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Hans-Peter Dürr
Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad

Bedeutung und Gestaltung eines ökologischen Lebensstils


Ausgewählte Vorträge, herausgegeben von Matthias Braeunig
Freiburg Basel Wien 1995 (Herder); 172 Seiten; ISBN 3-451-04340-8








Ökologie und Ökonomie müssen jetzt in einer neuen Politik zusammengebracht werden, wenn wir uns der Ganzheit von Mensch und Umwelt stellen wollen. Hans-Peter Dürr formuliert die Kriterien für Bedeutung und Gestaltung einer ökologischen Lebensweise. Als „Grenzgänger“ plädiert er nicht nur für eine neue Ethik in den Naturwissenschaften, sondern greift Themen auf, die unsere globale Situation in einem veränderten Licht erscheinen lassen. Seine Überzeugung: Die drängenden Probleme unserer Zeit sind nicht unlösbar, die Zukunft ist prinzipiell offen. Die fundamentalen Bezüge zur natürlichen Umwelt sind zu heilen und zu wahren, wenn wir uns als umfassend verantwortliche Wesen erweisen. Aus seinem tiefen naturwissenschaftlichen Verständnis ergibt sich eine erstaunliche Nähe zu den Werten der überlieferten Traditionen. Schlüssel ist die Abkehr von der mechanistischen Sicht einer inhärent-objektiven Wirklichkeit. Konsequenz: ein Bewußtseinswandel, der den Herausforderungen der zusammengerückten Welt angemessen ist. Eine realistische Vision für eine nachhaltige Entwicklung und das Zusammenleben aller Lebensformen auf der Erde.


Hans-Peter Dürr


geb. 1929, Promotion bei Edward Teller in Berkeley, Habilitation und apl. Professor an der Universität München, arbeitete am Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik in München 17 Jahre mit Werner Heisenberg an grundlegenden Problemen der Quantenphysik. Direktor am Max-Planck-Institut für Physik, Werner-Heisenberg-Institut, München (zeitweise Geschäftsführung). Unter seinen Auszeichnungen: Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis) 1987; Elise and Walter Haas International Award der University of California 1993. (Bekannter Namenskollege: Hans Peter Duerr, Ethnologe)


Inhaltsverzeichnis


Vorwort (von Matthias Braeunig)






Die Verantwortung naturwissenschaftlichen Erkennens






Mensch und Natur –
Die Partnerschaft mit der Umwelt






Ökologische Herausforderung der Ökonomie –
Eine naturwissenschaftliche Betrachtung






Naturwissenschaft und Poesie –
Begreifen und Spiegeln der Wirklichkeit






Sicherheitspolitik im Spannungsfeld von Ökologie und Ökonomie






Die 1,5-Kilowatt-Gesellschaft –
Intelligente Energienutzung als Schlüssel zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaftsweise






Bibliographische Nachweise
Der Herausgeber


Leseprobe


Mensch und Natur – Die Partnerschaft mit der Umwelt






Ich habe den Eindruck, daß dieses Thema sehr viel zu tun hat mit der Frage der Beziehung von Mensch und Natur oder von Kultur und Natur. Traditionell machen wir ja da einen großen Unterschied. Die Natur ist irgendwo da draußen, am besten dort erhalten, wo der Mensch noch nicht eingegriffen hat. Der Mensch im Gegensatz dazu ist ganz anders: Er hat geistige, moralische, emotionale Fähigkeiten, mit denen er absichtsvoll handeln, schöpferisch in die Gestaltung dieses Weltgeschehens eingreifen kann. Er ist nicht nur die „Krone“ der Schöpfung, sondern das, was wir eigentlich immer gern betonen, auch der „Herr und Meister“ dieser Schöpfung, Ebenbild Gottes; und es ist dieses Auseinanderklaffen – auf der einen Seite die Natur, die relativ willenlos ist, die strengen Naturgesetzen unterworfen ist, die sich also in dem Sinne ganz sklavisch verhalten muß, und auf der anderen Seite eben dieser Mensch, der diese schöpferischen Fähigkeiten, Gestaltungsmöglichkeiten hat –, das uns hier in einen großen Konflikt gebracht hat.






Die Naturwissenschaft hat ja ganz wesentlich dazu beigetragen zu suggerieren, daß der Mensch wirklich Herr und Meister dieses Geschehens ist. Mit der modernen Naturwissenschaft haben wir den Eindruck gewonnen, daß wir, wenn wir die Naturgesetze verstehen und uns genügend bemühen, auch die Natur mehr oder weniger in den Griff bekommen können. Das heißt, wir haben bei der Beziehung Mensch-Natur eher die Vorstellung einer Hierarchie von Herr und Diener, Herr und Sklave, aber nicht in dem Sinne, daß der Herr die Natur ist und wir der Sklave, sondern umgekehrt, daß wir als Menschen eigentlich angeben, in welcher Richtung alles geht.






„Partnerschaftliche Verantwortung für die Umwelt“ kann man dagegen so auffassen, daß wir als Menschen partnerschaftlich zusammenhelfen müssen, damit wir eine vernünftige Beziehung zur Umwelt haben. Aber könnte hier nicht auch die partnerschaftliche Beziehung zwischen Mensch und Natur gemeint sein? Dann möchte ich sagen, das ist ein bißchen arg gönnerhaft, wenn wir sagen, gut, das ist die Natur, bisher war sie mein Sklave, jetzt will ich ihr sozusagen den Status geben, daß sie auf menschliches Niveau angehoben wird. Ich würde eigentlich darüber hinausgehen, daß das doch ein bißchen anders gesehen werden muß. Wir sind Teil der Natur, und wir sind nur ein kleiner Teil der Natur. Wir spielen unseres Erachtens eine große Rolle. Vielleicht ist es richtig, daß wir in gewisser Weise das am weitesten entwickelte System sind in dieser Natur, die wir in einem umfassenderen Sinne als üblich verstehen müssen. Ich möchte deshalb mein Thema in dem Sinne interpretieren, daß ich über die Frage unseres Einvernehmens mit der Natur sprechen will, menschlicher Aktivitäten im Einvernehmen mit der Natur.






Wie ich schon sagte, ist vom naturwissenschaftlichen Standpunkt die Natur ja etwas viel größeres. Es ist nicht die Natur da draußen, die etwas romantisch verbrämt ist, sondern viel mehr, auch etwa das Innere der Sonne oder eine Supernova. Das ist für uns alles Natur. Das heißt, es braucht in der Natur schon gar nicht so idyllisch zugehen. Der Mensch ist ein Teil dieser umfassenden Natur. Und da stocke ich schon etwas, weil die moderne Naturwissenschaft uns eigentlich sagt, daß die Vorstellung, daß die Wirklichkeit als die Summe von Teilen gedacht werden kann, eigentlich gar nicht richtig ist. Aufgrund unserer neuen Einsicht ist die Wirklichkeit eine Einheit. Doch es gibt näherungsweise eine Möglichkeit, sie so anzusehen, als ob sie aus mehreren Teilen bestehe, wovon wir dann ein Teil sind. Es ist gewissermaßen nur eine Sprechweise, die eigentlich in strengem Sinne nicht gilt. Die Natur ist sehr komplex, sagen wir, womit man die Verflochtenheit der Natur unter sich ausdrückt. Ich verwende hier „komplex“ in einem anderen Sinne als nur kompliziert. Kompliziert ist, sagen wir mal, ein Wollknäuel. Wenn ich einmal den Anfang gefunden habe, dann ist es ganz einfach aufzudröseln, weil es nur ein einzelner Faden ist. Aber wenn dieses Wollknäuel verfilzt ist, dann ist es komplex. Wenn ich es abspulen will, muß ich immer wieder kleine Fäden durchschneiden, damit ich es auseinanderfieseln kann. Die Wirklichkeit hat vielmehr die Struktur dieser äußerst vielfältigen Verfilzung. Wenn ich sie deshalb reduzieren will, auf einfache Bilder bringen will, dann muß ich immer wieder durchschneiden. Gewöhnlich sagen wir, das macht nichts aus, das ist nur ganz wenig, aber das gilt nicht immer, auch darin hat sich ja unsere Vorstellung geändert. Auch kleine Veränderungen können das System tiefgreifend verändern, und wir müssen achtgeben, zu sagen, es mache nichts aus.






Die Naturgesetzlichkeit, wie wir sie früher verstanden haben, das heißt vor dem Paradigmenwechsel am Anfang dieses Jahrhunderts, war gekennzeichnet durch die Feststellung, daß die Natur eine eigentümliche zeitliche Schichtung hat. Mir fällt dazu eigentlich immer so ein Kartendeck ein. Die Wirklichkeit, wie sie vor uns ist, entspricht sozusagen solch einem Stoß von Spielkarten mit einem eingeprägten Mechanismus, daß in jedem Augenblick eine neue Karte aufgedeckt wird, so daß ich mehr sehe. Die Vorstellung ist also, daß im Prinzip alles, was in Zukunft passiert, in dem Kartenstoß schon steckt. Das heißt, ein zukünftiges Ereignis existiert als Tatsache schon, aber ich kenne sie noch nicht. Das ist die alte Auffassung. Die ganze Beschreibung der Naturwissenschaft, Wissenschaft überhaupt, hat mit dieser Vorstellung des halbverdeckten Kartenstoßes zu tun. Ich frage mich also, ob es unter diesen Umständen eine Möglichkeit gibt, wenn ich die letzte Karte kenne, herauszubekommen, wie die noch verdeckte Karte darunter aussieht. Es könnte ja sein, daß die Karten in diesem Stoß geordnet sind, so daß ich schließen kann, wie die nächste Karte aussieht und auf die Karten, die kommen. Eine solche Ordnung entspricht der Naturgesetzlichkeit, wie man sie sich früher vorgestellt hat.






Nach moderner Vorstellung gilt dies nicht mehr. Die Zukunft existiert in dem Sinne noch gar nicht. Es gibt also keinen Stoß verdeckter Karten. Zukunft ist nicht eine nicht gewußte Realität, sondern sie hat sich überhaupt noch nicht gebildet. Zukunft existiert nur als Möglichkeit, als Potentialität. In jedem Augenblick gerinnt diese Potentialität, diese Möglichkeit zu Fakten und realisiert sich auf eine bestimmte Art und Weise. Das ist in gewisser Weise dann auch interessant in Hinblick auf das, was Sie vorher gehört haben: Wenn wir von einem Irrtum sprechen, dann gehen wir ja immer von der Vorstellung aus, es liege schon fest, wie es eigentlich gehen müßte und Irrtum ist eine Abweichung davon. Nein, die Zukunft ist offen, die Schöpfung ist überhaupt nicht abgeschlossen. In jedem Augenblick wird diese Welt neu geschaffen. Es gibt auch nicht so etwas wie einen Gegenstand, ein Teilchen, das mit sich selbst in der Zeit identisch ist, das ist nur eine Fiktion. Die moderne Physik zeigt uns das.






Dieser Zusammenhang, den wir entdeckt haben bei der Erforschung des Mikrokosmos, der schlägt aber nicht in den Makrokosmos durch. Also in gewisser Weise ist die Wirklichkeit am unteren Niveau viel lebendiger, als wir uns das vorstellen. Die Materie hat mit Materie gar nichts mehr zu tun, sie ist viel mehr mit dem gemein, was wir eigentlich lebendig nennen. Nur wenn dieses lebendige Ameisenzeug sich sozusagen in großer Menge häuft, dann erscheint es uns wie ein großer unbeweglicher Ameisenhaufen, so als ob hier etwas statisches da wäre. Der Stuhl steht da, das Mikrofon steht da, so als ob sich gar nichts änderte. Das heißt, durch einen Ausmittelungsprozeß kommen die Dinge zustande, die wir dann Realität, dingliche Wirklichkeit nennen. Aber darunter ist alles quicklebendig.






Die Frage ist allerdings, wieso uns das eigentlich kümmem soll, wenn uns die Atomphysiker sagen, daß eigentlich diese Lebendigkeit da ist, wenn im „Mesokosmos“, in unserer Lebenswelt, der bei größeren Dimensionen angesiedelt ist, sozusagen alles ausgemittelt ist. Aber nun ist der Punkt der: Diese Ausmittelung passiert nicht immer, sondern es gibt Situationen, in denen man zeigen kann, daß diese Fluktuation, die da unten ist, auch in unsere makroskopische Welt emporgehoben wird. Ich brauche für eine Demonstration hierfür gar kein kompliziertes System. Ich habe hier zum Beispiel einen Apparat mitgebracht, mit dem ich Ihnen zeigen will, daß die Natur ganz anders zusammengeschraubt ist, als wir uns das vorstellen mit der üblichen Mechanik. Ich habe hier ein Pendel, und das kennen Sie alle. Ich kann das theoretisch, mathematisch beschreiben, wie es sich bewegt, wie das schwingt. Dieses Pendel ist ein physikalisches Pendel, was die Eigenschaft hat, daß es nämlich bei diesem einen einzigen Punkt gibt – nämlich wenn es in diese obere Stellung kommt –, in dem eine winzig kleine Fluktuation entscheidet, ob es auf die eine oder andere Seite fällt. Das heißt, es hat einen Instabilitätspunkt.






Dieses verschraubte System hat also schon eine winzige Lebendigkeit, die hier nur an einem einzigen Punkt zum Ausdruck kommt, in dem Sinne nämlich, daß ein einzelnes Atom die Bewegung entscheidet, ob es links oder rechts herunter fällt. Um diese Lebendigkeit aber jetzt für Sie deutlicher zu machen, mache ich nun dieses Pendel lebendiger: Es ist nämlich eigentlich ein Dreifach-Pendel. Ich nehme diese beiden Arretierungen heraus, und damit habe ich drei Pendel, die nicht mehr miteinander starr verbunden sind, ein sogenanntes Triplependel. Dieses Pendel hat nun sehr viel mehr Instabilitätspunkte. Die Bewegungsart dieses Pendels läßt sich physikalisch nicht mehr prognostizieren, obwohl es so ein einfaches System ist. Ich werde es einmal anwerfen, und Sie werden mit Erstaunen seine erratischen Bewegungsformen beobachten. Ich kann nicht prophezeien, wie es sich bewegen wird. Diese Bewegungsform ist vollkommen chaotisch, wie man sagt. Es ist das einfachste Beispiel für ein sogenanntes chaotisches System. Sie sehen also, chaotische Systeme brauchen nicht Dinge sein, die sehr kompliziert sein müssen. Sie sind aber bessere Beispiele für das Lebendige. Wir als lebendige Wesen sind nicht fest verschraubt, wir haben jetzt nicht nur drei Pendel, sondern wir haben in uns tausende von ineinander gekoppelten Pendeln, und deshalb verhalten wir uns so wenig prognostizierbar. Das ist Lebendigkeit! Auf diese Weise kann man die Lebendigkeit, die an sich der Materie zugrunde liegt, sozusagen an die Oberfläche befördern. Das ist also das Beispiel für ein mechanisches System, das nicht prognostizierbar ist. Biologische, gesellschaftliche, ökonomische Systeme verhalten sich mehr wie dieses System.






Ich will Ihnen ein anderes Beispiel geben: Wir haben alle in der Schule das sogenannte Fallgesetz kennengelernt. Wenn ich einen Gegenstand fallen lasse, dann fällt er auf eine ganz bestimmte Weise herunter. Galilei sagt uns, unabhängig von Material und Form fällt alles gleich schnell. Stimmt auch. Und nachdem man das nun wirklich gelernt hat, sagt man, gut, so ist es. Dann nehme ich dieses Blatt Papier und werfe es in den Raum. Sehen Sie zu? Stimmt dieses Gesetz? Es stimmt überhaupt nicht! Das heißt, so sieht die Realität aus, und so sieht die zugehörige Physik aus. Ich kann die Bewegung das Blattes Papier nicht vorhersagen. Das hängt selbstverständlich mit der Luftreibung zusammen, die praktisch nicht in den Griff zu bekommen ist. Was machen jetzt die Wissenschaftler? Die sagen, die Realität ist mir zu komplex und zu kompliziert. Die sagen, ich möchte mich nicht mit dieser Komplexität auseinandersetzen, ich möchte mit Systemen zu tun haben, die meinen einfachen Gesetzen folgen. Und was machen sie? Sie zerknüllen das Papier und jetzt folgt es auf einmal den Gesetzen, wie sie die Physik eben vorhersagt. Das ist Technik, das ist dann auch die Umsetzung. Sie verstehen, ich karikiere. Wir schauen die Natur an – zu komplex –, wir ziehen daraus unsere Vorstellungen, wir zerknüllen die Natur so lang, bis sie sich sozusagen kontrolliert verhält und prognostizierbar und manipulierbar wird. Wir bleiben selbstverständlich hier nicht stehen. Es kommt jetzt High-Tech: Ich nehme das Blatt Papier und falte es zu einer Schwalbe, – das ist High-Tech –, deren Bewegung läßt sich in gewisser Weise prognostizieren, weil das Papier eine gewisse Form durch diese Faltung angenommen hat, das kriege ich noch in den Griff.






Was will ich damit zum Ausdruck bringen? Ich will Ihnen sagen: Die Natur ist nicht prognostizierbar, und damit gibt es in diesem Sinne eigentlich kein Wissen. Wissen bedeutet doch nicht, daß ich nur weiß, was in der Vergangenheit war, sondern daß ich aufgrund gewisser Erfahrungen die Zukunft extrapolieren kann. Diese Extrapolation gibt es aber nur für sehr einfache Systeme, und die Naturgesetzlichkeit ist prinzipiell nicht von dieser Art. Also glauben Sie in diesem allgemeinen Falle nicht, wenn Sie jetzt einen Experten ansetzen, der Ihnen das ganz genau berechnet, daß es dann geht. Es ist eine prinzipielle Ungewißheit in den Naturgesetzen drin. Die Naturgesetze sind nicht von der Art, wie wir das gewöhnlich annehmen.






Es existieren selbstverständlich einige Dinge, die prognostizierbar sind. Es gibt gewisse Dinge in der Natur, die unseres Erachtens ganz streng gelten. Ich will zwei nennen: Die Erhaltung der Materie und die Erhaltung der Energie. Erhaltung von Energie bedeutet, daß Energie nie erzeugt und nie vernichtet werden kann. Alles, was wir beobachten, sind Umwandlungen von einer Energieform in die andere. Das überrascht uns selbstverständlich sehr, weil wir dauernd vom Energiesparen sprechen und wieviel Energie wir für dieses und jenes brauchen. Alles ist strenggenommen Unsinn. Denn ich kann keine Energie verbrauchen. Was wir damit meinen ist, daß es eine gewisse zusätzliche Eigenschaft der Energie gibt, nämlich eine Ordnungseigenschaft, die wir brauchen und verbrauchen. Es gibt geordnete Energie, und es gibt ungeordnete Energie, und diese Ordnungsstruktur ist eigentlich das Wesentliche, was uns interessiert, was auch mit Dienstleistung und unserem Lebensstandard zu tun hat. Energie als solche spielt überhaupt keine Rolle. Nun, diese Ordnungsstruktur will ich, „Syntropie“ nennen. Ich verwende Syntropie als ein Synonym zu „Negativer Entropie“. Entropie ist ein Maß der Unordnung, und Syntropie ist ein Maß für die Ordnung. Es gibt nun ein fundamentales Gesetz in der Natur, den sogenannten Entropiesatz oder Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt: Ein unwahrscheinliches System, das abgeschlossen ist, verwandelt sich im Laufe der Zeit automatisch in einen neuen Zustand, der eine höhere Wahrscheinlichkeit in der Anordnung seiner Teile hat. Oder eine etwas abgeänderte Sprechweise, die uns geläufiger ist: Ein System, das eine gewisse Ausgezeichnetheit, eine gewisse Differenziertheit, Besonderheit hat, wird – wenn ich es sich selbst überlasse – diese Besonderheit automatisch verlieren. Automatisch geht alles sozusagen in Unordnung über. Jede Ordnung verschwindet und verwandelt sich in Unordnung. Beim Kartenspiel wissen wir das. Wenn wir es geordnet haben und es mischen, wird es immer ungeordnet, aber es passiert nie das Gegenteil. Probieren Sie einmal ein ungeordnetes Kartenspiel so lange zu mischen, bis die Karten angeordnet sind, das passiert nie. Das geht also nur in Richtung auf Unordnung. Sie kennen dies auch von Ihrem Schreibtisch, da stellen Sie fest, er wird immer nur unordentlicher und nicht das Umgekehrte.






Nun, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es bedeutet, daß wir hier einen allgemeinen Trend in der Natur haben, der von Ordnung zu Unordnung führt. Jetzt ist allerdings die Frage, wie es dann kommt, daß wir hier auf der Erdoberfläche einen Gegentrend haben, nämlich so etwas wie eine Evolution? Wir lernen ja: Aus einfachen chemischen Verbindungen haben sich im Laufe der viereinhalb Milliarden Jahre Erdgeschichte immer höhere Strukturen entwickelt, bis sie schließlich bei uns angelangt sind. Was ist denn los, ist das gegen die Natur? Der Grund ist, daß dieses Gesetz zur Unordnung nur gilt, wenn das System sich selbst überlassen bleibt. Sie sehen das bei einem Schreibtisch. Manchmal ist er am Wochenende aufgeräumt. Und warum? Weil Ihre ordnende Hand eingegriffen hat. Die ordnende Hand, die auf der Erde eingreift, ist die Sonne. Die Sonne strahlt uns Energie zu, die auf der Erdoberfläche ankommt. Aber der Witz ist eigentlich nicht die Energie, weil die eingestrahlte Energie fast hundertprozentig wieder in den Weltenraum als Wärmestrahlung zurückgestrahlt wird. Also von der Energie bleibt nichts hängen. Wenn die Energie hängenbleiben würde, würde die Erde sich ja aufheizen. Das heißt, die Energie fällt ein und wird wieder ausgestrahlt. Die Sonne hinterläßt auf der Erde im wesentlichen keine Energie. Aber die eingestrahlte Energie ist geordnet, sie hat eine höhere Syntropie als die ausgestrahlte, und von diesem Syntropiegefälle lebt die ganze Evolution. Das ist die ordnende Hand, mit der letzten Endes alles angetrieben wird. Im übrigen, daß die Wärmestrahlung wieder voll zurückgestrahlt wird, ist überhaupt nicht selbstverständlich. Der Grund, warum die Wärmestrahlung wieder ausgestrahlt wird und die Erde somit über ein phantastisches Energieversorgungssystem verfügt, hat damit zu tun, daß unser Nachthimmel schwarz ist und diese Energie abgesaugt wird. Der Nachthimmel ist aber schwarz, weil unser Universum sich ständig ausdehnt, und damit wird es zu einer Pumpe, die diese Energie aufsaugt. Wir brauchen also die Expansion des Universums, damit wir überhaupt diesen Syntropiedurchfluß haben, von dem wir leben.






Die unmittelbare Sonnenanstrahlung ist also praktisch der Motor für die ganze Evolution hier auf der Erde. Wenn wir aber die wirtschaftliche Entwicklung ansehen, dann stellen wir fest, daß wir diese Syntropie, diese Ordnungsenergie nicht aus der Sonne gewinnen, sondern wir nehmen sie hauptsächlich aus den fossilen Brennstoffen. Die fossilen Brennstoffe Kohle, Erdöl und Erdgas sind gespeicherte Syntropie der Sonne, die über Hunderte von Jahrmillionen von Mikroorganismen, kleinen Tierchen, Pflanzen usw. vor einigen hundert Millionen Jahren in der Vergangenheit angesammelt wurde. Wir verwenden diese Reservoire – das sind praktisch Tresore, die wir nun auspressen – anstatt daß wir uns bemühen, die Syntropie der Sonne direkt zu verwenden. Das führt dazu, daß wir nun in einem millionenfach größeren Umfang Dinge hier auf der Erde bewegen können, und das ist praktisch der Anlaß der industriellen Revolution. Das heißt mit anderen Worten, was wir eigentlich Revolution nennen ist, daß wir uns entschieden haben, anstatt von einem ehrlichen Einkommen zu leben, das uns hier zur Verfügung steht, uns auf ein Bankräuberleben umzustellen. Wir investieren eigentlich nur in „Schweißgeräte“, mit denen wir neue Tresore, einen nach dem anderen, an Naturvermögen „aufschweißen“. Und das nennen wir Wertschöpfung und Produktivität. Aber die Tresore werden wir mit der Zeit dann auch leeren. Vor allen Dingen führt dieser ungeheuer schnelle Umsatz an Energie auch zu einer Störung des Ökosystems, das seit vier Milliarden Jahren sich auf die Syntropiezufuhr von der Sonne hin optimiert hat. Das ist wohl die Schwierigkeit. Für mich ist die Frage der Energieverknappung nicht nur eine Frage der Ressourcen, sondern vor allem, daß wir hier alle natürlich ablaufenden Prozesse ungeheuer beschleunigen und die Natur sozusagen nicht mehr nachkommt, um diese Prozesse zu schließen. Wir betrachten ja die Natur um uns herum als ein beliebig abgabefähiges, ressourcenstiftendes Medium und wie ein Medium, in das wir all unseren Müll sozusagen hereinkippen können und uns nicht mehr darum kümmern müssen. In gewisser Weise ist das auch richtig, weil sich die Natur in diesen viereinhalb Milliarden Jahren zu einem phantastisch durchgetesteten Ökosystem entwickelt hat. Viereinhalb Milliarden Jahre getestet, so daß sie „gelernt“ hat, all diese Dinge, diese Stöße gegen das Schienbein, die wir ihr versetzen, abzufedern. Aber wir dürfen es nicht übertreiben, und im Augenblick übertreiben wir es, die Natur kann das nicht mehr abpuffern. Der Punkt dabei ist nicht der, daß die Natur uns um Gnade bittet, was immer mitschwingt, wenn man sagt, wir müssen die Natur ein bißchen schützen. Naturschutz klingt in meinen Ohren arrogant und ist unsinnig. Die Natur braucht von uns überhaupt nicht geschützt zu werden, sondern wir müssen uns selbst schützen, wir zerstören ja unsere eigene Lebensgrundlage. Das Prinzip der Natur ist, wenn jemand sich so blöd verhält wie wir, dann sagt die Natur, gut, mach weiter, dann bist du weg vom Fenster in ein paar Generationen. Das ist genau, was passiert. Die Natur ist nicht etwas, was sich auf ein gewisses Ziel hin entwickelt, die Natur entfaltet sich nach dem Prinzip von „Versuch und Irrtum“, und wir wissen gar nicht, was in Zukunft passiert. Es existiert nicht einmal ein Szenarium, weil die Zukunft nicht-gewußte Realität ist, sie ist offen und entwickelt sich voran, und was passiert, passiert eben. Die Natur schreitet nach dem Prinzip von „Versuch und Irrtum“ fort und entwickelt durch Selbstorganisation höhere Ordnungsstrukturen. Wo sie letztlich ankommt, ist gewissermaßen zufällig, aber alle Versuche, die sie macht, werden ausgetestet, ob sie passen oder nicht, und dafür nimmt sich die Natur genügend Zeit. Deshalb ist es für diesen Gegentrend nach höherer Ordnung außerordentlich wichtig, daß wir uns Zeit nehmen. Wenn wir ihn zu sehr beschleunigen, dann fallen wir in den „natürlichen“ Prozeß zurück der sagt, jede Ordnung verwandelt sich in Unordnung.






Das ist etwa so, wie wenn Sie ein Bergsteiger am steilen Fels sind. Naturgesetz ist, daß Sie nur von oben nach unten fallen und nie von unten nach oben. Dann fragen Sie, wie schafft es ein Bergsteiger, daß er am Schluß oben am Gipfel ankommt? Da sind wir, wir gehen in Gegenrichtung der „normalen“ Evolution. Das geht nur, indem wir sehr sorgfältig steigen, jeden Griff prüfen, ob er sicher ist, und dann weitergehen. Auf diese Weise kommen wir zum Gipfel. Wenn wir aber sagen, jetzt haben wir nicht soviel Zeit, jetzt müssen wir mit dieser Technologie das noch schneller machen und so fort, dann machen wir so viele Mißgriffe, daß wir letztlich abstürzen. Das ist nämlich die eigentliche Schwierigkeit an der Sache. Ich möchte also betonen: Die Natur braucht keinen Schutz, die Natur kommt ohne uns zurecht, aber wir sind nicht nur auf die Natur allgemein, sondern auf dieses ganz spezielle Ökosystem, das sich hier in viereinhalb Milliarden Jahren herausgebildet hat, notwendig angewiesen.






(...)






Der Vortrag Ökologische Herausforderung der Ökonomie – Eine naturwissenschaftliche Betrachtung kann auf der Website der Universität Münster nachgelesen werden:



Teil 1



Teil 2


Siehe auch


Hans-Peter Dürr: Das Netz des Physikers (1988)



Hans-Peter Dürr: Für eine zivile Gesellschaft (2000)



Hans-Peter Dürr / Marianne Österreicher: Wir erleben mehr als wir begreifen (2001)



Hans-Peter Dürr: Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen (2004)



Fernsehinterview im Bayerischen Rundfunk am 29.5.1998



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