits dauernd neue Freiheitsgrade für mögliche Gestalten, die andererseits in deren Wechselspiel laufend materiell-energetisch verkrusten und das sichtbare expandierende Universum mit seinen unzähligen Sonnen und Sonnensystemen bilden.






Das soll kein ernster Vorschlag sein für eine neue Kosmogonie. Ich meine nur: Solch eine dynamische, durch ständige Kreativität angetriebene und sich öffnende Welt erscheint mir viel sympathischer als eine durch Regelmäßigkeiten ausgezeichnete Welt, die ihre Kreativität und Lebendigkeit in einem einzigen Urknall ganz am Anfang verpuffen lässt.






Die von Ihnen an verschiedenen Stellen vertretene Vorstellung, dass das wissenschaftliche Wissen seine Grenzen hat, und dass es deshalb dem Glauben nicht dreinreden kann, der „Räume“ kennt, die nur ihm zugänglich sind – ist an sich geläufig. Aus dieser Vorstellung erwuchs ja gerade die heute so weit verbreitete Trennung von Glauben und Wissen, die den Glauben zur völligen Privatsache macht. Aber im Grunde vertreten Sie doch eigentlich die Auffassung, dass die moderne Physik mehr leistet, dass sie Brücken von Plausibilitäten zu einer zeitgemäßen Religiosität gebaut hat. Das von der modernen Physik inspirierte Weltbild beschränkt sich doch nicht auf die Aufforderung: Seid tolerant!?






Nein, das ist richtig. Das Wort „tolerant“ bringt sozusagen die Haltung zum Ausdruck: „Großzügig, wie ich bin, lebe ich wohlwollend mit deiner Ignoranz! Lass doch jeden nach seiner Fasson selig werden, es macht mir auch nichts aus, wenn du mich nicht verstehst, ich weiß es einfach besser und ich bin eben so großzügig und lasse das so stehen.“






So sind ja auch viele Naturwissenschaftler.






Ja. Aber ich sehe das anders. Im Glauben sprechen wir etwas an, das ich von verschiedenen Seiten ansehen kann und das dann in meiner Vorstellung zu verschiedenen Bildern führt. Und meine Schlussfolgerung ist: Alle diese Bilder enthalten ein Körnchen Wahrheit. Das heißt: Sie versuchen, etwas zu vervollständigen, was sie nicht sehen. In dem Sinne sind sie Gleichnisse. Ich toleriere deshalb die anderen Religionen nicht nur, sondern sehe sie auch daraufhin an, ob ich selbst unter Umständen zu einfältig bin. Eventuell erlebe ich dann: Sieh an, das sieht der so, das habe ich so noch nie gedacht, weil in meinem Leben ein anderer Hintergrund wichtiger war. Indem ich verschiedene Gleichnisse verwende, werden meine Vorstellungen von der Wirklichkeit reicher. In ihrer Gesamtheit deuten diese Gleichnisse noch umfassender auf das, was sich dahinter verbirgt, was sie letztlich alle meinen.






Sie sind also eigentlich neugierig auf Religionen. Sie sind nicht ein gönnerhafter Naturwissenschaftler, der die Religionen halt auch leben lässt.






Ich unterscheide schon Oberflächlichkeit und Tiefe. Wenn ich Leute treffe, die sehr tiefsinnig sind, dann nehme ich, was sie sagen, ungeheuer ernst, auch wenn ich es zunächst kaum verstehe. Ich finde das wunderbar, denn es wird mein Weltbild erweitern. So entsteht durch das Zusammenführen der Menschen etwas, das wieder ein Niveau höher in der Evolution angesiedelt ist.






(...)


Siehe auch


Hans-Peter Dürr: Das Netz des Physikers (1988)



Hans-Peter Dürr: Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad (1995)



Hans-Peter Dürr: Für eine zivile Gesellschaft (2000)



Hans-Peter Dürr / Marianne Österreicher: Wir erleben mehr als wir begreifen (2001)



Dürr, Meyer-Abich, Mutschler, Pannenberg, Wuketits: Gott, der Mensch und die Wissenschaft – Gespräche 1997



Fernsehinterview im Bayerischen Rundfunk am 29.5.1998



Global Challenges Network e.V. – »Global denken – vernetzt handeln« – wurde 1987 von Prof. Dr. Hans-Peter Dürr gegründet. GCN sieht in der Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Gruppierungen eine notwendige Voraussetzung für lösungsorientiertes Handeln. Das heißt: Idealerweise arbeiten Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, Initiativen und engagierte Bürgerinnen und Bürger in ausgewählten Projekten interdisziplinär. Allen Projekten gemeinsam ist die Absicht, einen konkreten Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unserer Lebens(um)welt zu leisten.