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Fritz Reheis
Wo Marx recht hat




Darmstadt 2011 (Primus); 208 Seiten; ISBN 978-3-89678-709-5
Dieses Buch ist
in Kurzfassung auch als Hörbuch erhältlich.




Der freie Markt triumphiert, der Kommunismus ist tot! Diese vermeintliche Gewissheit aus der Zeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hat tiefe Risse bekommen. Die Finanzkrise, entfesselt von einem deregulierten Markt, zeigt eindrucksvoll, dass Marx' vor 150 Jahren durchgeführte Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft heute durchaus wieder Aktualität besitzt und sich als enorm fruchtbar für die Kapitalismusdiskussion erweisen kann. In jedem der zehn Kapitel greift Fritz Reheis einen Diskussionspunkt der aktuellen Kapitalismusdebatte auf, um ihn mit wesentlichen Argumenten der Marx‘schen Diagnose zu konfrontieren. Reheis zeigt, dass Marx zwar keine unumstößlichen Wahrheiten oder gar fertigen Rezepte zur Lösung der gegenwärtigen Krise bietet, wohl aber sinnvolle Fragen aufwirft und aussichtsreiche Wege aufzeigt, die den Blick für die Schwächen der derzeit herrschenden Ordnung schärfen.


Fritz Reheis


Jahrgang 1949, studierte Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Pädagogik. Er promovierte in Soziologie und absolvierte ein Erweiterungsstudium in Philosophie für das Lehramt an Gymnasien. Seit 1983 unterrichtet er als Gymnasiallehrer in Neustadt bei Coburg. Zusätzlich ist er seit zwölf Jahren nebenamtlich als Lehrbeauftragter für Politik, Zeitgeschichte, Soziologie und Pädagogik an mehreren Hochschulen tätig.


Inhaltsverzeichnis


Einleitung: Die Zweifel mehren sich
Irgendwie aus den Fugen – Was den Leser erwartet

1. Kapitel: Himmel und Erde
Wie lassen wir uns täuschen?
Der Blick hinter die Fassade
Der Ausgangspunkt – Die Produktion des Lebens und das Bewusstsein – Täuschungen
Strukturen
Zusammenfassung

2. Kapitel: Arbeit und Ausbeutung
Woher kommt der Reichtum?
Die Funktionsweise der Ausbeutung
Privateigentum – Ware, Geld, Kapital – Der Grundwiderspruch
Globalisierung
Zusammenfassung

3. Kapitel: Sinnlichkeit und Gier
Ist Maßlosigkeit angeboren?
Die Verödung der Sinne
Das allseitige Wesen des Menschen – Privateigentum und Entfremdung
Bulimie
Zusammenfassung

4. Kapitel: Ordnung und Herrschaft
Hat die Vernunft gesiegt?
Die Unterwerfung des Menschen
»Alles Ständische und Stehende verdampft« – Produktion um der Produktion willen
Selbstzwang
Zusammenfassung

5. Kapitel: Vertrauen und Betrug
Ist der Mensch des Menschen Wolf?
Die Vergötterung der Verhältnisse
Der Fetisch von Ware und Geld – Der Fetisch des Lohns – Der Einkommensfetisch oder Die Heilige Dreifaltigkeit
Gleichschaltung
Zusammenfassung

6. Kapitel: Risiko und Krise
Sind Krisen heilsam?
Die Produktion von Unsicherheit
Die Möglichkeit der Krise – Die Notwendigkeit der Krise
Virtualisierung
Zusammenfassung

7. Kapitel: Fortschritt und Revolution
Ist die kommunistische Utopie gescheitert?
Die Überwindung des Kapitalismus
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse – Sprengung der Fesseln
Übergänge
Zusammenfassung

8. Kapitel: Jenseits des Kapitalismus
„Sozialismus oder Barbarei?“
Die Utopie des Kommunismus
Der neue Mensch – Die freie Assoziation der Produzenten
Alternativen
Zusammenfassung

9. Kapitel: Grundlagen des Lebens
Wovon leben wir?
Der unorganische und der organische Leib des Menschen
Springquellen des Reichtums – Zerlegung der Welt und Kreislaufstörungen
Nachhaltigkeit
Zusammenfassung

Ausblick: Und was nun?

Dank, Anmerkungen, Literatur


Inhalt des Hörbuchs


Die Zweifel mehren sich
Arbeit und Ausbeutung
Zusammenfassung
Ordnung und Herrschaft
Zusammenfassung
Die Grundlagen des Lebens
Zusammenfassung

Gesamtlaufzeit 72:33 Minuten


Leseprobe


Einleitung
Die Zweifel mehren sich


„Marx ist tot, Jesus lebt!“, hatte Norbert Blüm, Minister für Arbeit und Soziales in der Regierung Kohl, Werftarbeitern in Danzig triumphierend zugerufen. Das war 1989. Hat Blüm in Bezug auf Marx Recht behalten? Tatsache ist: Nicht erst seit Beginn der 2008 ausgebrochenen Finanz- und Wirtschaftskrise interessieren sich viele wieder für Karl Marx. Besonders der erste Band seines Hauptwerks „Das Kapital“ aus dem Jahr 1867 ist gefragt wie seit Langem nicht mehr. Der Dietz-Verlag in Berlin, der die Marx-Engels-Werke schon in der DDR herausgegeben hatte, kam im Spätherbst 2008 mit dem Drucken kaum mehr nach. An vielen Universitäten gibt es wieder Marx-Seminare, wie einst in den späten 60ern und frühen 70ern. Die Wochenzeitung DIE ZEIT unterzog das Buch im Herbst 2008 einer neuerlichen Rezension und widmete Marx ein Jahr darauf ein eigenes Heft ihrer Geschichtsreihe. Die bekannteste lebende Kommunistin Deutschlands, Sahra Wagenknecht, wurde in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG für ihr Buch zur Finanzkrise gelobt und in mehreren Interviews unter Prominente des Wirtschaftslebens eingereiht. Der Erzbischof von München-Freising, Reinhard Marx, nennt sein Buch über aktuelle sozialethische Fragen frech „Das Kapital“, er landet damit prompt auf der Bestsellerliste des SPIEGEL. Und einer der renommiertesten Staatsrechtler und Rechtsphilosophen der Bundesrepublik, der langjährige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, ist davon überzeugt, dass Marx „wieder aktueller“ wird.

Irgendwie aus den Fugen

Das neue Interesse an dem vor fast 130 Jahren gestorbenen Karl Marx hängt ganz offensichtlich damit zusammen, dass das Vertrauen in die derzeit herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung rapide schwindet. Für über 85 Prozent der Deutschen ist Gerechtigkeit ein „hohes Gut“, aber weniger als 20Prozent haben das Gefühl, dass es in Deutschland auch gerecht zugeht. Auf' die soziale Marktwirtschaft sind 70 Prozent nicht gut zu sprechen, 14 Prozent haben sogar eine Vorstellung von einer möglichen Alternative. Diese Zahlen stammen noch aus der Zeit, als zwar über Mindestlöhne und Managergehälter gestritten wurde, die Finanz- und Wirtschaftskrise aber noch nicht ausgebrochen war. Und heute, nachdem die Wirtschaft wieder brummt? Nach neuesten Umfragen halten zwar 82 Prozent ein weiteres Wirtschaftswachstum für erforderlich, um die politische Stabilität zu erhalten, aber die meisten glauben nicht, dass ein solches Wachstum ihre eigene Lebensqualität verbessert. Außerdem ist in den Augen fast aller Befragten das derzeit herrschende Wirtschaftssystem sozial und ökologisch blind.

Auch wenn man gegenüber Umfragen immer kritisch sein muss, so spiegeln sie doch ein weit verbreitetes Unbehagen: Dieses Unbehagen gilt zum einen einer Politik, der angesichts einer Finanz- und Wirtschaftskrise nichts anderes einfällt, als durch beispiellos kostspielige staatliche Programme nicht nur „systemrelevante“ Banken und Großunternehmen zu retten, die maßgeblich mitverantwortlich für die Krise sind, sondern auch durch „Abwrackprämien“ und Exportförderungsoffensiven eine Form des Konsums anzuheizen, die den Teufel der ökonomischen mit dem Beelzebub der ökologischen Krise auszutreiben versucht. Das Unbehagen gilt zum anderen dem Wirtschaftssystem selbst. Denn dieses hat mittlerweile eine ungeheure Macht über die Menschen erlangt, obwohl der gigantische technische Fortschritt, den dieses System hervorgebracht hat, eigentlich die Macht des Menschen hätte vervielfachen sollen. Bei diesem systembezogenen Unbehagen geht es nicht zuletzt um die Legitimität einer Ordnung, deren Rhetorik sich seit ihren Anfängen grundlegend gewandelt hat, resümiert Thomas Assheuer in der ZEIT: Aus den „Schalmeienklängen der Fortschrittsreligion“ ist der „metallische Sound des Sachzwangs“, aus der „Versprechensökonomie“ eine „Erpressungsökonomie“ geworden. Im Klartext: Früher hieß es: „Streng dich an, dann geht es dir gut!“ Heute hört man: „Wenn du nicht spurst, fällst du heraus!“

Und wer ist schuld, wenn die Welt irgendwie aus den Fugen gerät? Natürlich immer die Anderen: die gierigen Manager, die selbstsüchtigen Politiker, die unkritischen Verbraucher und Sparer – oder aus globaler Perspektive: die USA, China, der Islam usw. Besonders gern wird auch von der Natur des Menschen als dem eigentlichen Verursacher der Weltenlage gesprochen. Sind wir also am Ende gar alle selber schuld? Fest steht: Wir sind mit einem gigantischen Verschiebebahnhof der Verantwortung konfrontiert. Dazu passen die Therapien: Die einen setzen auf die Binnen-, die anderen auf die Exportwirtschaft, die einen wollen bei den Alten, die anderen bei den Jungen sparen, die einen die gegenwärtige Generation, die anderen die zukünftigen stärker belasten. Das Weiterschieben von Lasten und Verantwortlichkeiten in der Politik hat seine Entsprechung im privaten Alltag: Steigt am Arbeitsplatz der Druck, müssen Gesundheit und Familie darunter leiden. Die Last landet immer dort, wo ihr am wenigsten Widerstand begegnet.

Was den Leser erwartet

Statt sich an haltlosen Schiebereien und konzeptlosen Reparaturaktivitäten zu beteiligen, beschreitet dieses Buch einen anderen Weg. Es plädiert für das Innehalten und die grundlegende Überprüfung der Art und Weise unseres Wirtschaftens und Lebens. Grundsätzlich bieten sich zwei Prüfungsstrategien an: Zum einen kann man Anspruch und Wirklichkeit gegenüberstellen, also zum Beispiel fragen, ob die bisherigen Wege zu Wohlstand und Glück, zu Frieden und Gerechtigkeit erfolgreich waren. Eine solche Form der Prüfung, die oft stattfindet, bleibt jedoch noch innerhalb des gewohnten Denkens. Wenn die Antwort negativ ausfällt, wird eine zweite Form der Prüfung unumgänglich: der Vergleich von Wirklichkeit und Möglichkeit. Kann man sich eine andere Form des Wirtschaftens und Lebens überhaupt vorstellen? Diese Frage wird sehr viel seltener ernsthaft gestellt. Ihre Beantwortung erfordert einen Rückgriff auf eine grundlegend andere Weise des Denkens, einen radikalen Ansatz. Radikal ist ein Denkansatz, wenn er, so die Grundbedeutung des Wortes, die Verhältnisse „von der Wurzel“ her zu begreifen sucht. Einen solchen Ansatz vertritt Karl Marx.

„Wo Marx Recht hat“ möchte in das Denken des Karl Marx einführen – aber nicht abstrakt. Die Einführung geht von einigen jener Themen aus, die uns heute interessieren und beunruhigen. Durch diesen konkreten Zugang sollen möglichst viele Türen zu Marx geöffnet werden. Jeder Leser soll seinen persönlichen Einstieg in eine Welt finden, die oft als ziemlich unzugänglich erlebt wird. Zweierlei soll in dieser Einführung deutlich werden: Erstens ist die vor 150 Jahren durchgeführte Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft heute aktueller denn je. Und zweitens hat sie sich im 20. Jahrhundert als enorm fruchtbar erwiesen. Auf ihrem Boden entstand nämlich eine wissenschaftliche Tradition, die sogenannte Kritische Theorie, die das Erbe des Karl Marx pflegt und auch jene Fragen thematisiert, bei denen die Marx'schen Antworten heute nicht mehr ausreichen oder die Marx noch gar nicht stellen konnte. Die Bedeutung, die Marx im 21. Jahrhundert zukommt, erweist sich vor allem dann, wenn man seine Erkenntnisse mit den erbärmlichen Angeboten des in der breiten Öffentlichkeit und auch in großen Teilen der Wirtschaftswissenschaft herrschenden Denkens kontrastiert.

Jedes der neun Kapitel greift ein Thema der aktuellen Kapitalismusdiskussion auf und verbindet es mit Marx. In einem ersten Schritt wird dabei jeweils eine für das Thema zentrale Zeitdiagnose angesprochen, die zu Fragen an die herrschende Wissenschaft, vor allem die Wirtschaftswissenschaft, Anlass gibt. Erst nach diesem kurzen Umweg wird im zweiten Schritt die Marx'sche Sicht der Dinge genauer vorgestellt. Die Rekonstruktion seiner Argumente konzentriert sich auf einige wesentliche Begriffe, Zusammenhänge und Zitate. Besonderer Wert wird auf die Architektur des Marx'schen Denkens gelegt: Es soll der Zusammenhang zwischen den Ausgangspunkten, für die sich Marx entschieden hat, und den Schlussfolgerungen, die damit vorgezeichnet sind, so klar wie möglich sichtbar werden. Der letzte Teil jedes Kapitels deutet an, welche überraschenden theoretischen Perspektiven auf die Welt im 21. Jahrhundert dank der Marx'schen Grundlage eröffnet werden. Hier wird auch nach den Gründen für die erstaunliche Stabilität zu fragen sein, welche die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bis heute bewiesen hat. Und noch etwas: Niemand darf von einem Denker des 19. Jahrhunderts unumstößliche Wahrheiten, präzise Prognosen oder gar fertige Rezepte erwarten, wohl aber sinnvolle Fragen und aussichtsreiche Wege zu ihrer Beantwortung. Genau das ist bei Marx zu finden.

1. Kapitel
Himmel und Erde


Eine „ernsthafte Depression“ sei „außerhalb des Bereiches des Möglichen“, verkündete die renommierte Harvard Economic Society im November 1929. Ein Jahr später lag die Wirtschaft der gesamten westlichen Welt am Boden. Sie hätten ihre Finanzgeschäfte im Einzelnen selbst gar nicht verstanden, bekannten die Chefs der Deutschen Industriebank (IKB) im September 2008. Kurz zuvor waren milliardenschwere Löcher aufgetaucht, die Bank musste durch staatliche Hilfe gerettet werden. Sie seien „schlecht darin, Dinge vorauszusagen“, sie seien keine Propheten, antwortete der Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften Robert Solow auf die Frage, ob er sich angesichts der katastrophalen Entwicklung der Wirtschaft nicht manchmal für seinen Beruf schäme. Wirtschaftswissenschaftler seien nur „Klempner“, so der Nobelpreisträger weiter, und von einem Klempner erwarte man auch keine Vorhersage, wann die Toilette zusammenbreche. Er solle sie reparieren.

An welchem Wissen orientieren sich die Praktiker der Wirtschaft eigentlich? Bei der Praxis des Sanitärhandwerks ist es klar. Klempner müssen einiges über Physik und Chemie gelernt haben, über Verfahrenstechniken und Materialeigenschaften, wenn ihre Praxis erfolgreich sein soll. Aber welchem Wissen über Wirtschaft und Gesellschaft können sich Manager und Politiker anvertrauen? Auf welchem Weg ist jenes Wissen eigentlich gewonnen worden und wann führt ein Weg statt zur Erkenntnis zur Täuschung? In diesem Kapitel wird der Leser zunächst kurz mit einigen grundsätzlichen Schwierigkeiten der Suche nach Erkenntnis konfrontiert, ehe er die Marx'sche Antwort auf die zugrunde liegende erkenntnisphilosophische Frage kennen lernt. Die Provokation des jungen Marx, so wird sich zeigen, bestand darin, der gesamten Denkerzunft seiner Zeit vorzuwerfen, sie würde einer fundamentalen Täuschung aufsitzen, die auf einem falschen Weg bei der Suche nach Wahrheit beruhe.

Wie lassen wir uns täuschen?

Es gibt drei Gegenbegriffe zum Begriff der Wahrheit: Lüge, Irrtum und Täuschung. Der Begriff der Täuschung lässt offen, ob es sich um eine beabsichtigte oder eine unbeabsichtigte Verdrehung der Wahrheit handelt. Um solche Täuschungen geht es im Folgenden. Warum kann man sich also auf dem Weg zur Erkenntnis, gerade beim Thema Wirtschaft und Gesellschaft, so leicht täuschen lassen – und selbst täuschen?

Jede Erkenntnis beginnt mit einer „Ent-täuschung“: dass die Sonne sich nicht um die Erde dreht, dass Sklaven keine Nutztiere oder Werkzeuge sind oder dass Gelbsucht nicht durch die Einnahme roter Säfte geheilt werden kann. „Enttäuschung“ als erster Schritt zu einer Erkenntnis heißt, von einer gewohnten Sicht der Dinge Abstand zu nehmen. Allein das ist schon nicht ganz einfach, wie wir aus eigener Erfahrung wissen. Das Umdenken erfordert geistige Flexibilität. Noch schwieriger wird es, wenn Interessen im Spiel sind, die dann im Fall der „Ent-täuschung“ konsequenterweise aufgegeben werden müssen. Es kann bekanntlich sehr schmerzhaft sein, erkennen zu müssen, einen Beruf gewählt zu haben, der nicht zu einem passt, oder eine Karriere verfolgt zu haben, die unglücklich macht. Wenn es um Wirtschaft und Gesellschaft geht, spielen Interessen verständlicherweise eine zentrale Rolle.

Man stelle sich, ehe mit grundsätzlichen Überlegungen zur Gewinnung von Erkenntnissen über Wirtschaft und Gesellschaft begonnen wird, kurz einen konkreten Fall vor, um die Bedeutung von Interessen für die Erkenntnis zu veranschaulichen. Eine geschiedene Münchnerin, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, von Beruf Altenpflegerin, braucht zwei Jobs, um ihre Familie durchzubringen. Sie macht sich Vorwürfe, dass ihr dadurch zu wenig Zeit für ihre Kinder bleibt. Aber sie weiß nicht, wie sich das ändern ließe. Warum ist die Situation so, wie sie ist? Sie selbst wird vielleicht sagen: Ich hätte mich nicht scheiden lassen sollen, ich hätte mich mit einem Kind begnügen sollen, ich hätte nicht in die Großstadt ziehen sollen, ich hätte eine andere Ausbildung machen sollen usw. Ganz anders ist die Perspektive, die ein Sozialforscher auf die schwierige Lebenssituation im vorliegenden Fall hat: Der Ex-Mann hat bei der Scheidung geschickt Lücken im Unterhaltsrecht genutzt, die Mieten in Ballungszentren übersteigen die zumutbaren Kosten im unteren Einkommensbereich, das Einkommensniveau im Bereich der Altenpflege ist aufgrund der relativ niedrigen Qualifikation, des geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrades und des großen Andrangs an Arbeitskräften aus Osteuropa außerordentlich niedrig usw. Welche der beiden Perspektiven entspricht nun der Wahrheit? Die der Frau selbst, die nur ihr individuelles Verhalten im Blick hat, oder die des Forschers, der sich ausschließlich für die äußeren Bedingungen dieses Verhaltens interessiert? Beide haben irgendwie Recht, die vollständige Abbildung der Wirklichkeit ergibt sich erst aus der Zusammenschau und der Einordnung der beiden Perspektiven.

Diese Eigenart von Erkenntnis begegnet uns bei allen wirtschaftlichen und sozialen Themen. Warum müssen so viele Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten? Warum können manche Menschen Geld für sich arbeiten lassen? Warum sind die Äpfel aus Neuseeland beim Discounter billiger als die heimischen auf dem Markt? Der Standpunkt desjenigen, der nach der Wahrheit sucht, weist den Weg der Erkenntnis. Er ist maßgeblich dafür verantwortlich, welche Fragen gestellt werden und welche nicht, und auch dafür, wo die Antwort gesucht wird. Wer an Erkenntnis wirklich interessiert ist, der sollte sich diesen Zusammenhang zwischen Standpunkt, Interesse und Erkenntnis bewusstmachen. Die alleinerziehende Mutter ist in einer Welt aufgewachsen, in der den Menschen von früh an beigebracht wird, jeder sei für sich selbst verantwortlich; und der Sozialforscher arbeitet vielleicht gerade im Auftrag der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und des Sozialreferats der Stadt München an einer Projektstudie zum Thema „Biografische Risikofaktoren und Armut“, die Grundlage für die kommende Tarifauseinandersetzung und die Sozialpolitik der Kommune werden soll.

Wie sehr Standpunkte und Interessen die Qualität von Erkenntnissen beeinflussen, zeigt auch ein Blick in unsere Alltagssprache. Sie steckt voller Hinweise auf interessenbedingte Täuschungen. Das beginnt bei der Rede von „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“. Diese Rede stellt die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf, denn schließlich ist es der Arbeitgeber, der die Arbeit nimmt, und der Arbeitnehmer, der sie gibt. Die Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer beziehen sich nur auf die Gelegenheit zum Arbeiten. Es geht weiter mit der verbreiteten Vorstellung, es gebe ein allgemeines Interesse an einer niedrigen Arbeitslosigkeit. Tatsächlich aber können nur jene an einer niedrigen Arbeitslosigkeit interessiert sein, die auf Arbeitsplätze angewiesen sind, weil sie die Grundlage für ihren Lebensunterhalt sind. Wer hingegen Arbeitsplätze zur Verfügung stellt, für den hat eine hohe Arbeitslosigkeit den großen Vorteil, dass er sich die Arbeitswilligen aussuchen und die Arbeitsbedingungen inklusive der Entlohnung der Arbeit nach seinen Vorstellungen gestalten kann. Eine weit verbreitete Täuschung verbirgt sich auch hinter der wohlfeilen Behauptung, Bildung würde Arbeitsplätze sichern. Tatsächlich führt Bildung zunächst nur dazu, dass die mehr Gebildeten die weniger Gebildeten auf den Arbeitsmärkten verdrängen. Erst zusätzliche Arbeitsplätze lassen Bildung zur Einkommensquelle werden. Zudem kennt jeder die beliebte Rede davon, dass man Geld „arbeiten“ lassen könne. Niemand hat je dem Geld beim „Arbeiten“ zugesehen, es bedarf immer noch leibhaftiger Menschen, um unter Verwendung von Geld etwas hervorzubringen.

Am hartnäckigsten sind oft jene Täuschungen, die in unserem Inneren stattfinden. Wie oft glauben wir, der Kauf eines neuen Konsumgegenstands sei für unser Wohlbefinden unverzichtbar, und stellen kurz darauf schmerzlich fest, wie schnell die Freude an ihm wieder verflogen ist, oft auch deshalb, weil viele andere sich ebenfalls mit diesem Gut versorgt haben, so dass es zum Standard geworden ist. Für viele erweist sich die Ausrichtung des Lebens auf berufliche Karriere und materielle Wohlstandssteigerung mittel- und langfristig als Selbsttäuschung, wenn sie erkennen müssen, dass Wohlbefinden und Glück von ganz anderen Umständen abhängen, wie zum Beispiel guten persönlichen Beziehungen und kreativen Tätigkeiten. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass materieller Wohlstand die Genussfähigkeit geradezu beeinträchtigt. Dabei müssen, das zeigen neuere Untersuchungen, Menschen nicht einmal persönlich wohlhabend sein, es reicht oft allein die Vorstellung einer Menge Geldes aus, um den Geschmack etwa eines Stückes Schokolade zu verderben. Auch solche inneren Täuschungen sind bekanntlich mit ganz bestimmten Interessen verknüpft, nämlich mit den Interessen derer, die vom Verkauf der Konsumgüter profitieren, genauso wie mit unseren eigenen, indem wir uns durch das Konsumieren für den vorausgegangenen Stress am Arbeitsplatz entschädigen wollen oder indem wir vom Reichwerden träumen.

Der Blick hinter die Fassade

Wie können wir uns vor Fremd- und Selbsttäuschungen schützen, hinter die diversen Fassaden schauen? Das war die zentrale Frage des jungen Karl Marx. Vor allem in der „Deutschen Ideologie“, einer zwischen 1845 und 1846 verfassten Streitschrift, attackierten Marx und Engels die Schüler des deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die sogenannten Junghegelianer, aber auch die klassische Wirtschaftstheorie. In diesem Text findet sich ein methodischer Vorschlag, der die damals vorherrschende Art der Erkenntnisgewinnung radikal in Frage stellt. Dieser Vorschlag ist grundlegend für das ganze Marx'sche Werk.

(...)


Siehe auch


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