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Carl Amery
Arbeit an der Zukunft

Essays
Herausgegeben von Joseph Kiermeier-Debre



München 2007 (Luchterhand); 368 Seiten; ISBN 978-3-3630-62123-4






Carl Amery ließ sich in keine Schublade stecken, und auch nach seinem Tod ist das nicht möglich. Er war Satiriker, Historiograf des bayerischen Stammes, Science-Fiction-Autor, Radikalökologe, Gründungsmitglied der Grünen. Diese Vielzahl an Betätigungen hatte aber immer einen Glutkern, einen Mittelpunkt: das Nachdenken darüber, wie der katastrophische Gang der Menschheit aufgehalten werden könne. Die Biografie von Amerys Denken ist geprägt von großen wichtigen Büchern wie »Hitler als Vorläufer« oder »Global Exit«. Nicht minder wichtig aber sind Amerys Essays, in denen eine neue These, ein neues Themengebiet zuallererst ausprobiert und zugespitzt wird. Die Essays in diesem Band geben einen beeindruckenden Überblick über das publizistische Wirken Carl Amerys – viele unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass sind darunter, wie jenes Exposé zu Amerys groß angelegtem Amerika-Buch, zu dem er nicht mehr gekommen ist.


Carl Amery


geboren 1922, gestorben am 24. Mai 2005, war Mitglied der Gruppe 47, von 1989 bis 1991 Präsident des bundesdeutschen PEN-Zentrums sowie Mitbegründer der E.-F.-Schumacher-Gesellschaft für politische Ökologie. Amery schrieb Hörspiele, mehrere Romane und wurde vor allen Dingen durch seine kulturkritischen Essays sowie als engagierter Ökologe bekannt. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem 1991 mit dem Literaturpreis der Stadt München.


Inhaltsverzeichnis


Einleitung
Vorstellung in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung – September 1992

VonLeben, Tod und Würde
Humanismus heute (?). Ein Festvortrag für das Leopoldinum Passau – 19. März1987
Leben / Tod. Zu einem menschen würdigen Programm – Februar 1994
Versöhnung und salvierende Formel. Religiosität und die biosphärische Problematik – Graduiertenkolleg Bonn, 22. November 1996
Die Botschaft des Jahrtausends – Scheidewege, 26. Mai 1997

Über das Geld, die Macht, den Markt und die Kirchen
Markt / Mensch / Natur. Ein anthropologischer Hintergrund – Rabanus Maurus Akademie Mainz, Februar 1995
Visionen vom Nutzen des Geldes. Rede zu Vianden – 3. Juli 1997
Kreuzzug. Der unvermeidliche Weg der Kirchen – Synopse 2000 von Global Exit
Die Reichsrellgion. Eine Rede vor Freimaurern – Loge zur »Kette«, 22. April 2002
Die arglose Bestie. Vermutungen über das Seelenleben von Globalisierern – Schwarzbuch Globalisierung, Frühjahr 2002.

Rede(n)
Die Gruppe 47 – ein (fast) persönlicher Rückblick – Füssen, 2. Oktober 1997

Lobreden
Der Literat als Freiheitskämpfer. Zum 90. Geburtstag von Hermann Kesten – Nürnberg, 28.1.1990
Einführung zu Günter Grass: »Rede über Deutschland« – 18.11.1992
Eugen Oker oder Exkurs über das oberpfälzische Gelächter – Juni 1999
Geist und Buchstabe. Eine Lobrede auf Jackie Hudson, Carol Gilbert und Ardeth Platte – München, 12.Oktober 2003

Nachreden
Abschied von Toni Richter – 10. Januar 2004
Der Wanderprediger, der von den Sternen kam. Nachruf auf Peter Kafka – Süddeutsche Zeitung, 28.12.2000
Gedenken wir eines großen Menschen. Erinnerung an Rudolf Bahro – Politische Ökologie, März 1998
Frisch wie vor einer Generation. Zum 25. Todesjahr von E. F. Schumacher – Energiebündel, April 2002

Dank- und Preisreden
Dankrede zur Verleihung des Wilhelm-Högner-Preises – am 24. Juni 1997
Am Scheideweg des Fortschritts. Rede zur Verleihung des Umweltpreises der BayernSPD am 24. Juli 2001
Nachhaltigkeit als zivilisatorische Herausforderung. Thurn und Taxispreis für Forstwirtschaft, Januar 2002

Ungehaltene Reden
Ein Brief – 26. April 1996
Die Chance des Kirchentags. Ungehaltene Rede – Berlin, 2003
Die Grünen und die Goldene Horde. Fakten und Folgerungen zum Jubiläum – Frankfurter Rundschau, Januar 2005
Eine andere Welt ist nötig. Notwendige, aber ungehaltene Rede zum 8. Mai 2005

Rückblicke in die Zukunft
Die Kolumbusfalle. Ein Funk-Essay – WDR, Februar 1992
Pffft – ! oder: Das Ende der Großen Atlantischen Blase – Exposé, 2003

Arbeit an der Zukunft
Nachwort von Joseph Kiermeier-Debre


Leseprobe


Ein Brief – 26. April 1996






Sehr geehrter Herr Dr. Holzer!

Dem Bayerischen Rundfunk sowie dem Bayernteil der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG verdanke ich die Information, daß die Bayernwerke mitten in der allgemeinen ökonomischen Betrübnis ihren 75. Geburtstag durch ein »Fest der Superlative « markierten. 1200 Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, so las man, waren geladen; 75o Helfer dekorierten die Olympiahalle nach den Plänen des Oscar-Preisträgers Rolf Zehetbauer; neunzig BMWs der 7er-Klasse waren eingesetzt, um die illustren Gäste zu ihren Nobelherbergen zu kutschieren – kurz, nichts wurde versäumt, um die Bedeutung des Datums auf echt bayerische Art jubelnd zu feiern. (Man kann nur hoffen, daß auf der Gästeliste der H. H. Kardinal und der evangelische Landesbischof nicht übersehen waren).

Ich stand nicht darauf, habe aber 74 von den gefeierten 75 Jahren (mit einer lästigen, durch einen Weltkrieg bedingten Unterbrechung) als Stromkunde zum Wohl Ihrer Firma und damit wohl auch zur Finanzierung des Festes der Superlative beigetragen, was mich, wie Sie sich denken können, mit stiller Genugtuung erfüllt und mir das Recht gibt, Ihnen als dem einzigen mir bekannten Vertreter der Bayernwerke den fälligen Glückwunsch nachzureichen. Und Ihre Festrede hat mich (wenn denn auf die Presse Verlaß ist) auch als einen Untertanen der bayerischen Staatsregierung angesprochen. Sie haben darin ja bayerische Politiker für den Mut gepriesen, mit dem sie die energiepolitischen Ziele der Firma unterstützt haben, »auch wenn ihnen der Wind gehörig ins Gesicht blies«. Das Bild scheint mir zunächst etwas kühn gewählt – denn es waren ja nicht die Politiker, sondern ihre Untertanen, denen etwa in Wackersdorf der CS-Reizgaswind Ihrer atomaren Energiepolitik ins Gesicht blies, und zwar monatelang. Aber vielleicht war Wackersdorf in ganz anderem Sinne mit Politikermut verknüpft. Vielleicht haben Sie auf die schmerzhaft lächelnde Tapferkeit angespielt, mit der die bayerischen Politiker den Tritt in den Hintern in Empfang nahmen, den ihr Deutschlands Stromherren verpaßten, als sie die Wackersdorfpläne wie eine verstrahlte Kartoffel fallen ließen, einen windigen Vertrag mit La Hague schlossen und sich so aus der Klemme wanden, in der sie die bayerische Staatsregierung samt ihren Hubschrauber- und Knüppelgarden sozusagen mit heruntergelassener Hose zurückließen. (Verzeihen Sie diese echt bayerische Metaphern-Schlachtschüssel zum echt bayerischen Fest-Anlaß!)

Oder dachten Sie eher an den Mut, das AKW Niederaichbach nach wenigen Betriebstagen abreißen und diese Pleite auch noch als wertvollen Beitrag zum Entsorgungs-Knowhow zelebrieren zu lassen? Wie dem auch sei – nicht nur die beim Fest anwesenden, sondern auch alle anderen bayerischen Politiker, Untertanen und Stromkunden werden Ihnen für dieses Lob dankbar sein.

Es gibt darüberhinaus einen ganz persönlichen Grund, der mich veranlaßt, dieses Glückwunschschreiben an Sie persönlich zu richten. Es existiert nämlich ein Briefwechsel zwischen uns, an den ich mich spontan wieder erinnerte. Im Herbst 1992 fand in Salzburg ein World Uranium Hearing statt. Auf diesem Hearing berichteten Zeit- und Ortszeugen aus der ganzen Welt, vornehmlich solche von traditionellen Gesellschaften (Navajos, Inuit, australische Aborigines usw.), aber auch Zeugen aus Kasachstan, aus Nordböhmen und Sachsen, aus den USA und anderen »entwickelten« Regionen) über die genozidalen, und zwar permanent genozidalen Umstände, unter denen in ihren Heimaten die Urangewinnung stattfindet.

Claus Biegert, der Organisator des Hearings, und ich schrieben Ihnen unter dem frischen Eindruck dieser niederschmetternden Zeugnisse; richteten die Anfrage an Sie, wie man als Atom-Wirtschaftler, Atom-Politiker, Atom-Profiteur mit diesem Wissen zu leben vermag.

Sie haben uns tatsächlich geantwortet. Und der erste entscheidende Satz Ihres Antwortschreibens verdient wörtlich zitiert zu werden:

»Der von Ihnen aufgestellten These, daß ein Uranabbau generell nicht ohne verheerende Effekte von Genozid bzw. Ethnozid möglich sei', muß ich allerdings klar widersprechen. Heute sind nach meiner Kenntnis in den für uns wichtigen Uranförderländern strenge gesetzliche Regelungen und Standards für den Gesundheitsschutz und den Umweltschutz beim Abbau von Uran festgeschrieben.«

Sie werden verstehen, daß uns die Dreistigkeit dieser Antwort zunächst einfach die Sprache verschlug. Wie? Hatten wir nicht vor wenigen Wochen mit eigenen Ohren die Zeugen gehört – Zeugen aus den wichtigsten Uranabbau-Gebieten der Erde? Hatten wir nicht aus ihrem eigenen Mund vernommen, mit welchen trüben Tricks man ihre Heimat geschändet, ihren mehr oder weniger widerwilligen Konsens erschwindelt hatte? Hatten wir nicht von den tausenden von Kubikmetern Yellow Cake, strahlenden Abraums erfahren, die um die Mündungen der abgebaggerten Krater herumliegen, völlig unabgedeckt, Wind und Wetter preisgegeben, unweigerlich die Erde, das Wasser, die umgebende Atmosphäre kontaminierend? War es überhaupt vorstellbar, daß diesen Zeugen ein bayerischer Atomlobbyist, der vermutlich nie am Rand einer Uranabbaugrube gestanden hatte, ins Angesicht widersprach und von strengen Regelungen und Standards faselte?

Es war offensichtlich möglich. Aber offensichtlich haben Sie, sehr geehrter Herr Dr. Holzer, Ihrem eigenen Argument doch nicht ganz getraut und auf Seite 2 Ihres Antwortschreibens ein gänzlich anderes, dem ersten diametral widersprechendes angeführt. Auch dieses soll, der Gerechtigkeit halber, zitiert werden:

»Notwendig für die vergleichende Beurteilung der heute zur Verfügung stehenden Energieträger muß eine Gesamtbetrachtung sein, welche die Umweltauswirkungen der Gewinnung und des Einsatzes auch aller anderen Energieträger in die Abwägung einbezieht. Eine Einstellung des Uranabbaus würde die weitere Nutzung der Kernenergie unmöglich machen und zwangsläufig (Hervorhebung von mir, CA) zu einem verstärkten Einsatz fossiler Energieträger führen, damit aber unter anderem zu einer weltweiten Erhöhung der CO2-Emissionen mit ihren Folgen für das globale Klima beitragen...«

Halten wir zunächst fest: Es gibt also irgendwelche, nicht näher spezifizierte, aber doch in Rechnung zu stellende Umweltauswirkungen des Uranabbaus; sonst hätte das Argument überhaupt kein Gewicht. Aber – und das verschlägt einem wiederum den Atem, wenn auch auf ganz anderer Grundlage – zum Wohle der zivilisierten Menschheit, die unbedingt ihre Mega- und Terawatt braucht, müssen eben ein paar Kanaken dran glauben. Sie sollen froh sein, daß sie nicht an CO2-Emissionen eingehen, sondern an Yellow-Cake-Strahlung – und prozentual, aufs globale Ganze gesehen, sind die paar Stammesmenschen irgendwie abzuschreiben, weil wir sonst zwangsläufig den Globus mit den Schadstoffen aus fossilen Energieträgern vergiften müßten. Ergo: ein paar tote Eskimos und Navajos sind das kleinere Übel, das stellvertretende Menschenopfer.

Das Argument ist natürlich so alt wie die Menschheit. Es wurde angewandt beim Einmauern von Kindern in Brückenbögen, beim Abtransport von riesigen Sklavenmassen nach Amerika, bei der Ankettung von Kindern an die Spinning Jennies der industriellen Revolution und bei vielen anderen Gelegenheiten – das alte Argument von den zu verheizenden Minderheiten, um die Wohlfahrt des großen Ganzen zu sichern. Der objektive Zynismus des Arguments ist den Zeitgenossen fast nie aufgefallen. Er hat sie nie daran gehindert, die Bibel aufs Nachtkästchen zu legen und ihre Frauen in Wohltätigkeitsvereine zu delegieren. Aber der Wurm, verehrter Dr. Holzer, der Wurm steckt im Adverb ZWANGSLÄUFIG.

ZWANGSLÄUFIG – das erinnert mich aufs Fatalste an das Schlagwort von den SACHZWÄNGEN – ein Schlagwort, das für die Ära Helmut Schmidt bezeichnend war. In Wahrheit gibt es keine Sachzwänge außer denen, die uns von den thermodynamischen und den Entropie-Gesetzen auferlegt werden – und die laufen genau in die Gegenrichtung von dem, was Sie und tausend andere Technokraten und die große Mehrheit aller Politiker uns verkaufen wollen (und, geben wirs zu, meist erfolgreich verkaufen). Es gibt, zum Beispiel, keinen Sachzwang, der die Bundespolitik daran hindern würde, zwei Prozent der ungeheuren Vermögenswerte, die in deutschen Banken liegen (viertausend Milliarden, ohne Immobilienwerte) für Zwecke des Gemeinwohls zu sequestrieren und mit diesen achtzig Milliarden den Energiebedarf der Nation ein für allemal aus einem Mix regenerierbarer, d. h. letzten Endes solarer, Energie zu stabilisieren. Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt wären phänomenal, die Außenhandelsbilanz sähe prächtig aus – und der Rest der Welt wäre endlich gezwungen, den Tatsachen ins Auge zu sehen.

Natürlich, ich gebe Ihnen recht, verehrter Dr. Holzer: das wird nicht geschehen. Es wird aber nicht deshalb unterbleiben, weil ein SACHZWANG dagegen vorliegt. Was dagegen vorliegt, ist eine kollektive psychische Blockade, ist, wie Milton sagt, die Tatsache, daß die Tore der Hölle von innen versperrt sind. Mindestens dreitausendfündhundert der genannten Milliarden werden von Herren, die Sie gut kennen dürften, nämlich den Bankern und Börsianern, so verwaltet, daß den wirklich Zeichnungsberechtigten niemals in den Sinn kommt, zu fragen, ob die Art dieser Mittelverwaltung nicht auf den totalen Ruin der Biosphäre hinausläuft (das tut sie nämlich wirklich).

Aber natürlich hätte eine solche Entwicklung bedenklichste Folgen für die Welt, in der Sie bisher gelebt haben. Mir ist dies erst so richtig klar geworden, als ich ein Interview las, das Sie vor nicht allzulanger Zeit einer deutschen Wochenzeitung gewährt haben. In diesem Interview haben Sie auf die Frage, ob Sie persönlich etwas gegen alternative Energie hätten, sinngemäß geantwortet, Sie hätten nichts dagegen – es dürften nur keine Überkapazitäten entstehen.

Überkapazitäten. Das ist das Stichwort. Alternative Energien dürfen einfach nicht die Chance bekommen, auf nennenswerte Weise in den großen Strommarkt einzudringen – der muß Ihnen und Ihresgleichen vorbehalten bleiben. Und deshalb kämpft Ihre Branche mit Zähnen und Nägeln gegen einen Vormarsch der Alternativen über die Sechs-Prozent-Grenze. Deshalb wird von den Badenwerken das Einspeisungsgesetz gebrochen. Deshalb stellt Ihre Öffentlichkeitsarbeit die Vergütung der einzuspeisenden Windenergie systematisch (und falsch) als Subvention und Preistreiberei dar. Deshalb werden Anträgen auf Einspeisung in fast jedem einzelnen Fall unendlich öde Formalien entgegengesetzt.

Für uns, die Alternativen, stellt sich das Problem grundsätzlich gegenteilig. Für uns sind etwa Atomkraftwerke Überkapazitäten, die nach Tschernobyl nicht nur so überflüssig, sondern so gefährlich wie ein Gehirntumor sind. Für uns führt der Weg in die Zukunft nur über regenerierbare Energie, gleichzeitig aber über Effizienz- und Suffizienz-Revolution, welche den Energiebedarf mittelfristig schon dann halbieren kann, wenn wir unseren Kulturentwurf nicht wesentlich verändern. (Langfristig müssen wir das tun, aber hier braucht davon noch gar nicht die Rede sein.)

Dieser Weg führt zwangsläufig zu einer Demokratisierung der Energie, und die ist natürlich geschäftlich inakzeptabel, das ist einzusehen. Aber bemühen wir uns um die Einsicht in das Notwendige solchen Fortschritts – ohne ihn gäbe es heute noch die Lobby der Armbrusthersteller, die siegreich die Einführung von Musketen blockieren. (Schade, daß sie nicht siegreich waren...)

Doch zum Schluß darf ich zum bayerischen Jubelfest zurückkehren, genauer, zu Ihrer Ankündigung, daß Sie sich aus dem Aufsichtsrat der Bayernwerke zurückziehen. Dies erfüllt uns mit Hoffnung. Denn reich und stattlich ist der Zug der Ruhestandsrenegaten, dem die alternative Bewegung so viel verdankt. Es sei an den Präsidenten Dwight D. Eisenhower erinnert, der beim Abschied von seinem Amt vor der Macht des militärisch-industriellen Komplexes warnte; an Admiral Hyman G. Rickover, den Schöpfer der amerikanischen Atom-U-Boot-Flotte, der im Ruhestand zum aktiven Gegner der Atomkraft wurde; an Erwin Chargaff, der die Grundlagen für die DNS-Forschung schuf und heute zu den schwärzesten Propheten der technisch-wissenschaftlichen Zukunft gehört; an Joseph Weizenbaum, seinem Pendant in der Computerbranche; und, um Deutschland nicht zu vergessen, Klaus Traube sowie meinen unvergessenen Freund Manfred Siebker. Sie alle haben, nachdem sie ein bestimmtes beruflich-dienstliches Brot nicht mehr aßen, neue Zukunftsmelodien entdeckt und nicht gezögert, sie uns mitzuteilen. Und nichts würde uns mehr freuen, als wenn, zum zehnten Jahrestag des Tschernobyl-Desasters, der Aufsichtsratsvorsitzende a. D. Jochen Holzer diesem Orchester beitreten würde.

Um Ihnen diesen möglichen Schritt zu erleichtern, lege ich diesem Brief das Flugblatt der Schönauer Bürger bei, die sich entschlossen haben, die Stromkonzession und das Stromnetz selbst in die Hand zu nehmen. Denn, so heißt es im Flugblatt: die Strom-Multis wissen – wer das Netz hat, hat die Macht! Und über eine neue Energiestiftung werden wir die viereinhalb Millionen sammeln, welche der bisherige Versorger als völlig überzogenen Wucherpreis auf den Netzwert von vier Millionen drauflegt. Wir werden diese Summe aufbringen – und dann gehts vor die Gerichte. Eine Grundsatzentscheidung ist überfällig, mehrere Gemeinden warten, der Kampf gegen die atomaren Überkapazitäten hat begonnen, oder, wie die Überschrift des Flugblatts lautet:

ATOM COUNT DOWN – DER AUSSTIEG AUS DER ATOMENERGIE LÄUFT

Auf dieser Note der Hoffnung darf ich mein Schreiben beschließen und wünsche Ihnen einen sonnigen Ruhestand, in den sich keine wüsten Träume von Yellow-Cake-Landschaften eindrängen mögen.

Mit freundlichen Grüßen
Carl Amery


Siehe auch:


Carl Amery: Das Ende der VorsehungDie gnadenlosen Folgen des Christentums (1972)



Carl Amery: Natur als Politik Die ökologische Chance des Menschen (1976)



Die Chance des Ökosozialismus Von Carl Amery (1978)



Carl Amery: Die Botschaft des Jahrtausends – Von Leben, Tod und Würde (1994)



Carl Amery: Hitler als VorläuferAuschwitz, der Beginn des 21. Jahrhunderts (1998)



Carl Amery: Global ExitDie Kirchen und der Totale Markt (2002)



Carl Amery (Hrsg.): Briefe an den Reichtummit einem Brief an den Bundesbräsidenten (2005)



Carl Amery: Eine andere Welt ist nötigVorschlag für eine Rede zum 8. Mai 2005