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Carl Amery
Hitler als Vorläufer

Von Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts?

München 1998 (Luchterhand); 192 Seiten; ISBN 3-630-87998-5








»Wirft Hitlers Generalplan, wie er sich zwischen 1920 und den fürchterlichen Wirklichkeiten von Krieg im Osten und Shoah entfaltete, die Schatten künftiger Möglichkeiten voraus?« – Carl Amery vertritt in Hitler als Vorläufer die These, daß Hitler und der Nationalsozialismus erst wirklich verstanden werden können, wenn die ökologische Dimension in die zeitgeschichtliche Diskussion mit aufgenommen wird. Erst wenn die verborgene erschreckende Aktualität seines Heilversprechens erkannt wird, können wir uns den gegenwärtigen politischen Aufgaben stellen.

Ein Vorurteil zieht sich mehr oder weniger unausgesprochen durch die gesamte Forschung über den Nationalsozialismus: Eigentlich sind Hitler und das Dritte Reich nicht wirklich zu verstehen, eigentlich passen sie nicht in unsere moderne zivilisierte Welt. Wie ein unvorhersehbarer, unerklärlicher Einbruch von Mittelalter und Barbarei wird diese Epoche monadisch in die Geschichte zurückverwiesen. Zu dem Selbstverständnis der Neuzeit als einer Zeit der Aufklärung und des steten Fortschritts paßt dieses zwölf Jahre währende Tausendjährige Reich nicht. Gegen diesen allgemeinen Konsens wendet sich Carl Amery mit seinem provokanten Essay und zeigt, daß Hitler und das Dritte Reich als Vorboten einer Zeit und ihrer Probleme verstanden werden müssen, die erst kommen wird – unsere Zukunft. Es geht um die Frage nach unserem Überleben in einer Welt der begrenzten Ressourcen, der Umweltzerstörung und der Überbevölkerung. Hitler hat die erste zusammenhängende Antwort der Moderne darauf gegeben. Seine in ihrer Borniertheit kurzlebige Antwort war die der vollständigen Barbarei, die Reduzierung von Geschichte auf Naturgeschichte.

Wenn Geschichte überhaupt eine Herausforderung sein kann, dann ist es für uns heute die, die aufgeworfenen Probleme ins Auge zu fassen und unsere ganze Kraft, unsere Tradition und unsere modernen Errungenschaften dafür einzusetzen, daß die vergangenen Schrecken im 21. Jahrhundert nicht wiederkehren.


Carl Amery


geboren 1922, gestorben am 24. Mai 2005, war Mitglied der Gruppe 47, von 1989 bis 1991 Präsident des bundesdeutschen PEN-Zentrums sowie Mitbegründer der E.-F.-Schumacher-Gesellschaft für politische Ökologie. Amery schrieb Hörspiele, mehrere Romane und wurde vor allen Dingen durch seine kulturkritischen Essays sowie als engagierter Ökologe bekannt. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem 1991 mit dem Literaturpreis der Stadt München.


Inhaltsverzeichnis


1

Dracula im Keller oder Die große Verlegenheit



2

Programm und Einlösung oder Was nicht so wichtig ist



3

Das dunkle neunzehnte Jahrhundert oder Der Sieg der Volksaufklärung



4

Wien und München oder Der amputierte Führerfisch
— EXKURS I: Wie dämonisch war Hitler?



5

Der Fixpunkt oder Die grausamen Königin aller Weisheit
— EXKURS II: Hitler und das real existierende Christentum



6

Die vier Wege oder Die barbarische Quadratur des Kreises



7

Die Shoah oder Der große Plan wird umgesetzt
— EXKURS III: Hitler und die jüdisch-christliche Botschaft



8

Das große Moratorium oder Freiheit von Furcht und Tod



9

Rückstände oder Er bleibt populär



10

Planet-Management oder Die Globalisierung der Hitler-Formel



11

Zusammenfassung: Der große blinde Fleck


Leseprobe


1 DRACULA IM KELLER
oder Die große Verlegenheit

In Auschwitz und anderen Vernichtungslagern ließ Hitler Millionen von Juden, Zigeunern und fremdvölkischen Eliten töten und verbrennen. Dies war unbestreitbar die kaltblütigste und bestorganisierte Massenvernichtung der Geschichte.

Alexandre Kojève, großer Philosoph und Lehrer von großen französischen Intellektuellen, hat sich geweigert, Auschwitz als „historisches Ereignis“ anzuerkennen.

Kojève ist ehrlich und konsequent. Der Hegelianer spricht aus, was fast alle Teilnehmer an der zeitgeschichtlichen Debatte mehr oder weniger ehrlich, mehr oder weniger konsequent glauben und fühlen: Das Dritte Reich, das Hitler-Ereignis oder wie immer man es nennen mag, verweigert sich den Erklärungsmustern, mit deren Hilfe Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie unseren Weg durch die Geschichte (wenigstens die europäisch- atlantische Geschichte) bisher gedeutet haben und deuten.

Der Widerspruch

Hitler paßt nicht, das ist es. Hitler fällt aus den bisher erarbeiteten Erklärungsmustern. Von verschiedenen Seiten versucht man, an ihn und seine Welt heranzukommen, aber in die Welt des euro-atlantischen Selbstbewußtseins, wie unsere Lehrer sie formten, ist Hitler schlechthin nicht einzufügen.

Wie bestimmt sich dieses Selbstbewußtsein? Es bestimmt sich aus historischer Erfahrung – und aus der Art, wie wir sie verarbeiten.

Wir verarbeiten sie, was immer im einzelnen unsere Position sein frag, nach der Formel „Durch Nacht zum Licht“. Renaissance und Humanismus beenden das dunkle Mittelalter; die Lumières, das heißt die freien Geister, zünden die Lichter der philosophisch-theologischen, der politischen, der gesellschaftlichen Aufklärung an, es beginnt der Auszug aus selbstverschuldeter und fremdverschuldeter Unmündigkeit. Wachsende Mengen an Wissen geben uns wachsende Kontrolle über unser Schicksal, dessen Liebkosungen oder Schläge wir nicht mehr länger als Act of God, als höhere Gewalt akzeptieren. Der Wohlstand wächst, die Manieren werden besser, die Lebensräume weiten sich und die Bewegungsmöglichkeiten in diesen Räumen. Emanzipation entfaltet sich und mit und in ihr politische Freiheit. Sie zieht die Gerechtigkeit nach sich, die nun auch der letzte, der Vierte Stand einfordert und erhält. Differenzierungsprozesse des Bewußseins und der Gefühle setzen ein und entfalten sich, und mit ihnen Empathie, will heißen die Einfühlung in fremdes und nachbarliches Dasein:

Gewiß, es gibt Gegenströmungen am Rande, es gibt Strudel und Turbulenzen, örtliche und zeitliche Rückschläge, Passagen durch lichtlose und rätselhafte Tunnels. Aber auf die Hauptströmung kommt es letzten Endes an, die Hauptströmung bestimmt den Lauf der Geschichte.

Das Dritte Reich ist zu alledem scheinbar der große Widerspruch, eine glatte Verneinung der Vernünftigkeit oder Deutbarkeit des historischen Prozesses überhaupt. Wenn es (in solchem Sinn der völligen Unzulässigkeit) irgendeine Logik aufweist, dann nur durch seinen Zusammenbruch nach knapp zwölf Jahren – einen Zusammenbruch, in dem sich seine geschichtliche Unzumutbarkeit offenbarte. Sein Ende ist seine Widerlegung – und als solches ein Faktum, das wieder die Einfügung ins gängige Muster erlaubt.

Die Naturkatastrophe Hitler

So verbleibt schließlich eine einzige Deutung: Hitler und Hitlerismus sind kein historisches, sondern ein Naturereignis wie ein Vulkanausbruch oder eine Flutwelle; ein Meteorit, der mitten in Europa einschlägt, den halben Kontinent versehrt, fast seine gesamte Judenheit und Millionen anderer Europäer zermalmt, Paläste, Kathedralen, Produktions- und Wohnstätten in Schutt und Asche legt, ehe der Brand ebenso sinnlos verschwelt, wie er begonnen hat. (Es ist bezeichnend, daß weder die bolschewistischen Greuel noch die anderen europäischen Faschismen ein solches Ausweichmanöver ins Naturgeschichtliche provozieren.)

Solche Deutung erleichtert, erleichtert ungemein: Wie scharfsinnig wir auch immer Einzelheiten des Dritten Reiches auseinanderdröseln; wie gewissenhaft wir auch immer Zusammenhänge, Entstehungsursachen, Befindlichkeiten seines Personals erforschen, es handelt sich so oder so um uns nicht Betreffendes, das heißt uns und unsere weitere Entwicklung nicht mehr Betreffendes. Dem Analytiker oder Historiker kann es dann nur um „vernünftige Abarbeitung des Vergangenen“ (Hans Mommsen) gehen. Alle, alle sind sich einig in diesem Punkt – ob sie nun von links oder rechts, von jüdischer Leidenschaft oder fadenscheinigem deutschnationalem Entlastungsdrang motiviert sind. So oder so: die Katastrophe ist vorüber, und neues Leben sprießt aus der nächsten Astgabel des historischen Prozesses.

Und die Medien folgen

Dieser Entlastungs- und Abschiebeaktion entspricht die Behandlung der zwölf Jahre in den Medien, die oft genug bis zur Lächerlichkeit geht. Gesichter, Kostüme und Requisiten verschworen und verschwören sich da, ein Bild oder Bildnisse herzustellen, die phantastisch-surreal sind – oder komisch-grotesk. Von der Dämonie der schwarzen SS-Todesengel und der schwarzen Daimler-Schnauzen, von der kalten Pracht der Parteitagslichtdome über die fetten Amtswalterbacken unter Schweinsaugen und in braunen Birnenhosen bis zur irren Charlie-Chaplin-Pantomime des Dikta- tors spannt sich der ästhetische Bogen; darunter, in den Niederungen der TV-Serien, wurden und werden preußische Monokelfatzkes und dicke bayerische Mannschaftstrottel geliefert, alle so lebensecht und gegenwartsnah wie Onkel Dagobert von Entenhausen.

Leises Grauen im Dracula-Palast

Freilich, fast alle fühlen, daß es das nicht sein kann, nicht gewesen sein kann; fühlen, daß uns höchst lebendige und schmerzhafte Nervenstränge mit dieser verlorenen Zeit verbinden. Und die Zeitgeschichtler, die den Dracula-Palast des Dritten Reiches durchstöbern, spüren es natürlich auch.

Während sie seine mottenzerfressenen Requisiten, seine Dunkel- und Folterkammern, die braunstichigen Photos aus dem Verbrecheralbum sortieren, spüren sie, daß der Schloßherr so nicht gefaßt werden kann.

Sie spüren, daß Dracula, wie es seiner Art zukommt, irgendwo im tiefsten Keller lauert, unter meterdickem Schutt, aber ohne den Pfahl im Herzen, der seinen Tod sichern und seine Wiederkehr endgültig verhindern könnte.

Woher diese dumpfe Gewißheit? Sie resultiert zwangsläufig aus der Unmöglichkeit selbst, Hitler aus einer Geschichte verschwinden zu lassen, in der er monströs und überlebensgroß existiert. Er war eben Ereignis; und zwar ein Ereignis, von dem wir genau wissen, daß es uns noch alle angeht.

Der unmögliche „Schlußstrich“

Alltäglichste Vorkommnisse zeigen immer wieder: es geht nicht. Noch jeder Versuch, den bekannten „Schlußstrich“ zu ziehen, endete in einem neuen Ausbruch von Debattenfieber. Selbst wenn sich alle Beteiligten (wie jüngst in der Goldhagen-Kontroverse) darüber einig sind (oder wenigstens so tun), daß alles aus und vorbei sei, daß der Antisemitismus und der nationale Größenwahn und der antidemokratische Affekt der Weimarer Zeit und damit alle Voraussetzungen für einen Rückfall verschwunden seien: allein die Dissonanzen der Diskussion und der publizistischen Begleitmusik zeigen an, daß hier entscheidende und nach wie vor aktuelle Angstelemente unterdrückt werden.

Aus solchen Symptomen, das heißt aus den hohen Temperaturen der öffentlichen Erörterung, ist zu schließen, daß der Wiedergänger unterm Schutt nur scheintot ist und durchaus wieder regsam werden kann.

Ein anderer Ansatz ist notwendig

Um mit Gregory Bateson zu sprechen: Die Landkarte ist nicht das Territorium. Und wenn man sich trotz gewissenhaften Kartenlesens in der Landschaft verläuft, liegt es vermutlich nicht an der Landschaft, sondern an der Karte.

Es gilt also zu fragen, ob es vielleicht an den bisherigen Geschichtsmustern von Kojève und Co. liegt, daß wir Hitler nicht in ihnen unterbringen.

Es gilt zu fragen, ob eine Dimension seiner schrecklichen Wirklichkeit übersehen oder verdrängt wird, welche die alten Muster radikal aufhebt. Solche Fragestellung ist immer schmerzhaft; aber sie erspart uns erstens die feige Kapitulation vor einem „Naturereignis“ und stellt damit die Würde unserer Rationalität wieder her, und sie kann zweitens dabei helfen, mögliche Bedingungen für Draculas Wiederkunft zu bestimmen und sie dadurch unwahrscheinlicher zu machen.

Eine solche Dimension wird im Folgenden aufgedeckt und erörtert.

Dabei wird sich ergeben,

— daß das Dritte Reich durchaus in einer Entwicklungslinie liegt, die spätestens mit der Säkularisierung, der Industrialisierung und dem Aufstieg des „Produktionsfaktors Wissenschaft“ einsetzt;

— daß mit dieser Entwicklungslinie eine neue Frage auftaucht, die erst im zwanzigsten Jahrhundert als predicament of mankind, als „Dilemma der Menschheit“ diskutiert und im einundzwanzigsten Jahrhundert als sinnlich erfahrbare und unerbittlich konkrete Existenzfrage wirksam werden wird: die Frage nach den Bedingungen eines nachhaltigen Weiterlebens der Gattung auf einem begrenzten Planeten;

— daß Hitler versucht hat, diese Frage vorwegzunehmen und sie durch ein kaltes und mörderisches Herrenvolk-Programm zu beantworten, das grundsätzlich auf ein „tausendjähriges Reich“, also auf natur- und nicht humangeschichtliche Zeiträume angelegt war;

— daß er ferner versucht hat, durch Vernichtung der jüdisch-christlichen Gesittung und ihrer säkularisierten Ableitungen diesem Programm den notwendigen gesellschaftlichen Konsens zu verschaffen;

— daß dieses Programm einerseits dem Herrenvolk Macht und Wohlstand durch permanente Aggression versprach, andererseits die Begrenztheit der globalen Ressourcen durch die entsprechende Unterdrückung und Dezimierung der Sklavenvölker hintanhalten würde;

— daß diese schwarze Logik sehr viel zur Durchschlagskraft der nazistischen Ideen beitrug, weil seit Generationen die deutsche Zivilisationskritik (und nicht nur diese) von romantisch-konservativen Argumenten und Gefühlen zum Biologismus und Sozialdarwinismus überging, zumindest von ihm ergänzt und verstärkt wurde;

— und daß es äußerst naiv wäre, anzunehmen, ein solches Programm, von seinem krassen Dilettantismus gereinigt und mit etwas wissenschaftlichem Glanz und Wortschatz versehen,ließe sich in den nächsten Jahrzehnten und Generationen nicht wieder aktualisieren.

Hitler als Vorläufer

Das ist also der höchst realistische Alptraum, der, bei Gefahr des vollständigen Zivilisationsverlustes, zu bedenken und damit erst aufzulösen ist. Das ist die Medusa, der wir voll ins Antlitz zu blicken haben, ohne dabei zu versteinern.

Es ist die Angst vor solchem Versteinern, die stumm hinter der Weigerung der Historiker steht, den Nachhaltigkeitsaspekt des Hitler-Programms auch nur zu diskutieren. Sobald jedoch dieser Aspekt, diese jedem unerschrockenen Blick sofort erkennbare Dimension einbezogen wird, ist die Nichtigkeit, die Sinn- und Geschichtswidrigkeit des Dritten Reiches und der Shoah schlagartig aufgehoben.

Wir stehen dann vor der zwingenden Einsicht: die Hitler-Ideologie birgt ein Angebot an Zukunftselementen, dem sich weder die gegenwärtige zeitgeschichtliche Auseinandersetzung noch der gegenwärtige politische Betrieb zu stellen wagen.

Dabei geht es nicht um die übliche vordergründige Warnung vor dem Neonazismus. Selbstverständlich ist die Wachsamkeit gegenüber aller Barbarei eine stete Aufgabe der Gesellschaft. Worum es jedoch in dieser Kampfschrift geht, ist eine viel grundsätzlichere Wachsamkeit als die vor rasierten Bierköpfen und Springerstiefeln, eine viel prinzipiellere Frage.

Sie läßt sich so stellen: Wirft Adolf Hitler, vielmehr: wirft Hitlers großer Plan, wie er sich zwischen 1920 und den fürchterlichen Wirklichkeiten von Krieg im Osten und Shoah entfaltete, die Schatten künftiger Möglichkeiten voraus? Mit anderen Worten: War Hitler ein Vorläufer?

Ob er es werden kann, liegt an uns, an den längst anstehenden Entscheidungen der Menschheit. Gering ist die Wahrscheinlichkeit keineswegs. Und sie wird um so größer, je uneinsichtiger wir uns gegenüber dieser Gefahr verhalten.


Siehe auch


Carl Amery: Das Ende der VorsehungDie gnadenlosen Folgen des Christentums (1972)



Carl Amery: Natur als Politik Die ökologische Chance des Menschen (1976)



Die Chance des Ökosozialismus Von Carl Amery (1978)



Carl Amery: Die Botschaft des Jahrtausends – Von Leben, Tod und Würde (1994)



Carl Amery: Global ExitDie Kirchen und der Totale Markt (2002)



Carl Amery (Hrsg.): Briefe an den Reichtummit einem Brief an den Bundesbräsidenten (2005)



Carl Amery: Eine andere Welt ist nötigVorschlag für eine Rede zum 8. Mai 2005



Carl Amery: Arbeit an der ZukunftEssays (2007)