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James Lovelock
Gaias Rache

Warum die Erde sich wehrt


Berlin 2007 (Ullstein/List); 254 Seiten; ISBN 978-3-471-79550-7
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel
The Revenge of Gaia. Why the Earth is fighting back – and How We Can Still Save Humanity bei Penguin Books, London






James Lovelock ist der Begründer der Gaia-Theorie, die zu einem zentralen Modell der modernen Wissenschaft wurde: Die Erde ist ein lebender Organismus, und wir haben sie seit Jahrhunderten gnadenlos ausgebeutet. Nun zahlen wir den Preis. Das Klima verändert sich dramatisch, der Meeresspiegel steigt kontinuierlich, und das System Gaia ist aus den Fugen. Wir machen weiter wie bisher und hoffen, dass es schon nicht so schlimm kommen wird. Doch das ist eine Illusion: Wenn wir das Ruder nicht herumreißen, wird die Erde schon in wenigen Jahrzehnten für Menschen unbewohnbar sein. Mit profunder Sachkenntnis analysiert James Lovelock, welche Möglichkeiten uns noch bleiben. Wenn wir die Entwicklung aufhalten wollen, darf es keine Tabus mehr geben: Um die globale Erwärmung abzubremsen, brauchen wir auch die Kernkraft als klimafreundliche Energiequelle.


(Klappentext)




Einspruch!

Ja, James Lovelocks Diagnose und Prognose sind gut begründet, ungeschönt und sehr ernst zu nehmen: Der Schaden ist angerichtet, die Klimakrise ist nicht mehr zu vermeiden. Sein ärztlicher Rat: Wir müssen eine ganz neue „tiefenökologische“ Einstellung zu
Gaia verwirklichen – dies allein reicht aber leider nicht, denn die Zeit läuft uns davon. Wir müssen mit drastischen Veränderungen des Erdklimas rechnen, die viel schneller auf uns zukommen als die meisten von uns noch glauben. Daher sollten wir unser gesamtes technisches Wissen für schnelle und wirkungsvolle Maßnahmen zur Verringerung des CO2-Ausstoßes einsetzen, auch wenn solche Maßnahmen nur als Notbehelfe gelten können, um das Schlimmste abzuwenden und Zeit zu gewinnen, nicht als die eigentliche Heilung der Krankheit.

Soweit will ich dem Arzt gerne folgen.

Gewaltige Zweifel beschleichen mich aber, wenn er den schnellen Ausbau der
Kernenergie als das Mittel der Wahl propagiert, um die Not zu wenden, dabei die enormen Risiken und Nebenwirkungen dieser Methode bagatellisiert (er argumentiert zum Teil mit falschen Zahlen) und alle diejenigen als naiv diskreditiert, die ihr Vertrauen nicht in die menschliche Großtechnik setzen, sondern in dezentralisiert erzeugte erneuerbare Energie plus den generell verringerten Energieverbrauch durch effizientere Technik (!) und durch die Veränderung unserer vandalistischen Lebensgewohnheiten. Für Lovelock sind Bestrebungen in diese Richtung ein Irrweg grüner Romantiker, ein „Warten auf Godot“.

Aus diesem Grund empfehle ich dringend als Begleitlektüre oder „Nachwort“ zu diesem Buch den Aufsatz von
Hermann Scheer: Atomenergie oder Erneuerbare Energie? Oder: Wer ist Godot?
und als Folgelektüre das Buch Energieautonomie des selben Autors.


(Ernst Weeber)


James E. Lovelock


geboren 1919 in Letchworth Garden City, England; Chemiker, Mediziner, Biophysiker und Erfinder; Mitbegründer der Gaia-Hypothese und Geophysiologie. James Lovelocks Interesse gilt der Wissenschaft des Lebens, ursprünglich in der medizinischen Forschung des Menschens, dann der Erde. Zahlreiche Veröffentlichungen in Medizin, Biologie, Instrumentenforschung und Geophysiologie, darunter: Das Gaia-Prinzip. Die Biographie unseres Planeten (1981), Gaia: Die Erde ist ein Lebewesen. Anatomie und Physiologie des Organismus Erde (1991) und Homage to Gaia (Autobiografie, 2000).


Inhaltsverzeichnis


Der Zustand der Erde



Wer oder was ist Gaia?



Gaias Lebensgeschichte



Vorhersagen für das 21.Jahrhundert



Energiequellen



Chemikalien, Nahrung und Rohstoffe



Techniken für einen nachhaltigen Rückzug



Eine persönliche Sicht der Umweltbewegung



Über das Ende hinaus






Danksagung, Glossar, Weiterführende Lektüre
Verzeichnis der Abbildungen, Register


Leseprobe


Der Zustand der Erde






Blinde Führer seid ihr: Ihr siebt Mücken aus und verschluckt Kamele.
(Matthäus 23, 24)






Wie immer nehmen schlechte Nachrichten den breitesten Raum ein, und während ich dies in meinem gemütlichen Heim in Devon schreibe, ist auf allen Fernsehschirmen und Titelseiten die Katastrophe von New Orleans zu sehen. Sie war schrecklich, lenkte uns aber von dem noch größeren Leid ab, das der Tsunami vom Dezember 2004 mit sich brachte, der die Küsten und Inseln des Indischen Ozeans verheerte. Jenes furchtbare Ereignis beleuchtete grell, wie sehr die Erde die Macht zum Töten hat. Der Planet, auf dem wir leben, muss nur mit der Schulter zucken, und Hunderttausende werden in den Tod gerissen. Doch das ist nichts im Vergleich zu dem, was bald passieren könnte. Wir missbrauchen die Erde mittlerweile so sehr, dass sie sich vielleicht aufbäumt und in jene heiße Phase zurückfällt, in der sie vor 55 Millionen Jahren war. Und wenn sie das tut, werden die meisten von uns und unseren Nachkommen sterben. Es ist, als hätten wir uns entschlossen, den Mythos in Wagners Der Ring des Nibelungen nachzuleben und unsere Walhalla in Gluthitze dahinschmelzen zu sehen.






Ich höre Sie schon sagen: »Was? Noch ein Buch über die globale Erwärmung? Ist das nicht langsam zu viel des Guten?« Würde dieses Buch nichts weiter leisten, als die Argumente und Gegenargumente zu wiederholen, hätten Sie recht: Es wäre ein Buch zu viel. Der Unterschied liegt darin, dass ich als Planetenarzt spreche, dessen Patient, die lebendige Erde, an Fieber leidet; ich betrachte die angeschlagene Gesundheit der Erde als unsere wichtigste Angelegenheit, denn von ihrer Genesung hängt unmittelbar unser Leben ab. Unsere Sorge um sie muss an erster Stelle kommen, denn das Wohlergehen der immer weiter zunehmenden Menschenmassen verlangt einen gesunden Planeten.






Jetzt werden meine Freunde und Kollegen zusammenzucken und wünschen, dass ich endlich aufhören würde, von unserem Planeten als einer Lebensform zu sprechen.






Ich verstehe ihre Einwände, bleibe aber stur; hätte ich nicht als Erster so über die Erde nachgedacht, wären wir wohl alle »wissenschaftlich korrekt« geblieben, aber ihre wahre Natur wäre uns verborgen geblieben. Dank des Gaia-Konzepts erkennen wir heute, dass sich unser Planet komplett von seinen toten Geschwistern Mars und Venus unterscheidet. Wie jeder von uns steuert die Erde ihre Temperatur und Zusammensetzung so, dass es ihr jeweils gut geht, und sie hat das stets getan, seit vor mehr als drei Milliarden Jahren das Leben begann. Um es unverblümt zu sagen: Tote Planeten sind wie steinerne Statuen, die sich nicht verändern, wenn man sie in einen Ofen steckt und auf 80°C erhitzt. Auf diese Temperatur gebracht, würden Sie und ich sterben – und die Erde auch.






Nur wenn wir uns unser planetarisches Zuhause als lebendig denken, können wir erkennen – vielleicht zum ersten Mal –, warum die Landwirtschaft das lebende Gewebe seiner Haut abschürft und warum die Umweltverschmutzung für es genauso giftig ist wie für uns. Der steigende Kohlendioxid- und Methangehalt in der Atmosphäre hat hier ganz andere Folgen als auf einem toten Planeten wie dem Mars. Wie die lebendige Erde auf das reagiert, was wir tun, hängt nicht allein vom Ausmaß des Landverbrauchs und der Umweltverschmutzung ab, sondern auch von ihrem gegenwärtigen Gesundheitszustand. Als die Erde noch jung und stark war, machten ihr widrige Veränderungen und der Ausfall ihrer eigenen Temperaturregulierung kaum zu schaffen; heute ist sie älter und vielleicht weniger zäh.






Nachhaltige Entwicklung und die Nutzung erneuerbarer Energien sind der zeitgemäße Ansatz, im Einklang mit der Erde zu leben, und prägen das Wahlkampfprogramm grün orientierter Politiker. Dem widersprechen vor allem in den Vereinigten Staaten die vielen, die die globale Erwärmung noch immer für eine Fiktion halten und dafür plädieren, weiterzumachen wie bisher. Diese Geisteshaltung kommt am besten in einem kürzlich erschienenen Roman von Michael Crichton, Welt in Angst, zum Ausdruck, und auch die wie eine Heilige verehrte Mutter Theresa sagte 1988: »Warum sollen wir uns um die Erde sorgen, wo doch unsere Verpflichtung den Armen und Kranken unter uns gilt? Gott wird für die Erde sorgen.« In Wahrheit werden weder der Glaube an Gott noch das Vertrauen ins Business as usual und noch nicht einmal das Eintreten für nachhaltige Entwicklung unserer wahren Abhängigkeit gerecht. Wenn wir uns nicht um die Erde kümmern, wird sie mit Gewissheit für sich selbst sorgen, indem sie uns nicht länger willkommen heißt. Die Gläubigen unter uns sollten sich ihr irdisches Heim noch einmal ansehen und es als heiligen Ort betrachten, als Teil von Gottes Schöpfung, den wir entweiht haben. Anne Primavesis Buch Gaia’s Gift zeigt, wie man Glaube und Gaia miteinander versöhnen kann.






Wenn ich den Ausdruck »nachhaltige Entwicklung« höre, muss ich an die Definition von Gisbert Glaser denken, dem Chefberater des International Council for Science, der in einem Gastbeitrag für den Newsletter des International Geosphere Biosphere Program (IGBP) sagte: »Nachhaltige Entwicklung ist ein bewegliches Ziel. Sie meint die ständige Anstrengung, die drei Säulen des sozialen Wohlergehens, des wirtschaftlichen Wohlstands und des Umweltschutzes zum Segen heutiger und zukünftiger Generationen auszubalancieren und zu integrieren.« Viele von uns betrachten diese noble Politik als dem gewohnten Laissez faire überlegen. Unglücklicherweise aber führen diese beiden völlig verschiedenen Ansätze – der des internationalen Wohlverhaltens und der der erbarmungslosen Marktkräfte – zum selben Ergebnis: einem wahrscheinlich verheerenden Klimawandel. Gemeinsam ist ihnen die irrige Überzeugung, dass eine Weiterentwicklung noch immer möglich ist und dass die Erde noch mindestens die erste Hälfte dieses Jahrhunderts lang mehr oder weniger so funktionieren wird wie bisher. Vor 200 Jahren, als es noch keine Veränderungen gab oder sie nur langsam einsetzten, hätten wir vielleicht die Zeit gehabt, eine nachhaltige Entwicklung einzuleiten oder sogar eine Weile wie gewohnt weiterzumachen, aber jetzt ist es viel zu spät. Der Schaden ist bereits angerichtet. Nachhaltige Entwicklung oder Business as usual für Erfolg versprechende Politik zu halten gleicht der Erwartung, dass ein an Lungenkrebs Erkrankter gesundet, wenn er mit dem Rauchen aufhört. Beide Ansätze leugnen, dass die Erde bereits krank ist, an einem Fieber leidet, das von einer Menschenepidemie hervorgerufen wird. Trotz ihrer Unterschiede rühren die beiden Ansätze aus religiösen und humanistischen Überzeugungen her, die die Erde für etwas halten, das man zum Wohle der Menschheit ausbeuten kann. Um 1800 herum, als es nur eine Milliarde Menschen gab, war eine ignorante Politik wie diese vertretbar, weil sie nur geringe Schäden anrichtete. Jetzt verfolgen die beiden Ansätze unterschiedliche Wege, die sich bald zu einem Stolperpfad vereinen werden, der in ein Steinzeitdasein auf einem darbenden Planeten führen wird, das nur wenige von uns zwischen den Trümmern unserer einstigen irdischen Biodiversität überleben werden.






Warum erkennen wir – vor allem in den Vereinigten Staaten – nur so langsam die großen Gefahren, mit denen wir und unsere Zivilisation konfrontiert sind? Was hindert uns an der Erkenntnis, dass das Fieber des globalen Aufheizens real und tödlich ist und vielleicht schon so weit gestiegen, dass wir oder die Erde es nicht mehr kontrollieren können? Ich glaube, wir verschließen die Augen vor den Beweisen, dass unsere Welt sich verändert, weil wir immer noch in Stammesverbänden organisierte Fleischfresser sind, wie es der wunderbar kluge Biologe E. 0. Wilson ausdrückte. Durch unsere Abstammung sind wir darauf programmiert, andere Lebewesen hauptsächlich als etwas zu betrachten, das man essen kann, und wir kümmern uns mehr um unseren Stamm beziehungsweise unsere Nation als um alles andere. Dafür geben wir sogar unser Leben hin, und wir sind durchaus bereit, andere Menschen auf grausamste Weise zu töten, wenn es dem Wohlergehen unseres Stammes dient. Noch immer befremdet uns die Vorstellung, dass wir und alles Lebendige sonst, von Bakterien bis zu Walen, Teile einer viel größeren und vielfältigeren Entität sind, der lebendigen Erde.






(...)






Das wenige, was wir über die Reaktion der Erde auf unsere Anwesenheit wissen, ist zutiefst beunruhigend. Selbst wenn wir sofort aufhörten, Gaia Land und Wasser zur Nahrungs- und Brennstoffproduktion zu entziehen und die Luft zu vergiften, würde die Erde über 1000 Jahre brauchen, um sich von den bereits angerichteten Schäden zu erholen, und es könnte bereits so spät sein, dass selbst dieser drastische Schritt uns nicht mehr retten könnte. Eine Gesundung, ja selbst nur eine Linderung der Folgen unseres vergangenen Fehlverhaltens wird ein außergewöhnliches Ausmaß an internationalen Anstrengungen und eine sorgfältige Planung zur Ersetzung fossiler Kohlenstoffquellen durch sicherere Energieträger erfordern. Als Zivilisation gleichen wir zu sehr Süchtigen, deren Droge sie töten wird, wenn sie sie weiterhin nehmen, und die sie genauso töten wird, wenn man sie ihnen auf der Stelle entzieht. In unser gegenwärtiges Dilemma sind wir durch unsere Intelligenz und unseren Erfindungsreichtum geraten. Erstmals haben wir damit vielleicht schon vor 100 000 Jahren angefangen, als wir Wälder in Brand setzten, um uns die Jagd bequem zu machen. Damit hatten wir aufgehört, bloß ein weiteres Raubtier zu sein, und mit der Demolierung der Erde begonnen. Als Spezies gleichen wir dem schizoiden Paar Dr. Jekyll und Mr. Hyde; wir haben die Fähigkeit zu katastrophalen Zerstörungen, aber auch das Potenzial, eine großartige Zivilisation zu begründen. Mister Hyde brachte uns dazu, unsere Technik zum Schlechten einzusetzen; wir haben Energie missbraucht und die Erde überbevölkert. Aber wir können unsere Zivilisation nicht aufrechterhalten, wenn wir die Technik aufgeben. Wir müssen sie stattdessen klug einsetzen, wie Dr. Jekyll das tun würde, und dabei die Gesundheit der Erde – nicht der Menschen – im Blick behalten. Aus diesem Grund ist es für eine nachhaltige Entwicklung viel zu spät; wir brauchen einen nachhaltigen Rückzug.






Wir sind von der Idee des Fortschritts und der Besserung der Menschheit so besessen, dass wir »Rückzug« als Schimpfwort betrachten, als etwas, für das man sich schämen muss. Der Philosoph und Geistesgeschichtler John Gray schrieb in seinem Buch Straw Dogs, dass wir nur selten über die Bedürfnisse der Menschheit hinausblicken, und er führte diese Blindheit auf unsere christliche und humanistische Binnenstruktur zurück. Sie kam vor 2 000 Jahren auf und war damals bescheiden, sodass wir für Gaia keine wesentliche Bedrohung darstellten. Heute besteht die Menschheit aus mehr als sechs Milliarden hungrigen und gierigen Individuen, die alle versuchen, im Stil der Ersten Welt zu leben, sodass sich unsere urbane Daseinsform immer mehr des Reiches der lebendigen Erde bemächtigt. Wir nehmen ihr so viel weg, dass sie nicht länger in der Lage ist, die vertraute und komfortable Umwelt aufrechtzuerhalten, die wir als gegeben hingenommen hatten. Jetzt verändert sie sich nach ihren eigenen, internen Regeln und geht in eine Phase über, in der wir nicht länger willkommen sind.






Die Menschheit, die aufgrund ihrer humanistischen Traditionen darauf völlig unvorbereitet ist, steht vor ihrer größten Herausforderung. Die Beschleunigung des Klimawandels, der jetzt eingesetzt hat, wird die komfortable Umwelt, an die wir angepasst sind, hinwegfegen. Wandel ist ein normaler Teil der geologischen Geschichte; die jüngste Veränderung war der Übergang von einer langen Vergletscherungsperiode zur derzeitigen warmen Zwischeneiszeit. Neu an der kommenden Krise ist, dass wir der Grund dafür sind und so etwas Schwerwiegendes nicht mehr seit der langen heißen Periode zu Beginn des Eozäns vor 55 Millionen Jahren passiert ist; damals waren die Veränderungen größer als die zwischen Eiszeit und 19. Jahrhundert und hielten 200 000 Jahre lang an.






Das große irdische System, Gaia, gerät in einer Zwischeneiszeit wie der momentanen in einen Teufelskreis positiver Rückkopplung, und das macht die globale Erwärmung zu einem so schwerwiegenden und dringlichen Problem. Zusätzliche Wärme aus jeder erdenklichen Quelle – seien es Treibhausgase, das Verschwinden des arktischen Eises, die Strukturveränderungen der Ozeane oder die Zerstörung der Tropenwälder – wird verstärkt, und der Gesamteffekt ist größer als die bloße Summe. Es ist fast, als hätten wir ein Feuer gemacht, um uns zu wärmen, und beim Nachlegen von Brennstoff nicht bemerkt, dass es bereits außer Kontrolle geraten ist und die Möbel in Brand gesetzt hat. Wenn so etwas passiert, bleibt kaum noch Zeit, die Flammen zu löschen, ehe sie das ganze Haus ergreifen. Die globale Erwärmung beschleunigt sich wie ein Feuer, und wir haben so gut wie keine Zeit mehr, um zu reagieren.






(...)






Die Aussichten sind düster, und selbst wenn es uns gelingt, die Folgen zu lindern, kommen wie in jedem Krieg harte Zeiten auf uns zu, die uns bis an die Grenzen belasten werden. Wir sind zäh, und es würde mehr als die vorhergesagte Klimakatastrophe brauchen, um alle vermehrungsfähigen Menschenpaare zu eliminieren; auf dem Spiel aber steht die Zivilisation als solche. Als individuelle Tiere sind wir nichts Besonderes, und in gewisser Weise ist die menschliche Spezies so etwas wie eine Krankheit des Planeten; doch mittels unserer Zivilisation können wir uns rehabilitieren und sind so zu einem wertvollen Aktivposten für die Erde geworden. Es besteht eine kleine Chance, dass die Skeptiker recht behalten oder wir durch ein unvorhersehbares Ereignis wie eine Serie von Vulkanausbrüchen gerettet werden, die schwer genug sind, so viel Sonnenlicht abzuhalten, dass die Erde abkühlt. Aber nur Verlierertypen würden darauf ihr Leben verwetten. Wie fraglich die künftige Entwicklung des Klimas auch sein mag, außer Frage steht, dass sowohl die Treibhausgase zunehmen als auch die Temperaturen steigen.






Ich finde es traurig, dass wir die Warnungen und Ratschläge unserer weltweit führenden Geo- und Klimawissenschaftler in den Wind geschlagen haben. Bislang haben wir lieber auf die gut gemeinten, aber unklugen Ratschläge jener gehört, die glauben, es gäbe eine Alternative zur Wissenschaft. Ich bin ein Grüner und werde den Grünen wohl auch zugerechnet, aber in erster Linie bin ich Wissenschaftler; deshalb bitte ich meine grünen Freunde inständig, ihren naiven Glauben an nachhaltige Entwicklung und erneuerbare Energie zu überdenken sowie ihre Überzeugung anzuzweifeln, dass dies plus Energiesparen alles sei, was man unternehmen müsse. Vor allem müssen sie ihre Starrköpfigkeit gegenüber der Atomenergie aufgeben. Selbst wenn sie recht hätten, was deren Gefahren angeht – und in diesem Fall haben sie unrecht –, stellte die Nutzung von Kernkraft als sichere und verlässliche Energiequelle im Vergleich mit den realen Gefahren nicht auszuhaltender, tödlicher Hitzewellen und eines steigenden, alle Küstenstädte der Welt bedrohenden Meeresspiegels eine unbedeutende Gefährdung dar. Erneuerbare Energie hört sich gut an, aber bislang ist sie ineffizient und teuer. Sie hat eine Zukunft, aber wir haben jetzt keine Zeit, mit visionären Energiequellen zu experimentieren: Die Zivilisation ist in unmittelbarer Gefahr, und sie muss sich jetzt der Atomkraft bedienen oder die Leiden ertragen, mit denen unser aufgebrachter Planet uns bald strafen wird. Wir müssen den sinnvollen grünen Rat befolgen, Energie zu sparen, und wir müssen das überall tun, wo das möglich ist, aber ich habe den Verdacht, dass dies wie das Abspecken leichter gesagt als getan ist. Signifikante Energieeinsparungen rühren von verbesserten Techniken her, und es braucht Jahrzehnte, bis diese die Mehrheit der Verbraucher erreichen.






Ich empfehle die Kernspaltung nicht als langfristiges Allheilmittel für unseren kranken Planeten oder als Antwort auf all unsere Probleme. Ich betrachte sie bloß als die einzige wirkungsvolle Medizin, die wir jetzt zur Verfügung haben. Wenn einer von uns infolge von Fettleibigkeit und zu wenig Sport Altersdiabetes bekommt, wissen wir, dass Medikamente allein nicht ausreichen; er muss seine gesamte Lebensweise umstellen. Die Atomkraft ist bloß die Arznei, die stetig und verlässlich den Strom fließen lässt, damit die Lichter der Zivilisation nicht ausgehen, bis die saubere und immerwährende Fusionsenergie, die auch die Sonne befeuert, und erneuerbare Energien zur Verfügung stehen. Wir müssen viel mehr tun, als uns nur auf Kernkraft zu verlassen, wenn wir einem neuen dunklen Zeitalter im Verlauf dieses Jahrhunderts entgehen wollen.






Wir müssen unsere Ängste besiegen und Atomkraft als die eine sichere, bewährte Energiequelle akzeptieren, die minimale globale Folgen hat. Sie ist heute so zuverlässig, wie menschliche Ingenieurskunst nur sein kann, und hat sich als die sicherste von allen großen Energiegewinnungsformen erwiesen. Frankreich hat gezeigt, dass sie zur Hauptenergiequelle eines ganzen Landes gemacht werden kann, aber immer noch haben Regierungen Angst, diese eine Rettungsleine zu ergreifen, die uns sofort zur Verfügung steht. Wir brauchen ein ganzes Portfolio von Energiequellen, in dem die Kernkraft, zumindest bis die Fusionsenergie zu einer praktikablen Option wird, eine wichtige Rolle spielt. Wenn die chemische und die biochemische Industrie aus Kohlendioxid, Wasser und Stickstoff Nahrungsmittel synthetisieren kann, dann sollten wir das tun und der Erde eine Verschnaufpause gönnen. Wir müssen aufhören, uns wegen winziger statistischer Krebsrisiken durch Chemikalien oder Strahlung Sorgen zu machen. Fast ein Drittel von uns wird ohnehin an Krebs sterben – hauptsächlich weil wir Luft atmen, die das allgegenwärtige Karzinogen Sauerstoff enthält. Wenn wir uns nicht auf die reale Gefahr konzentrieren, nämlich die globale Erwärmung, sterben wir vielleicht noch früher, wie jene 30 000 Unglücklichen im überhitzten Europa des Sommers 2003. Wir müssen den globalen Wandel ernst nehmen, und zwar auf der Stelle, und dann unser Bestes geben, um den Druck der Menschen auf die Erde zu vermindern. Unser Ziel sollte sein, mit dem Verbrauch fossiler Energieträger so schnell wie möglich aufzuhören, und es darf nirgendwo mehr zur Zerstörung von natürlichen Habitaten kommen. Wenn ich »natürlich« sage, meine ich nicht nur Urwälder, sondern auch die Wälder, die nachgewachsen sind, als Nutzland aufgegeben wurde, wie es in Neuengland und anderen Teilen der USA der Fall war. Diese wiederhergestellten Wälder leisten Gaia wahrscheinlich genauso gute Dienste wie die ursprünglichen, aber die riesigen offenen Landstriche mit Monokultur-Nutzflächen sind kein Ersatz für natürliche Ökosysteme. Wir bebauen bereits mehr Land, als die Erde sich leisten kann, und wenn wir versuchen, die gesamte Erde zu nutzen, um unsere Menschen zu ernähren, dann gleichen wir, selbst wenn das mit organischen Methoden geschieht, Segelschiffern, die das Holz und die Takelung ihrer Boote verheizen, um es warm zu haben. Die natürlichen Ökosysteme der Erde sind nicht dazu da, uns als Anbaufläche zu dienen; sie sind da, um das Klima und die Chemie des Planeten zu erhalten.


J. Lovelock 2006


Artikel von J. Lovelock in „The Independent“ am 16.1.2006 (englisch)



Deutsche Übersetzung (von Ernst Weeber):






Bei der Erde bahnt sich ein Fieber an, das 100 000 Jahre dauern könnte



Jedes Land muss seine Ressourcen optimal nutzen, um die Zivilisation so lange wie möglich zu erhalten






Stellen Sie sich eine junge Polizistin vor, die glücklich ihrem Beruf nachgeht; nun stellen Sie sich vor, sie hätte einer Familie, deren Kind sich verirrte, zu sagen, dass es tot sei, ermordet in einem nahe gelegenen Wald. Oder denken Sie an einen neu angestellten jungen Arzt, der Ihnen sagen muss, dass die Gewebeprobe das Eindringen eines aggressiven metastasierenden Tumors zeigt. Ärzte und die Polizei wissen, dass viele die schreckliche Wahrheit mit Würde akzeptieren, andere aber vergeblich versuchen, sie zu leugnen.

Wie die Reaktion auch ausfallen mag, die Überbringer einer solchen schlechten Nachricht stumpfen selten gegen ihre Aufgabe ab und manche fürchten sie. Wir haben die Richter von der schrecklichen Verantwortung entbunden, ein Todesurteil zu sprechen, sie hatten immerhin einen gewissen Trost durch dessen häufig angenommene moralische Rechtfertigung. Ärzte und die Polizei können ihrer Pflicht nicht entfliehen.

Aus den selben Gründen ist dieser Artikel der schwierigste, den ich geschrieben habe. Meine Gaia-Theorie sieht die Erde sich so verhalten, als wäre sie lebendig, und alles Lebendige kann sich offensichtlich guter Gesundheit erfreuen oder Krankheiten erleiden. Gaia hat mich zu einem planetarischen Arzt gemacht und ich nehme meinen Beruf ernst – und nun muss auch ich schlechte Nachrichten überbringen.

Die Klimazentren überall auf der Welt, die den Pathologielabors der Hospitale entsprechen, haben die physische Verfassung der Erde untersucht, und die Klimaspezialisten berichten von einer ernsthaften Erkrankung, einem krankhaften Fieber, das sich jetzt anbahnt und das 100 000 Jahre dauern kann. Ich muss Ihnen als Mitglieder der Erdenfamilie und als einem wesentlichen Teil von ihr sagen, dass Ihnen und besonders der Zivilisation eine außerordentliche Gefahr droht.

Gerade so wie jedes Tier es tut, hat unser Planet sich selbst gesund und fit für das Leben erhalten, und zwar die meiste Zeit in den mehr als drei Milliarden Jahren seiner Existenz. Es war verhängnisvoll, dass wir ihn zu verschmutzen begonnen haben zu einem Zeitpunkt, da die Sonne eigentlich schon zu heiß ist für ein komfortables Erdenklima. [Anmerkung: Die Sonnenstrahlung hat seit Beginn der Erdgeschichte um etwa 30 % zugenommen; seit dem Ende der letzten Eiszeit wird es für den „Erdorganismus“ Gaia allein aus diesem Grund zunehmend schwierig, die Erde auf eine für die Biosphäre optimale Temperatur zu kühlen. E.W.] Durch uns hat Gaia Fieber bekommen, und bald wird sich ihre Verfassung bis zu einem komaähnlichen Zustand verschlechtern. Sie war bereits früher einmal in einem solchen Zustand und hat sich erholt, aber es hat mehr als 100 000 Jahre gedauert. Diesmal sind wir selbst dafür verantwortlich und wir werden die Konsequenzen zu tragen haben: Im Verlauf dieses Jahrhunderts wird die Temperatur ansteigen, um 8 Grad in den gemäßigten Zonen und um 5 Grad in den Tropen.

Ein großer Teil der tropischen Landmasse wird Buschland und Wüste werden und nicht länger der Regulation dienen; dazu kommen die 40 % der Erdoberfläche, die wir durch Raubbau erschöpft haben.

Eigenartigerweise vermindert die Luftverschmutzung auf der nördlichen Hemisphäre die globale Erwärmung, indem sie das Sonnenlicht in den Weltraum reflektiert. Diese „globale Abdunklung“ ist aber nur flüchtig, sie kann in ein paar Tagen wie Rauch – was anderes ist sie ja nicht – verschwinden und uns der ganzen Hitze des globalen Treibhauses aussetzen. Wir befinden uns in einem verrückten Klima, das zufälligerweise durch Rauch kühl gehalten wird, und bevor dieses Jahrhundert zu Ende ist werden Milliarden von uns sterben und einige wenige Menschenpaare, die überleben, werden sich in der Arktis befinden, wo das Klima erträglich bleibt.

Da wir nicht verstanden haben, dass die Erde ihr Klima und ihren Zustand selbst reguliert, sind wir in eine Lage geraten, in der wir nun meinen, es selbst tun zu müssen, als seien wir dafür zuständig. Damit verdammen wir uns zu der schlimmsten Form der Sklaverei. Wenn wir uns dazu entschließen, die Ordner der Erde zu sein, dann ist es unsere Aufgabe, die Atmosphäre, den Ozean und die Landoberfläche lebensfreundlich zu erhalten – eine Aufgabe, die wir bald als unerfüllbar empfinden werden – und als etwas, das Gaia bereitwillig für uns erledigte, bevor wir sie so schlecht behandelten.

Um zu verstehen, wie aussichtslos dieses Unterfangen ist, denken Sie daran, wie Sie Ihre eigene Körpertemperatur oder die Zusammensetzung Ihres Blutes regulieren würden. Diejenigen, die unter Nierenversagen leiden, kennen die nicht endende tägliche Schwierigkeit, Wasser, Salz und Proteinzusatz richtig zu bemessen. Die Technik der Dialyse hilft, aber sie ist kein Ersatz für gesunde lebende Nieren.

Mein neues Buch „Die Rache der Gaia“ führt diese Gedanken weiter aus, aber Sie fragen sich vielleicht, warum die Wissenschaft so lange gebraucht hat, um die wahre Natur der Erde zu erkennen. Ich denke, das kommt daher, dass Darwins Vision so klar und aufschlussreich war, dass es bis jetzt gedauert hat, sie zu verdauen. Zu seiner Zeit war über die Chemie der Atmosphäre und der Ozeane wenig bekannt und er hatte wenig Grund, sich zu fragen, ob die Organismen ihre Umgebung genauso veränderten, wie sie sich an die selbe anpassten.

Wäre damals bekannt gewesen, wie eng das Leben und die Umwelt miteinander verkoppelt sind, dann hätte Darwin gesehen, dass nicht nur die Organismen, sondern die gesamte Erdoberfläche der Evolution unterliegen. Vielleicht hätten wir die Erde dann so betrachtet als wäre sie lebendig, und gewusst, dass wir die Luft nicht verschmutzen und die Haut der Erde – ihre Wälder und Meeresökosysteme – nicht einfach nur als Rohstofflieferanten betrachten dürfen, um uns zu ernähren und unsere Heime zu möblieren. Wir hätten instinktiv gefühlt, dass diese Ökosysteme unberührt bleiben müssen, denn sie sind Teil der lebendigen Erde.

Was sollen wir also tun? Zuerst müssen wir uns das ehrfurchtgebietende Tempo des Wandels vor Augen halten und erkennen, wie wenig Zeit noch zum Handeln bleibt; sodann muss jede Gemeinschaft und Nation die beste Verwendung ihrer Ressourcen herausfinden, um die Zivilisation, so lange sie kann, zu erhalten. Die Zivilisation ist energie-intensiv und wir können sie nicht einfach abschalten, ohne einen Zusammenbruch zu riskieren, also brauchen wir die Sicherheit eines kraftvoll betriebenen Herunterfahrens. Hier auf den britischen Inseln sind wir gewöhnt, an die ganze Menschheit zu denken und nicht nur an uns selbst; die Umweltveränderung ist global, aber mit den Konsequenzen müssen wir uns hier im Vereinigten Königreich auseinandersetzen.

Unglücklicherweise ist unsere Nation so verstädtert wie eine einzige große Stadt, und wir haben nur eine kleine Fläche für Land- und Forstwirtschaft. Wir sind abhängig vom Welthandel; eine Klimaveränderung wird uns die regelmäßige Versorgung mit Nahrungsmitteln und Brennstoffen aus Übersee verwehren.

Wir könnten genug anbauen, um uns auf dem Niveau des Zweiten Weltkrieges zu ernähren, aber die Vorstellung, dass genug Land da ist, um Biobrennstoffe oder Windparks anzulegen, ist lächerlich. Wir sollten unser bestes tun, um zu überleben, aber bedauerlicherweise kann ich nicht sehen, dass sich die USA oder die wachsenden Wirtschaften Chinas und Indiens rechtzeitig einschränken, und sie sind die Hauptquelle der Emissionen. Das Schlimmste wird passieren und die Überlebenden werden sich an ein Höllenklima anzupassen haben.

Das Traurigste ist vielleicht, dass die Erde genau so viel verlieren wird wie wir, oder sogar noch mehr. Es wird nicht nur die Tier- und Pflanzenwelt und das ganze Ökosystem dem Aussterben entgegen gehen, auch in der menschlichen Zivilisation hat der Planet eine wertvolle Ressource. Wir sind nicht nur eine Krankheit, sondern wir sind durch unsere Intellligenz und Kommunikation das Nervensystem dieses Planeten. Durch uns hat sich Gaia selbst vom Universum aus gesehen und beginnt ihren Platz im Universum zu erkennen.

Wir sollten das Herz und der Verstand der Erde sein, nicht ihre Krankheit. So lasst uns mutig sein und nicht mehr länger nur an die menschlichen Bedürfnisse und Rechte denken, sondern erkennen, dass wir der lebenden Erde geschadet haben und unseren Frieden mit Gaia schließen müssen. Wir müssen es tun, solange wir noch stark genug sind, um darüber zu verhandeln und solange wir noch nicht als zerrütteter Pöbelhaufen von brutalen Kriegsherren angeführt werden. Vor allem sollten wir uns bewusst bleiben, dass wir ein Teil Gaias sind und dass sie unser Zuhause ist.


Siehe auch:


James Lovelock: Nuclear power is the only green solution Artikel in The Independent vom 24.5.200



Hermann Scheer: Atomenergie oder Erneuerbare Energie? Oder: Wer ist Godot?



Jim E. Lovelock: Unsere Erde wird überlebenGaia – A new look at life on Earth (1979)



James Lovelock: Das Gaia-PrinzipDie Biographie unseres Planeten



James Lovelock: Gaia – Die Erde ist ein Lebewesen.



Im Gespräch mit James Lovelock



Elisabet Sahtouris: GaiaVergangenheit und Zukunft der Erde



oekom podcast: "Die Erde – ein Lebewesen? Über die Gaia-Hypothese von James Lovelock". Essay von Ugo Bardi