Leseprobe
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DRACULA IM KELLER oder
Die große Verlegenheit
In Auschwitz und
anderen Vernichtungslagern ließ Hitler Millionen von Juden,
Zigeunern und fremdvölkischen Eliten töten und
verbrennen. Dies war unbestreitbar die kaltblütigste und
bestorganisierte Massenvernichtung der Geschichte.
Alexandre
Kojève, großer Philosoph und Lehrer von großen
französischen Intellektuellen, hat sich geweigert, Auschwitz
als „historisches Ereignis“ anzuerkennen.
Kojève
ist ehrlich und konsequent. Der Hegelianer spricht aus, was fast
alle Teilnehmer an der zeitgeschichtlichen Debatte mehr oder
weniger ehrlich, mehr oder weniger konsequent glauben und fühlen:
Das Dritte Reich, das Hitler-Ereignis oder wie immer man es
nennen mag, verweigert sich den Erklärungsmustern, mit deren
Hilfe Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie unseren
Weg durch die Geschichte (wenigstens die europäisch-
atlantische Geschichte) bisher gedeutet haben und deuten.
Der
Widerspruch
Hitler paßt nicht, das ist es.
Hitler fällt aus den bisher erarbeiteten Erklärungsmustern.
Von verschiedenen Seiten versucht man, an ihn und seine Welt
heranzukommen, aber in die Welt des euro-atlantischen
Selbstbewußtseins, wie unsere Lehrer sie formten, ist
Hitler schlechthin nicht einzufügen.
Wie bestimmt
sich dieses Selbstbewußtsein? Es bestimmt sich aus
historischer Erfahrung – und aus der Art, wie wir sie
verarbeiten.
Wir verarbeiten sie, was immer im einzelnen
unsere Position sein frag, nach der Formel „Durch Nacht zum
Licht“. Renaissance und Humanismus beenden das dunkle
Mittelalter; die Lumières, das heißt die
freien Geister, zünden die Lichter der
philosophisch-theologischen, der politischen, der
gesellschaftlichen Aufklärung an, es beginnt der Auszug aus
selbstverschuldeter und fremdverschuldeter Unmündigkeit.
Wachsende Mengen an Wissen geben uns wachsende Kontrolle über
unser Schicksal, dessen Liebkosungen oder Schläge wir nicht
mehr länger als Act of God, als höhere Gewalt
akzeptieren. Der Wohlstand wächst, die Manieren werden
besser, die Lebensräume weiten sich und die
Bewegungsmöglichkeiten in diesen Räumen. Emanzipation
entfaltet sich und mit und in ihr politische Freiheit. Sie zieht
die Gerechtigkeit nach sich, die nun auch der letzte, der Vierte
Stand einfordert und erhält. Differenzierungsprozesse des
Bewußseins und der Gefühle setzen ein und entfalten
sich, und mit ihnen Empathie, will heißen die Einfühlung
in fremdes und nachbarliches Dasein:
Gewiß, es gibt
Gegenströmungen am Rande, es gibt Strudel und Turbulenzen,
örtliche und zeitliche Rückschläge, Passagen durch
lichtlose und rätselhafte Tunnels. Aber auf die
Hauptströmung kommt es letzten Endes an, die Hauptströmung
bestimmt den Lauf der Geschichte.
Das Dritte Reich ist zu
alledem scheinbar der große Widerspruch, eine glatte
Verneinung der Vernünftigkeit oder Deutbarkeit des
historischen Prozesses überhaupt. Wenn es (in solchem Sinn
der völligen Unzulässigkeit) irgendeine Logik aufweist,
dann nur durch seinen Zusammenbruch nach knapp zwölf Jahren
– einen Zusammenbruch, in dem sich seine geschichtliche
Unzumutbarkeit offenbarte. Sein Ende ist seine Widerlegung –
und als solches ein Faktum, das wieder die Einfügung ins
gängige Muster erlaubt.
Die Naturkatastrophe
Hitler
So verbleibt schließlich eine einzige
Deutung: Hitler und Hitlerismus sind kein historisches, sondern
ein Naturereignis wie ein Vulkanausbruch oder eine Flutwelle; ein
Meteorit, der mitten in Europa einschlägt, den halben
Kontinent versehrt, fast seine gesamte Judenheit und Millionen
anderer Europäer zermalmt, Paläste, Kathedralen,
Produktions- und Wohnstätten in Schutt und Asche legt, ehe
der Brand ebenso sinnlos verschwelt, wie er begonnen hat. (Es ist
bezeichnend, daß weder die bolschewistischen Greuel noch
die anderen europäischen Faschismen ein solches
Ausweichmanöver ins Naturgeschichtliche
provozieren.)
Solche Deutung erleichtert, erleichtert
ungemein: Wie scharfsinnig wir auch immer Einzelheiten des
Dritten Reiches auseinanderdröseln; wie gewissenhaft wir
auch immer Zusammenhänge, Entstehungsursachen,
Befindlichkeiten seines Personals erforschen, es handelt sich so
oder so um uns nicht Betreffendes, das heißt uns und unsere
weitere Entwicklung nicht mehr Betreffendes. Dem Analytiker oder
Historiker kann es dann nur um „vernünftige
Abarbeitung des Vergangenen“ (Hans Mommsen) gehen. Alle,
alle sind sich einig in diesem Punkt – ob sie nun von links
oder rechts, von jüdischer Leidenschaft oder fadenscheinigem
deutschnationalem Entlastungsdrang motiviert sind. So oder so:
die Katastrophe ist vorüber, und neues Leben sprießt
aus der nächsten Astgabel des historischen Prozesses.
Und
die Medien folgen
Dieser Entlastungs- und
Abschiebeaktion entspricht die Behandlung der zwölf Jahre in
den Medien, die oft genug bis zur Lächerlichkeit geht.
Gesichter, Kostüme und Requisiten verschworen und
verschwören sich da, ein Bild oder Bildnisse herzustellen,
die phantastisch-surreal sind – oder komisch-grotesk. Von
der Dämonie der schwarzen SS-Todesengel und der schwarzen
Daimler-Schnauzen, von der kalten Pracht der Parteitagslichtdome
über die fetten Amtswalterbacken unter Schweinsaugen und in
braunen Birnenhosen bis zur irren Charlie-Chaplin-Pantomime des
Dikta- tors spannt sich der ästhetische Bogen; darunter, in
den Niederungen der TV-Serien, wurden und werden preußische
Monokelfatzkes und dicke bayerische Mannschaftstrottel geliefert,
alle so lebensecht und gegenwartsnah wie Onkel Dagobert von
Entenhausen.
Leises Grauen im Dracula-Palast
Freilich,
fast alle fühlen, daß es das nicht sein kann, nicht
gewesen sein kann; fühlen, daß uns höchst
lebendige und schmerzhafte Nervenstränge mit dieser
verlorenen Zeit verbinden. Und die Zeitgeschichtler, die den
Dracula-Palast des Dritten Reiches durchstöbern, spüren
es natürlich auch.
Während sie seine
mottenzerfressenen Requisiten, seine Dunkel- und Folterkammern,
die braunstichigen Photos aus dem Verbrecheralbum sortieren,
spüren sie, daß der Schloßherr so nicht gefaßt
werden kann.
Sie spüren, daß Dracula, wie es
seiner Art zukommt, irgendwo im tiefsten Keller lauert, unter
meterdickem Schutt, aber ohne den Pfahl im Herzen, der seinen Tod
sichern und seine Wiederkehr endgültig verhindern
könnte.
Woher diese dumpfe Gewißheit? Sie
resultiert zwangsläufig aus der Unmöglichkeit selbst,
Hitler aus einer Geschichte verschwinden zu lassen, in der er
monströs und überlebensgroß existiert. Er war
eben Ereignis; und zwar ein Ereignis, von dem wir genau wissen,
daß es uns noch alle angeht.
Der unmögliche
„Schlußstrich“
Alltäglichste
Vorkommnisse zeigen immer wieder: es geht nicht. Noch jeder
Versuch, den bekannten „Schlußstrich“ zu
ziehen, endete in einem neuen Ausbruch von Debattenfieber. Selbst
wenn sich alle Beteiligten (wie jüngst in der
Goldhagen-Kontroverse) darüber einig sind (oder wenigstens
so tun), daß alles aus und vorbei sei, daß der
Antisemitismus und der nationale Größenwahn und der
antidemokratische Affekt der Weimarer Zeit und damit alle
Voraussetzungen für einen Rückfall verschwunden seien:
allein die Dissonanzen der Diskussion und der publizistischen
Begleitmusik zeigen an, daß hier entscheidende und nach wie
vor aktuelle Angstelemente unterdrückt werden.
Aus
solchen Symptomen, das heißt aus den hohen Temperaturen der
öffentlichen Erörterung, ist zu schließen, daß
der Wiedergänger unterm Schutt nur scheintot ist und
durchaus wieder regsam werden kann.
Ein anderer Ansatz
ist notwendig
Um mit Gregory Bateson zu sprechen: Die
Landkarte ist nicht das Territorium. Und wenn man sich trotz
gewissenhaften Kartenlesens in der Landschaft verläuft,
liegt es vermutlich nicht an der Landschaft, sondern an der
Karte.
Es gilt also zu fragen, ob es vielleicht an den
bisherigen Geschichtsmustern von Kojève und Co. liegt, daß
wir Hitler nicht in ihnen unterbringen.
Es gilt zu fragen,
ob eine Dimension seiner schrecklichen Wirklichkeit übersehen
oder verdrängt wird, welche die alten Muster radikal
aufhebt. Solche Fragestellung ist immer schmerzhaft; aber sie
erspart uns erstens die feige Kapitulation vor einem
„Naturereignis“ und stellt damit die Würde
unserer Rationalität wieder her, und sie kann zweitens dabei
helfen, mögliche Bedingungen für Draculas Wiederkunft
zu bestimmen und sie dadurch unwahrscheinlicher zu machen.
Eine
solche Dimension wird im Folgenden aufgedeckt und
erörtert.
Dabei wird sich ergeben,
—
daß das Dritte Reich durchaus in einer Entwicklungslinie
liegt, die spätestens mit der Säkularisierung, der
Industrialisierung und dem Aufstieg des „Produktionsfaktors
Wissenschaft“ einsetzt;
— daß mit dieser
Entwicklungslinie eine neue Frage auftaucht, die erst im
zwanzigsten Jahrhundert als predicament of mankind, als
„Dilemma der Menschheit“ diskutiert und im
einundzwanzigsten Jahrhundert als sinnlich erfahrbare und
unerbittlich konkrete Existenzfrage wirksam werden wird: die
Frage nach den Bedingungen eines nachhaltigen Weiterlebens der
Gattung auf einem begrenzten Planeten;
— daß
Hitler versucht hat, diese Frage vorwegzunehmen und sie durch ein
kaltes und mörderisches Herrenvolk-Programm zu beantworten,
das grundsätzlich auf ein „tausendjähriges
Reich“, also auf natur- und nicht humangeschichtliche
Zeiträume angelegt war;
— daß er ferner
versucht hat, durch Vernichtung der jüdisch-christlichen
Gesittung und ihrer säkularisierten Ableitungen diesem
Programm den notwendigen gesellschaftlichen Konsens zu
verschaffen;
— daß dieses Programm einerseits
dem Herrenvolk Macht und Wohlstand durch permanente Aggression
versprach, andererseits die Begrenztheit der globalen Ressourcen
durch die entsprechende Unterdrückung und Dezimierung der
Sklavenvölker hintanhalten würde;
— daß
diese schwarze Logik sehr viel zur Durchschlagskraft der
nazistischen Ideen beitrug, weil seit Generationen die deutsche
Zivilisationskritik (und nicht nur diese) von
romantisch-konservativen Argumenten und Gefühlen zum
Biologismus und Sozialdarwinismus überging, zumindest von
ihm ergänzt und verstärkt wurde;
— und daß
es äußerst naiv wäre, anzunehmen, ein solches
Programm, von seinem krassen Dilettantismus gereinigt und mit
etwas wissenschaftlichem Glanz und Wortschatz versehen,ließe
sich in den nächsten Jahrzehnten und Generationen nicht
wieder aktualisieren.
Hitler als Vorläufer
Das
ist also der höchst realistische Alptraum, der, bei Gefahr
des vollständigen Zivilisationsverlustes, zu bedenken und
damit erst aufzulösen ist. Das ist die Medusa, der wir voll
ins Antlitz zu blicken haben, ohne dabei zu versteinern.
Es
ist die Angst vor solchem Versteinern, die stumm hinter der
Weigerung der Historiker steht, den Nachhaltigkeitsaspekt des
Hitler-Programms auch nur zu diskutieren. Sobald jedoch dieser
Aspekt, diese jedem unerschrockenen Blick sofort erkennbare
Dimension einbezogen wird, ist die Nichtigkeit, die Sinn- und
Geschichtswidrigkeit des Dritten Reiches und der Shoah
schlagartig aufgehoben.
Wir stehen dann vor der zwingenden
Einsicht: die Hitler-Ideologie birgt ein Angebot an
Zukunftselementen, dem sich weder die gegenwärtige
zeitgeschichtliche Auseinandersetzung noch der gegenwärtige
politische Betrieb zu stellen wagen.
Dabei geht es nicht
um die übliche vordergründige Warnung vor dem
Neonazismus. Selbstverständlich ist die Wachsamkeit
gegenüber aller Barbarei eine stete Aufgabe der
Gesellschaft. Worum es jedoch in dieser Kampfschrift geht, ist
eine viel grundsätzlichere Wachsamkeit als die vor rasierten
Bierköpfen und Springerstiefeln, eine viel prinzipiellere
Frage.
Sie läßt sich so stellen: Wirft Adolf
Hitler, vielmehr: wirft Hitlers großer Plan, wie er sich
zwischen 1920 und den fürchterlichen Wirklichkeiten von
Krieg im Osten und Shoah entfaltete, die Schatten künftiger
Möglichkeiten voraus? Mit anderen Worten: War Hitler ein
Vorläufer?
Ob er es werden kann, liegt an uns, an
den längst anstehenden Entscheidungen der Menschheit. Gering
ist die Wahrscheinlichkeit keineswegs. Und sie wird um so größer,
je uneinsichtiger wir uns gegenüber dieser Gefahr verhalten.
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