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»Infolge
der globalisierten, wild wütenden Kapitalmärkte ist
eine Weltordnung entstanden, die den Lebensinteressen der großen
Mehrheit zuwiderläuft. Von 6,2 Milliarden Menschen leben 4,8
in einem der 122 so genannten Entwicklungsländer, meist
unter unwürdigen Bedingungen. 100 000 Menschen sterben
jeden Tag an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Alle sieben
Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Dieser tägliche,
stille Völkermord geschieht auf einem, Planeten, der von
Reichtum überquillt. Dabei könnte die Erde problemlos
12 Milliarden Menschen hinreichend ernähren. Hunger ist kein
Schicksal. Hinter jedem Opfer steht ein Mörder. Wer Geld
hat, isst und lebt; wer keines hat, hungert, wird invalid oder
stirbt.«
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Ist
es nicht empörend, dass so viele Kinder in Afrika, Asien und
Lateinamerika an Hunger sterben, während sich gleichzeitig
die Menschen hier, bei uns in Europa den Bauch voll schlagen und
immer dicker werden, dass die Geschäfte vor Nahrungsmitteln
überquellen und dass man schließlich Lebensmittel in
den Müll wirft, mit denen man viele hungernde Kinder
ernähren könnte?
Du hast Recht, Karim.
Der Skandal schreit zum Himmel, und da wir gerade im Frühling
2000 zusammen diskutieren, ist deine Empörung umso
berechtigter: Fürchterliche Hungersnöte suchen dieser
Tage verschiedene Weltgegenden heim, insbesondere das
ostafrikanische Land Somalia.
Seit Tagen strahlt das
Fernsehen in den Abendnachrichten die Bilder der somalischen
Hungergestalten – Männer, Frauen und Kinder –
aus, die auf ihren spindeldürren Beinen stolpernd aus dem
Süden Somalias zu fliehen versuchen, ohne dass sich in
Europa auch nur die geringste Anteilnahme regt. Hast du diese
Bilder gesehen?
Deshalb sage ich ja,
dass es empörend ist!
Weißt du, ich
glaube, dass niemand bei uns im Westen, in den Ländern, in
denen so viele Reiche leben, diese grauenvollen Bilder zur
Kenntnis nimmt. Oder genauer gesagt: Man nimmt sie zur Kenntnis,
aber sie lösen bei uns nicht die geringste Empörung
aus. Die langsame Vernichtung, das endlose Martyrium dieser
somalischen Familien sind für uns – wie soll ich
sagen? – Teil einer gewissen Normalität. Was du
nämlich an diesen letzten Abenden gesehen hast, ist nur der
»medientauglichste« Aspekt der Hungersnot in Somalia.
Tatsächlich türmt diese Hungersnot bereits seit mehr
als einem Jahr Berge von Leichen in Südsomalia, in Galcasc,
Colba, Dugiuma und Gherilla auf. Und diese Opfer siehst du nicht.
Denn die Kameras von TF1, der RAI, des ZDF oder der BBC sind vor
den Toren der äthiopischen Lager in Ogaden, Hunderte von
Kilometern entfernt, aufgebaut. Was du siehst, sind die, die erst
einmal davongekommen sind, die genug Kraft hatten, um die Grenze
zu überschreiten und eines der feeding centers –
der Aufnahmelager – in Ogaden zu erreichen.
Wo
liegt Ogaden denn?
Ogaden heißt die große
äthiopische Provinz, die direkt an Somalia grenzt und zum
größten Teil von somalischen Hirten und Bauern
besiedelt wird. Kaiser Menelik von Äthiopien hat diesen Teil
des alten Somalia vor mehr als achtzig Jahren erobert und
gewaltsam in sein Reich eingegliedert. Doch heute ist Äthiopien
arm wie eine Kirchenmaus. Zudem führt die derzeitige
Regierung in Addis Abeba, die nach einem mehr als zwanzig Jahre
dauernden Krieg zuerst gegen die amharischen Kaiser, dann gegen
den roten Diktator Mengistu, an die Macht gekommen ist, schon
wieder Krieg! Dieses Mal gegen ihren nördlichen Nachbarn,
die Republik Eritrea.
Ich will damit sagen, dass die
wenigen Zehntausend, die sich wie durch ein Wunder aus Somalia
retten konnten, heute in einem Land Zuflucht suchen, das selbst
am Rand einer Katastrophe steht. Viele der Auffangzentren in den
äthiopischen Regionen Dolo und Kallalo sind kaum mehr als
Sterbelager.
Aber was unternimmt die
somalische Regierung dagegen? Schließlich sind all diese
Zehntausende von Dürreopfern, all diese Nomadenfamilien,
deren Herden verendet sind, somalische Staatsbürger.
Das
ist in der Tat nur schwer verständlich. Somalia ist um
beinahe 100 000 Quadratkilometer größer als
Frankreich, jedoch weitaus dünner besiedelt: Es hat nur 10
Millionen Einwohner. Im Norden beginnt die Wirtschaft sich nun
langsam zu erholen. In den Regionen um Hargeisa, im Tal des Nogal
sowie in vielen anderen weitläufigen Landschaften dieses
riesigen Landes sind die Brunnen voll, die Ernten gut, und die
Herden gedeihen wieder.
Und trotzdem
tut die Regierung nichts für ihre Zehntausende von
sterbenden Mitbürgern?
Das Problem ist, dass
das stolze Somalia seit über zehn Jahren keine Regierung
mehr hat, die diesen Namen verdient – obwohl es nur von
einem einzigen Volk bewohnt wird, das eine einzige Sprache
spricht, einer einzigen Religion angehört und die ethnischen
Zerreißproben so vieler anderer Länder Afrikas nicht
kennt. Feindliche Clans bekämpfen sich mit Kanonen,
Kalaschnikows und Macheten. Jeder untersteht einem Kriegsherrn,
der nur eines will: die alleinige Macht, Reichtum und Herden für
seinen Clan.
Im Süden, wo die Hungersnot herrscht,
gibt es einen kleinen Hafen: Merca. Bei den Kämpfen wurden
die Kais zerstört. Die mit Reis beladenen Frachter der
internationalen Hilfsorganisationen werfen nun vor dem Hafen
Anker. Urtümliche, schwankende Schaluppen befördern die
Säcke von dort in den Hafen, und das in absolut
unzureichender Menge. Auf den halb eingestürzten Mauern des
Hafens sitzen waffenstarrende junge Männer, deren Augen oft
im Haschischrauch glänzen, und kassieren ihren Anteil ab.
Sie laden die Säcke auf Lastwägen, um sie auf den
Märkten des Nordens weiterzuverkaufen. Schlimmer noch:
Mogadischu, einer der am besten ausgestatteten Häfen am
ganzen Indischen Ozean, der ursprünglich von der
italienischen Kolonialmacht gegründet worden war, verfügt
über Kräne, Silos, Förderbänder und
Hafenbecken für Schiffe mit Tiefgang, mit deren Hilfe
Tausende und Abertausende von Tonnen Gütern pro Tag
gelöscht, gelagert und dann verteilt werden könnten.
Dieser moderne Hafen liegt etwas weiter nördlich von Merca,
also nicht sehr weit von den Gebieten entfernt, in denen die
Hungersnot wütet. Doch Mogadischu ist in Lähmung
verfallen. Der Hafen ist geschlossen. Die örtlichen
Kriegsherren haben den Krieg in die Stadtviertel getragen. Die
Folge davon ist, dass keine internationale Hilfe mehr eintrifft.
Aus Furcht vor Plünderung legen keine ausländischen
Schiffe mehr an. Die Mannschaften fürchten um ihr Leben –
und das ist nur allzu verständlich. Denn Geiselnahme ist in
Somalia eine blühende Industrie!
Diese
Kriegsherren sind Verbrecher, die ihr eigenes Volk
ermorden!
Ganz richtig.
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Wie
viele Menschen sind heute vom Hungertod bedroht?
In
ihrem letzten Bericht schätzt die FAO, die Food and
Agricultural Organization (Ernährungs- und
Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen), dass 1999
mehr als 30 Millionen Menschen verhungert sind. Die Anzahl der
Menschen, die im gleichen Zeitraum an chronischer schwerer
Unterernährung litten, wird auf mehr als 828 Millionen
beziffert. Das sind Männer, Frauen und Kinder, die auf Grund
von Nahrungsmangel irreversible Schäden davongetragen haben.
Entweder sie sterben mehr oder weniger bald, oder aber sie leben
als schwer Behinderte dahin, auf Grund von Blindheit, Rachitis,
ungenügender Entwicklung der Gehirnfunktionen.
Nehmen
wir zum Beispiel die Blindheit: Seit 1980 erblinden jedes Jahr im
Durchschnitt sieben Millionen Menschen, viele davon Kinder. Die
meisten von ihnen auf Grund mangelhafter Ernährung oder
infolge von Krankheiten, die mit der Unterentwicklung
einhergehen. In den Ländern Afrikas, Asiens und
Lateinamerikas leben 146 Millionen Trachomininfizierte. Fünfzig
Millionen sind blind. 1999 sagte Gro Brundtland, die Leiterin der
Weltgesundheitsorganisation, als sie in Genf ihren Plan »Vision
2020« vorstellte: »80 Prozent der Sehschäden
wären vollkommen vermeidbar.« Eine erste entscheidende
Verbesserung könnte durch die regelmäßige
Versorgung von Kleinkindern mit Vitamin A erzielt werden.
1990
litten 822 Millionen Menschen schweren Hunger. 1999 waren es 828
Millionen. Man kann diese Statistiken auf zweierleiWeise
interpretieren. Die erste Interpretation lautet: Die Zahl der
Hungertoten steigt unaufhörlich an, insbesondere in den
Ländern der südlichen Hemisphäre. Vergleicht man
allerdings die Anzahl der Opfer extremer Unterernährung mit
der Zunahme der Weltbevölkerung, dann stellt man einen
leichten Rückgang fest: 1990 litten 20 Prozent der
Weltbevölkerung an extremer Unterernährung. Neun Jahre
später sind es »nur« noch 19 Prozent.
Wo
fordert der Hunger die meisten Opfer?
In Ost- und
Südasien sind 18 Prozent der Männer, Frauen und Kinder
davon betroffen. In Afrika sind es 35 Prozent der Bevölkerung.
In Lateinamerika und in der Karibik hungern etwa 14 Prozent. Drei
Viertel der von »schwerer Unterernährung«
betroffenen Menschen leben auf dem Land. Ein Viertel stellen die
Bewohner der Elendsviertel, die um alle Megalopolen der Dritten
Welt aus dem Boden schießen.
Wie
ist das möglich? Die Landbevölkerung, also die Bauern,
die die Nahrungsmittel produzieren, ist am stärksten vom
Hunger betroffen?
Genau! In Afrika südlich der
Sahara beispielsweise findet man fleißige und tüchtige
Bauern. Sie verfügen über ein althergebrachtes Wissen
und schinden sich bei ihrer täglichen Mühsal halb zu
Tode. Aber es sind vor allem diese Bauern, die ihr ganzes Leben
lang nie ausreichend zu essen haben. Sie sind es, die sehr oft an
den Folgen der Mangelernährung sterben oder von den großen
Hungersnöten dahingerafft werden.
Afrika
ist also der Kontinent, der am stärksten betroffen
ist?
Nein, gemessen an absoluten Zahlen ist es
Asien. Denn auf diesem Kontinent leiden 550 Millionen unter
schwerer Unterernährung gegen »nur« 170
Millionen in Afrika südlich der Sahara.
Ist
Europa denn vor Hungerkatastrophen sicher?
Keinesfalls!
Insbesondere in den Ländern Osteuropas und in den Trümmern
der ehemaligen Sowjetunion ist der Hunger auf dem Vormarsch. Vor
allem alte Menschen, die nicht mehr am aktiven Leben teilnehmen,
allein stehende Frauen und kleine Kinder sind von Ausgrenzung und
extremer Armut betroffen. Die staatlichen Sicherungssysteme sind
ebenso wie die subventionierte, in einem künstlichen
Schutzraum angesiedelte Kollektivlandwirtschaft vom Sturm einer
wilden Liberalisierung davongefegt worden. Und die schwächsten
Mitglieder der Gesellschaft sind diesem brutalen Kapitalismus,
der zudem oft genug als Mafia daherkommt, schutzlos ausgeliefert.
Ich gebe dir ein Beispiel:
1997 rief der russische
Präsident Jelzin eine Kommission aus
Ernährungswissenschaftlern, Ärzten und Anthropologen
ins Leben, die die verheerenden Folgen des Hungers und der
chronischen Unterernährung untersuchen sollte, unter denen
die Völker der Russischen Föderation leiden. Der
Abschlussbericht der Kommission kam zu folgenden Erkenntnissen:
Die Männer der Föderation stehen im internationalen
Vergleich der durchschnittlichen Lebenserwartung gegenwärtig
an 135. Stelle, die Frauen an hundertster. Damit liegt die
durchschnittliche Lebenserwartung der Bewohner der Russischen
Föderation derzeit weit unter der aller anderen Bewohner
Europas oder Nordamerikas, während die Situation vor 1991,
dem Jahr des Untergangs der Sowjetunion, für Russen,
Europäer und Amerikaner etwa gleich war. Heute haben die
Russen (Sibirer und alle anderen Bewohner der Föderation)
sogar eine niedrigere Lebenserwartung als sämtliche Völker
Asiens, mit Ausnahme der Kambodschaner und Afghanen. Ein Bewohner
der Föderation stirbt im Durchschnitt 17 Jahre früher
als ein Schwede und 13 Jahre früher als ein Amerikaner.
Und
noch etwas: Auch in einem reichen Land kann man verhungern.
Russland ist ein gutes Beispiel dafür. Die Russische
Föderation ist heute weltweit führend in der Produktion
von Gold, Uran, Erdöl und Erdgas. Sie bleibt außerdem
die zweitwichtigste Atommacht auf dem Planeten. Es gibt noch
andere paradoxe Beispiele; so gehört der Kongo
beispielsweise zu den Ländern mit den wichtigsten
Bodenschätzen. Dennoch verhungern dort Tausende von
Menschen. In Brasilien monopolisiert eine mörderische
Oligarchie alle wichtigen Güter. Dieses Land gehört zu
den großen Getreideexporteuren der Erde. Dennoch löst
die Unterernährung im Nordosten Brasiliens alljährlich
ein Massensterben aus.
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