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Kann der
herrschende globale Kapitalismus gebändigt, eingehegt,
reformiert werden, ist er humanisierbar? – Diese Frage
steht im Zentrum des Gesprächs zwischen Jean Ziegler und
seiner Enkelin Zohra. Beginnend mit der Genese des Kapitalismus
aus früheren Gesellschaftsformationen, der Abfolge von
Klassenkämpfen, dem Triumph des Bürgertums in der
Französischen Revolution entfaltet Jean Ziegler sein
kritische Analyse der weltumspannenden Herrschaft des Kapitals,
der ungeheuren Dynamik dieses Systems, der Entfesselung der
Produktivkräfte, der gigantischen Errungenschaften in
Wissenschaft und Technik. Die kapitalistische Produktionsweise
steht all diesen unbestreitbaren Fortschritten zum Trotz für
eine zutiefst ungerechte, kannibalische Weltordnung, die extremen
Reichtum in ganz wenigen Händen konzentriert und
fürchterliches Elend, Hunger und Verzweiflung vor allem in
den Ländern der südlichen Hemisphäre zur Folge
hat. Eine Ordnung, die um des maximalen Profits willen eine
massive Umweltzerstörung, die Vergiftung von Böden,
Flüssen und Meeren sowie die Rodung von Regenwäldern,
billigend in Kauf nimmt, in der eine Klimakatastrophe immer näher
rückt. Diese Ordnung stellt eine tödliche Gefahr für
unseren Planeten und die Menschheit dar.
Aus dem
kapitalistischen System und der neoliberalen Wahnidee als seiner
Legitimation scheint es kein Entkommen zu geben. Dieses System
muss, so Jean Ziegler, „radikal zerstört“
werden. Er setzt dabei auf ein neues historisches Subjekt: die
weltweite Zivilgesellschaft. Männer und Frauen, die
verschiedensten Völkern, Kulturen, sozialen Klassen
angehören, organisieren den Widerstand.
(Klappentext)
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Leseprobe
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Neulich
abends hat Mama mich ganz aufgeregt gerufen: Du warst im
Fernsehen und hast mit einem – offenbar recht
liebenswürdigen – Herrn über den Kapitalismus
diskutiert. Aber ihr wart euch in gar nichts einig. Ich habe
nicht viel von eurem Streit verstanden, aber du hast ziemlich
zornig ausgesehen. Warum?
Du hast recht, Zohra, ich
war wütend. Der Mann, der mir gegenübersaß, war
Peter Brabeck-Letmathe, Präsident von Nestlé, dem
mächtigsten transkontinentalen Nahrungsmittelkonzern der
Welt. Heute steht Nestlé, das vor 150 Jahren in der
kleinen Schweiz gegründet wurde, auf Platz 27 der
weltgrößten Unternehmen.
Das verstehe ich
nicht. Nestlé stellt gute Schokolade her! Und wenn die
Schweiz es schafft, Unternehmen hervorzubringen, die ihre
Geschäfte auf allen Kontinenten abwickeln, warum macht dich
das zornig?
Weil Peter Brabeck sich ständig auf
die Theorie seines Freundes Rutger Bregman beruft, eines
berühmten holländischen Wirtschaftswissenschaftlers.
Doch ich wehre mich gegen dessen Geschichts- und
Wirtschaftsverständnis. Vor allem behauptet er Folgendes:
»Während 99 Prozent der Weltgeschichte waren 99
Prozent der Menschheit
arm,
hungrig, schmutzig, furchtsam, dumm, hässlich und krank…
Das alles hat sich im Laufe der letzten 200 Jahre geändert …
Milliarden von uns sind heute reich, gut genährt, sicher und
gelegentlich sogar schön. Selbst jene, die wir immer noch
»die Armen« nennen, leben heute unter nie da
gewesenen Bedingungen des Überflusses.«
Peter
Brabeck behauptet, die kapitalistische Ordnung sei die
gerechteste Organisationsform, die die Erde je gesehen habe, und
garantiere die Freiheit und das Wohlergehen der Menschheit.
Und
das ist nicht wahr?
Natürlich nicht! Das
Gegenteil ist wahr!
Die kapitalistische Produktionsweise
trägt die Verantwortung für unzählige Verbrechen,
für das tägliche Massaker an Zehntausenden von Kindern
durch Unterernährung, Hunger und Hungerkrankheiten, für
Epidemien, die schon lange von der Medizin besiegt wurden, für
die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt, die
Vergiftung der Böden, des Grundwassers und der Meere, die
Vernichtung der Wälder…
Gegenwärtig sind
wir 7,3 Milliarden Menschen auf unserem schutzlosen Planeten. 4,8
Milliarden, das heißt mehr als zwei Drittel, leben in einem
Land der südlichen Hemisphäre, davon Hunderte Millionen
unter unwürdigen Bedingungen. Die Mütter haben panische
Angst vor dem Morgen, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Kinder
einen weiteren Tag ernähren sollen. Die Väter werden
erniedrigt, verachtet bis in ihre Familien hinein, weil es ihnen
nicht gelingt, Arbeit zu finden – sie sind Opfer der
sogenannten Dauerarbeitslosigkeit. Die Kinder wachsen in Elend
und Angst auf, häufig sind sie Opfer häuslicher Gewalt,
ihre Kindheit liegt in Trümmern. Für zwei Milliarden
Menschen – die gemäß Weltbank in »extremer
Armut« leben – gibt es keine Freiheit. Ihre einzige
Sorge ist ihr Überleben.
Die verheerenden
Auswirkungen der Unterentwicklung sind Hunger, Durst, Epidemien
und Krieg. Sie vernichten jedes Jahr mehr Männer, Frauen und
Kinder als die fürchterliche Schlächterei des Zweiten
Weltkriegs in sechs Jahren. Was viele von uns zu der Auffassung
bringt, dass für die Völker der Dritten Welt der
»Dritte Weltkrieg« längst begonnen hat.
Wenn
ich das recht verstehe, seid ihr, Brabeck und du, vollkommen
entgegengesetzter Meinung. Ihr konntet euch über die
Wohltaten und Missetaten des Kapitalismus absolut nicht
einigen.
Du hast recht. Für mich – und für
all diejenigen, die meine Meinung teilen – hat der
Kapitalismus eine kannibalische Ordnung geschaffen: Überfluss
für eine kleine Minderheit und mörderisches Elend für
die große Mehrheit.
Ich bin ein Feind des
Kapitalismus. Ich bekämpfe ihn.
Dann muss man also
schlicht und einfach den Kapitalismus abschaffen?
Meine
liebe Zohra, die Antwort ist nicht einfach.
Einer
Minderheit der Menschen, vor allem denjenigen, die die nördliche
Hemisphäre bewohnen oder die zu den herrschenden Klassen der
Länder des Südens gehören,haben die
beeindruckenden industriellen, wissenschaftlichen,
technologischen Revolutionen, die das kapitalistische System
während der letzten zwei Jahrhunderte in Gang gesetzt hat,
einen nie da gewesenen wirtschaftlichen Wohlstand gebracht. Die
kapitalistische Produktions weise beweist eine verblüffende
Vitalität und Kreativität. Da die Eigentümer des
Kapitals enorme Finanzmittel konzentrieren, menschliche
Begabungen mobilisieren, sich Wettbewerb und Konkurrenz zunutze
machen, kontrollieren die mächtigsten Eigentümer des
Kapitals das, was die Wirtschaftswissenschaftler »problematisches
Wissen« nennen, das heißt die wissenschaftliche und
technologische Forschung auf so verschiedenen Gebieten wie
Elektronik, Informatik, Pharmazie, Medizin, Energie, Luftfahrt,
Astronomie, Materialwissenschaft und so fort.
Dank der von
ihnen gesponserten Labors und Universitäten erzielen sie
spektakuläre Fortschritte in der Biologie, Genetik, Physik
etc. In den Laboratorien der Pharmaunternehmen – Novartis,
Hoffmann-La Roche oder auch Sanofi – wird fast jeden Monat
ein neuer Wirkstoff, ein neues Medikament entwickelt; an der Wall
Street kommt fast alle drei Monate ein neues Finanzinstrument in
Umlauf. Ununterbrochen steigern die transkontinentalen
Nahrungsmittelunternehmen die Produktion, diversifizieren die
Saatgüter, entwickeln immer rentablere Düngersorten,
steigern die Ernten und erfinden immer wirksamere Pestizide, um
sie zu schützen; die Astrophysiker beobachten andere
Sternsysteme, die um ihre eigenen Sonnen kreisen, und entdecken
fortwährend neue Exoplaneten; die Autoindustrie konstruiert
jedes Jahr robustere und schnellere Fahrzeuge; Wissenschaftler
und Ingenieure schicken immer leistungsfähigere Satelliten
ins All; Tausende von Patenten, die Tausende von neuen
Erfindungen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens schützen,
werden Jahr für Jahr von der WIPO, der Weltorganisation für
geistiges Eigentum in Genf, erteilt.
Wenn ich Dich
recht verstehe, beeindruckt dich die kapitalistische
Produktionsweise durch ihren Erfindungsreichtum und ihre
schöpferische Kraft…
Genau, Zohra, Stell
dir vor: Zwischen 1992 und 2002, während eines Jahrzehnts,
hat sich das Bruttoweltprodukt – also die Summe aller auf
der Welt in einem Jahr produzierten Güter – verdoppelt
und das Welthandelsvolumen verdreifacht. Der Energieverbrauch
verdoppelt sich im Durchschnitt alle vier Jahre.
Zu Beginn
unseres Jahrtausends kommt die Menschheit zum ersten Mal in den
Genuss eines Güterüberflusses. Der Planet ächzt
unter seinen Reichtümern. Die verfügbaren Güter
übersteigen die Grundbedürfnisse der Menschen um ein
Vielfaches.
Also hat der Kapitalismus auch seine guten
Seiten?
Die kannibalische Weltordnung, die er
geschaffen hat, muss radikal zerstört werden, aber die
wunderbaren Errungenschaften der Wissenschaft und Technik wollen
wir nicht nur erhalten, sondern noch potenzieren. Die Arbeit, die
Begabungen, der Erfindungsgeist des Menschen sollen dem
Gemeinwohl – also allen Menschen – dienen und nicht
nur der Bequemlichkeit, dem Luxus, der Macht einer Minderheit.
Ich werde dir später erklären, unter welchen
Bedingungen sich die neue Welt, von der die Männer und
Frauen träumen, verwirklichen lässt. Im Augenblick lass
mich dir erzählen, woher der Kapitalismus kommt.
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