Leseprobe
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Einleitung Die
Zweifel mehren sich
„Marx
ist tot, Jesus lebt!“, hatte Norbert Blüm, Minister
für Arbeit und Soziales in der Regierung Kohl,
Werftarbeitern in Danzig triumphierend zugerufen. Das war 1989.
Hat Blüm in Bezug auf Marx Recht behalten? Tatsache ist:
Nicht erst seit Beginn der 2008 ausgebrochenen Finanz- und
Wirtschaftskrise interessieren sich viele wieder für Karl
Marx. Besonders der erste Band seines Hauptwerks „Das
Kapital“ aus dem Jahr 1867 ist gefragt wie seit Langem
nicht mehr. Der Dietz-Verlag in Berlin, der die Marx-Engels-Werke
schon in der DDR herausgegeben hatte, kam im Spätherbst 2008
mit dem Drucken kaum mehr nach. An vielen Universitäten gibt
es wieder Marx-Seminare, wie einst in den späten 60ern und
frühen 70ern. Die Wochenzeitung DIE ZEIT unterzog das Buch
im Herbst 2008 einer neuerlichen Rezension und widmete Marx ein
Jahr darauf ein eigenes Heft ihrer Geschichtsreihe. Die
bekannteste lebende Kommunistin Deutschlands, Sahra Wagenknecht,
wurde in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG für ihr Buch zur
Finanzkrise gelobt und in mehreren Interviews unter Prominente
des Wirtschaftslebens eingereiht. Der Erzbischof von
München-Freising, Reinhard Marx, nennt sein Buch über
aktuelle sozialethische Fragen frech „Das Kapital“,
er landet damit prompt auf der Bestsellerliste des SPIEGEL. Und
einer der renommiertesten Staatsrechtler und Rechtsphilosophen
der Bundesrepublik, der langjährige Bundesverfassungsrichter
Ernst-Wolfgang Böckenförde, ist davon überzeugt,
dass Marx „wieder aktueller“ wird.
Irgendwie
aus den Fugen
Das neue Interesse an dem vor fast
130 Jahren gestorbenen Karl Marx
hängt ganz offensichtlich damit zusammen, dass das Vertrauen
in die derzeit herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
rapide schwindet. Für über 85 Prozent der Deutschen ist
Gerechtigkeit ein „hohes Gut“, aber weniger als
20Prozent haben das Gefühl, dass es in Deutschland auch
gerecht zugeht. Auf' die soziale Marktwirtschaft sind 70 Prozent
nicht gut zu sprechen, 14 Prozent haben sogar eine Vorstellung
von einer möglichen Alternative. Diese Zahlen stammen noch
aus der Zeit, als zwar über Mindestlöhne und
Managergehälter gestritten wurde, die Finanz- und
Wirtschaftskrise aber noch nicht ausgebrochen war. Und heute,
nachdem die Wirtschaft wieder brummt? Nach neuesten Umfragen
halten zwar 82 Prozent ein weiteres Wirtschaftswachstum für
erforderlich, um die politische Stabilität zu erhalten, aber
die meisten glauben nicht, dass ein solches Wachstum ihre eigene
Lebensqualität verbessert. Außerdem ist in den Augen
fast aller Befragten das derzeit herrschende Wirtschaftssystem
sozial und ökologisch blind.
Auch wenn man gegenüber
Umfragen immer kritisch sein muss, so spiegeln sie doch ein weit
verbreitetes Unbehagen: Dieses Unbehagen gilt zum einen einer
Politik, der angesichts einer Finanz- und Wirtschaftskrise nichts
anderes einfällt, als durch beispiellos kostspielige
staatliche Programme nicht nur „systemrelevante“
Banken und Großunternehmen zu retten, die maßgeblich
mitverantwortlich für die Krise sind, sondern auch durch
„Abwrackprämien“ und Exportförderungsoffensiven
eine Form des Konsums anzuheizen, die den Teufel der ökonomischen
mit dem Beelzebub der ökologischen Krise auszutreiben
versucht. Das Unbehagen gilt zum anderen dem Wirtschaftssystem
selbst. Denn dieses hat mittlerweile eine ungeheure Macht über
die Menschen erlangt, obwohl der gigantische technische
Fortschritt, den dieses System hervorgebracht hat, eigentlich die
Macht des Menschen hätte vervielfachen sollen. Bei diesem
systembezogenen Unbehagen geht es nicht zuletzt um die
Legitimität einer Ordnung, deren Rhetorik sich seit ihren
Anfängen grundlegend gewandelt hat, resümiert Thomas
Assheuer in der ZEIT: Aus den „Schalmeienklängen der
Fortschrittsreligion“ ist der „metallische Sound des
Sachzwangs“, aus der „Versprechensökonomie“
eine „Erpressungsökonomie“ geworden. Im
Klartext: Früher hieß es: „Streng dich an, dann
geht es dir gut!“ Heute hört man: „Wenn du nicht
spurst, fällst du heraus!“
Und wer ist schuld,
wenn die Welt irgendwie aus den Fugen gerät? Natürlich
immer die Anderen: die gierigen Manager, die selbstsüchtigen
Politiker, die unkritischen Verbraucher und Sparer – oder
aus globaler Perspektive: die USA, China, der Islam usw.
Besonders gern wird auch von der Natur des Menschen als dem
eigentlichen Verursacher der Weltenlage gesprochen. Sind wir also
am Ende gar alle selber schuld? Fest steht: Wir sind mit einem
gigantischen Verschiebebahnhof der Verantwortung konfrontiert.
Dazu passen die Therapien: Die einen setzen auf die Binnen-, die
anderen auf die Exportwirtschaft, die einen wollen bei den Alten,
die anderen bei den Jungen sparen, die einen die gegenwärtige
Generation, die anderen die zukünftigen stärker
belasten. Das Weiterschieben von Lasten und Verantwortlichkeiten
in der Politik hat seine Entsprechung im privaten Alltag: Steigt
am Arbeitsplatz der Druck, müssen Gesundheit und Familie
darunter leiden. Die Last landet immer dort, wo ihr am wenigsten
Widerstand begegnet.
Was den Leser
erwartet
Statt sich an haltlosen Schiebereien und
konzeptlosen Reparaturaktivitäten zu beteiligen, beschreitet
dieses Buch einen anderen Weg. Es plädiert für das
Innehalten und die grundlegende Überprüfung der Art und
Weise unseres Wirtschaftens und Lebens. Grundsätzlich bieten
sich zwei Prüfungsstrategien an: Zum einen kann man Anspruch
und Wirklichkeit gegenüberstellen, also zum Beispiel fragen,
ob die bisherigen Wege zu Wohlstand und Glück, zu Frieden
und Gerechtigkeit erfolgreich waren. Eine solche Form der
Prüfung, die oft stattfindet, bleibt jedoch noch innerhalb
des gewohnten Denkens. Wenn die Antwort negativ ausfällt,
wird eine zweite Form der Prüfung unumgänglich: der
Vergleich von Wirklichkeit und Möglichkeit. Kann man sich
eine andere Form des Wirtschaftens und Lebens überhaupt
vorstellen? Diese Frage wird sehr viel seltener ernsthaft
gestellt. Ihre Beantwortung erfordert einen Rückgriff auf
eine grundlegend andere Weise des Denkens, einen radikalen
Ansatz. Radikal ist ein Denkansatz, wenn er, so die
Grundbedeutung des Wortes, die Verhältnisse „von der
Wurzel“ her zu begreifen sucht. Einen solchen Ansatz
vertritt Karl Marx.
„Wo
Marx Recht hat“ möchte in
das Denken des Karl Marx einführen
– aber nicht abstrakt. Die Einführung geht von einigen
jener Themen aus, die uns heute interessieren und beunruhigen.
Durch diesen konkreten Zugang sollen möglichst viele Türen
zu Marx geöffnet werden. Jeder
Leser soll seinen persönlichen Einstieg in eine Welt finden,
die oft als ziemlich unzugänglich erlebt wird. Zweierlei
soll in dieser Einführung deutlich werden: Erstens ist die
vor 150 Jahren durchgeführte Analyse von Wirtschaft und
Gesellschaft heute aktueller denn je. Und zweitens hat sie sich
im 20. Jahrhundert als enorm fruchtbar erwiesen. Auf ihrem Boden
entstand nämlich eine wissenschaftliche Tradition, die
sogenannte Kritische Theorie, die das Erbe des Karl Marx
pflegt und auch jene Fragen thematisiert, bei denen die
Marx'schen Antworten heute nicht
mehr ausreichen oder die Marx noch
gar nicht stellen konnte. Die Bedeutung, die Marx
im 21. Jahrhundert zukommt, erweist sich vor allem dann, wenn man
seine Erkenntnisse mit den erbärmlichen Angeboten des in der
breiten Öffentlichkeit und auch in großen Teilen der
Wirtschaftswissenschaft herrschenden Denkens kontrastiert.
Jedes
der neun Kapitel greift ein Thema der aktuellen
Kapitalismusdiskussion auf und verbindet es mit Marx.
In einem ersten Schritt wird dabei jeweils eine für das
Thema zentrale Zeitdiagnose angesprochen, die zu Fragen an die
herrschende Wissenschaft, vor allem die Wirtschaftswissenschaft,
Anlass gibt. Erst nach diesem kurzen Umweg wird im zweiten
Schritt die Marx'sche Sicht der
Dinge genauer vorgestellt. Die Rekonstruktion seiner Argumente
konzentriert sich auf einige wesentliche Begriffe, Zusammenhänge
und Zitate. Besonderer Wert wird auf die Architektur des
Marx'schen Denkens gelegt: Es soll
der Zusammenhang zwischen den Ausgangspunkten, für die sich
Marx entschieden hat, und den
Schlussfolgerungen, die damit vorgezeichnet sind, so klar wie
möglich sichtbar werden. Der letzte Teil jedes Kapitels
deutet an, welche überraschenden theoretischen Perspektiven
auf die Welt im 21. Jahrhundert dank der Marx'schen
Grundlage eröffnet werden. Hier wird auch nach den Gründen
für die erstaunliche Stabilität zu fragen sein, welche
die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bis
heute bewiesen hat. Und noch etwas: Niemand darf von einem Denker
des 19. Jahrhunderts unumstößliche Wahrheiten, präzise
Prognosen oder gar fertige Rezepte erwarten, wohl aber sinnvolle
Fragen und aussichtsreiche Wege zu ihrer Beantwortung. Genau das
ist bei Marx zu finden.
1.
Kapitel Himmel und Erde
Eine
„ernsthafte Depression“ sei „außerhalb
des Bereiches des Möglichen“, verkündete die
renommierte Harvard Economic Society im November 1929. Ein Jahr
später lag die Wirtschaft der gesamten westlichen Welt am
Boden. Sie hätten ihre Finanzgeschäfte im Einzelnen
selbst gar nicht verstanden, bekannten die Chefs der Deutschen
Industriebank (IKB) im September 2008. Kurz zuvor waren
milliardenschwere Löcher aufgetaucht, die Bank musste durch
staatliche Hilfe gerettet werden. Sie seien „schlecht
darin, Dinge vorauszusagen“, sie seien keine Propheten,
antwortete der Nobelpreisträger der
Wirtschaftswissenschaften Robert Solow auf die Frage, ob er sich
angesichts der katastrophalen Entwicklung der Wirtschaft nicht
manchmal für seinen Beruf schäme.
Wirtschaftswissenschaftler seien nur „Klempner“, so
der Nobelpreisträger weiter, und von einem Klempner erwarte
man auch keine Vorhersage, wann die Toilette zusammenbreche. Er
solle sie reparieren.
An welchem Wissen orientieren sich
die Praktiker der Wirtschaft eigentlich? Bei der Praxis des
Sanitärhandwerks ist es klar. Klempner müssen einiges
über Physik und Chemie gelernt haben, über
Verfahrenstechniken und Materialeigenschaften, wenn ihre Praxis
erfolgreich sein soll. Aber welchem Wissen über Wirtschaft
und Gesellschaft können sich Manager und Politiker
anvertrauen? Auf welchem Weg ist jenes Wissen eigentlich gewonnen
worden und wann führt ein Weg statt zur Erkenntnis zur
Täuschung? In diesem Kapitel wird der Leser zunächst
kurz mit einigen grundsätzlichen Schwierigkeiten der Suche
nach Erkenntnis konfrontiert, ehe er die Marx'sche
Antwort auf die zugrunde liegende erkenntnisphilosophische Frage
kennen lernt. Die Provokation des jungen Marx,
so wird sich zeigen, bestand darin, der gesamten Denkerzunft
seiner Zeit vorzuwerfen, sie würde einer fundamentalen
Täuschung aufsitzen, die auf einem falschen Weg bei der
Suche nach Wahrheit beruhe.
Wie
lassen wir uns täuschen?
Es gibt drei
Gegenbegriffe zum Begriff der Wahrheit: Lüge, Irrtum und
Täuschung. Der Begriff der Täuschung lässt offen,
ob es sich um eine beabsichtigte oder eine unbeabsichtigte
Verdrehung der Wahrheit handelt. Um solche Täuschungen geht
es im Folgenden. Warum kann man sich also auf dem Weg zur
Erkenntnis, gerade beim Thema Wirtschaft und Gesellschaft, so
leicht täuschen lassen – und selbst täuschen?
Jede
Erkenntnis beginnt mit einer „Ent-täuschung“:
dass die Sonne sich nicht um die Erde dreht, dass Sklaven keine
Nutztiere oder Werkzeuge sind oder dass Gelbsucht nicht durch die
Einnahme roter Säfte geheilt werden kann. „Enttäuschung“
als erster Schritt zu einer Erkenntnis heißt, von einer
gewohnten Sicht der Dinge Abstand zu nehmen. Allein das ist schon
nicht ganz einfach, wie wir aus eigener Erfahrung wissen. Das
Umdenken erfordert geistige Flexibilität. Noch schwieriger
wird es, wenn Interessen im Spiel sind, die dann im Fall der
„Ent-täuschung“ konsequenterweise aufgegeben
werden müssen. Es kann bekanntlich sehr schmerzhaft sein,
erkennen zu müssen, einen Beruf gewählt zu haben, der
nicht zu einem passt, oder eine Karriere verfolgt zu haben, die
unglücklich macht. Wenn es um Wirtschaft und Gesellschaft
geht, spielen Interessen verständlicherweise eine zentrale
Rolle.
Man stelle sich, ehe mit grundsätzlichen
Überlegungen zur Gewinnung von Erkenntnissen über
Wirtschaft und Gesellschaft begonnen wird, kurz einen konkreten
Fall vor, um die Bedeutung von Interessen für die Erkenntnis
zu veranschaulichen. Eine geschiedene Münchnerin,
alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, von Beruf
Altenpflegerin, braucht zwei Jobs, um ihre Familie
durchzubringen. Sie macht sich Vorwürfe, dass ihr dadurch zu
wenig Zeit für ihre Kinder bleibt. Aber sie weiß
nicht, wie sich das ändern ließe. Warum ist die
Situation so, wie sie ist? Sie selbst wird vielleicht sagen: Ich
hätte mich nicht scheiden lassen sollen, ich hätte mich
mit einem Kind begnügen sollen, ich hätte nicht in die
Großstadt ziehen sollen, ich hätte eine andere
Ausbildung machen sollen usw. Ganz anders ist die Perspektive,
die ein Sozialforscher auf die schwierige Lebenssituation im
vorliegenden Fall hat: Der Ex-Mann hat bei der Scheidung
geschickt Lücken im Unterhaltsrecht genutzt, die Mieten in
Ballungszentren übersteigen die zumutbaren Kosten im unteren
Einkommensbereich, das Einkommensniveau im Bereich der
Altenpflege ist aufgrund der relativ niedrigen Qualifikation, des
geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrades und des großen
Andrangs an Arbeitskräften aus Osteuropa außerordentlich
niedrig usw. Welche der beiden Perspektiven entspricht nun der
Wahrheit? Die der Frau selbst, die nur ihr individuelles
Verhalten im Blick hat, oder die des Forschers, der sich
ausschließlich für die äußeren Bedingungen
dieses Verhaltens interessiert? Beide haben irgendwie Recht, die
vollständige Abbildung der Wirklichkeit ergibt sich erst aus
der Zusammenschau und der Einordnung der beiden
Perspektiven.
Diese Eigenart von Erkenntnis begegnet uns
bei allen wirtschaftlichen und sozialen Themen. Warum müssen
so viele Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten? Warum
können manche Menschen Geld für sich arbeiten lassen?
Warum sind die Äpfel aus Neuseeland beim Discounter billiger
als die heimischen auf dem Markt? Der Standpunkt desjenigen, der
nach der Wahrheit sucht, weist den Weg der Erkenntnis. Er ist
maßgeblich dafür verantwortlich, welche Fragen
gestellt werden und welche nicht, und auch dafür, wo die
Antwort gesucht wird. Wer an Erkenntnis wirklich interessiert
ist, der sollte sich diesen Zusammenhang zwischen Standpunkt,
Interesse und Erkenntnis bewusstmachen. Die alleinerziehende
Mutter ist in einer Welt aufgewachsen, in der den Menschen von
früh an beigebracht wird, jeder sei für sich selbst
verantwortlich; und der Sozialforscher arbeitet vielleicht gerade
im Auftrag der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und des
Sozialreferats der Stadt München an einer Projektstudie zum
Thema „Biografische Risikofaktoren und Armut“, die
Grundlage für die kommende Tarifauseinandersetzung und die
Sozialpolitik der Kommune werden soll.
Wie sehr
Standpunkte und Interessen die Qualität von Erkenntnissen
beeinflussen, zeigt auch ein Blick in unsere Alltagssprache. Sie
steckt voller Hinweise auf interessenbedingte Täuschungen.
Das beginnt bei der Rede von „Arbeitgebern“ und
„Arbeitnehmern“. Diese Rede stellt die wirklichen
Verhältnisse auf den Kopf, denn schließlich ist es der
Arbeitgeber, der die Arbeit nimmt, und der Arbeitnehmer, der sie
gibt. Die Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer beziehen sich nur
auf die Gelegenheit zum Arbeiten. Es geht weiter mit der
verbreiteten Vorstellung, es gebe ein allgemeines Interesse an
einer niedrigen Arbeitslosigkeit. Tatsächlich aber können
nur jene an einer niedrigen Arbeitslosigkeit interessiert sein,
die auf Arbeitsplätze angewiesen sind, weil sie die
Grundlage für ihren Lebensunterhalt sind. Wer hingegen
Arbeitsplätze zur Verfügung stellt, für den hat
eine hohe Arbeitslosigkeit den großen Vorteil, dass er sich
die Arbeitswilligen aussuchen und die Arbeitsbedingungen
inklusive der Entlohnung der Arbeit nach seinen Vorstellungen
gestalten kann. Eine weit verbreitete Täuschung verbirgt
sich auch hinter der wohlfeilen Behauptung, Bildung würde
Arbeitsplätze sichern. Tatsächlich führt Bildung
zunächst nur dazu, dass die mehr Gebildeten die weniger
Gebildeten auf den Arbeitsmärkten verdrängen. Erst
zusätzliche Arbeitsplätze lassen Bildung zur
Einkommensquelle werden. Zudem kennt jeder die beliebte Rede
davon, dass man Geld „arbeiten“ lassen könne.
Niemand hat je dem Geld beim „Arbeiten“ zugesehen, es
bedarf immer noch leibhaftiger Menschen, um unter Verwendung von
Geld etwas hervorzubringen.
Am hartnäckigsten sind
oft jene Täuschungen, die in unserem Inneren stattfinden.
Wie oft glauben wir, der Kauf eines neuen Konsumgegenstands sei
für unser Wohlbefinden unverzichtbar, und stellen kurz
darauf schmerzlich fest, wie schnell die Freude an ihm wieder
verflogen ist, oft auch deshalb, weil viele andere sich ebenfalls
mit diesem Gut versorgt haben, so dass es zum Standard geworden
ist. Für viele erweist sich die Ausrichtung des Lebens auf
berufliche Karriere und materielle Wohlstandssteigerung mittel-
und langfristig als Selbsttäuschung, wenn sie erkennen
müssen, dass Wohlbefinden und Glück von ganz anderen
Umständen abhängen, wie zum Beispiel guten persönlichen
Beziehungen und kreativen Tätigkeiten. Es gibt sogar
Hinweise darauf, dass materieller Wohlstand die Genussfähigkeit
geradezu beeinträchtigt. Dabei müssen, das zeigen
neuere Untersuchungen, Menschen nicht einmal persönlich
wohlhabend sein, es reicht oft allein die Vorstellung einer Menge
Geldes aus, um den Geschmack etwa eines Stückes Schokolade
zu verderben. Auch solche inneren Täuschungen sind
bekanntlich mit ganz bestimmten Interessen verknüpft,
nämlich mit den Interessen derer, die vom Verkauf der
Konsumgüter profitieren, genauso wie mit unseren eigenen,
indem wir uns durch das Konsumieren für den vorausgegangenen
Stress am Arbeitsplatz entschädigen wollen oder indem wir
vom Reichwerden träumen.
Der
Blick hinter die Fassade
Wie können wir uns
vor Fremd- und Selbsttäuschungen schützen, hinter die
diversen Fassaden schauen? Das war die zentrale Frage des jungen
Karl Marx. Vor allem in der
„Deutschen Ideologie“, einer zwischen 1845 und 1846
verfassten Streitschrift, attackierten Marx
und Engels die Schüler des deutschen Philosophen Georg
Wilhelm Friedrich Hegel, die sogenannten Junghegelianer, aber
auch die klassische Wirtschaftstheorie. In diesem Text findet
sich ein methodischer Vorschlag, der die damals vorherrschende
Art der Erkenntnisgewinnung radikal in Frage stellt. Dieser
Vorschlag ist grundlegend für das ganze Marx'sche
Werk.
(...)
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